Schnelle Kommunikation mit langen Folgen – das Interview kritisch hinterfragt. Ein MUST, wenn man sich mit einem der wichtigsten Selbst/Präsentationsformen der Gegenwart beschäftigt! In einer Zeit, in der Abgänger_innen von Kunsthochschulen und Akademien auf Knopfdruck die Konzepte ihrer Arbeiten zusammenfassen und vor Publikum hervorbringen, in einer Zeit, in der es fast schon anstößig ist, wenn eine_r nicht vor demselben sprechen möchte, kommt ein Band wie dieser gerade recht. „Das Interview. Formen und Foren des Künstlergesprächs“, herausgegeben von Michael Diers, Lars Blunck und Hans Ulrich Obrist, beleuchtet die Historie der in den Medien „redenden“ Künstler_innen und hinterfragt kritisch deren Entstehung und Rezeption. Was verursacht den Erfolg der Gattung Künstler_innen-Interview? Der Wunsch nach Authentizität? Die Sehnsucht nach einer Absichtserklärung der Schöpfer_innen frei Haus? Oder ist gar das Interview eine Bankrotterklärung der Kunstkritik und der Geschichtsschreibung?
FUNDUS Band 206
344 Seiten, Abbildungen
gebunden mit Lesebändchen
ISBN 978-3-86572-674-2
Philo Fine Arts
Kurator Hans Ulrich Obrist1, der das Genre als Konversationsprojekt zu einem Höhepunkt geführt hat, steht am Ende des FUNDIS Bandes 206 selbst Rede und Antwort. Obrist ist selbst eine „Quelle“, die „zum Gebrauch bereitsteht“. Allein schon das Wort „Quelle“ führt direkt zum Mythos des Künstler_innen-Interviews: frisch und unverdorben sprudeln die Stimmen der Künstler_innen, ohne scheinbare „Verschmutzung“ durch Interpret_innen. Dass das Interview jedoch ein Produkt von mindestens zwei Personen ist, dass natürlich Absichten und Selbstinszenierung der Sprecher_innen dahinterstehen, dass es sich als Textgattung aus einer bis in die Renaissance zurückreichenden Tradition entwickelt hat, das beleuchtet nun der Fundus-Band Nr. 206 von verschiedenen Seiten.
Michael Diers und Lars Blunck stellen in ihrer Einleitung fest, dass das Künstler_innen-Interview im Medienzeitalter als „schnelle Kommunikation“ unumgänglich geworden ist. Sie kontrastieren jedoch dessen scheinbare Authentizität und Unmittelbarkeit mit der „multiplen Autorenschaft“ und dem „collaborative writing“. Historisch hätte das Interview seit Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber seit den 50er Jahren Hochkonjunktur, wobei die 60er Jahre eine besondere Blüte des Genres erlebte und das affirmative Interview zu einer „festen Rubrik der Kunstpublizistik“ erhob. Eine weitere Konsequenz, die sich auch im Museumsbetrieb leicht überprüfen lässt,2 ist die Suche nach Aphorismen, nach zitierbaren Sätzen, die pars pro toto das Kunstwollen einer Person zusammenfassen können soll. Der Ansicht, dass die Künstler_innen die besten Interpret_innen ihrer Werke wären, stellen sich Diers und Blunck entgegen. Für sie ist das Interview eine „kollaborative Arbeit zwischen Künstler_innen, Interviewern und Rezipienten“, eine „Komplizenschaft“, ein „integraler Bestandteil künstlerischer Praxis“. Den Beginn sehen sie in den frühen 20er Jahren, als durch das Aufkommen des Rundfunks der O-Ton eine neue Bedeutung erhielt. Seither steht die Kunstkritik vor der schwierigen Aufgabe, im Interview nicht nur als dienende, affirmative Seite aufzutreten, sondern kritische Fragen zu stellen. Eine weitere Hürde ist in der Folge die Transkription des Interviews und die Freigabe, deren Folgen – wie einige Fälle aus der politischen Berichterstattung in Deutschland in den letzten Jahren bewiesen haben – zur geschwärzten Unsitte ausarten können. Die Frage, wie sich Künstler_innen in der Öffentlichkeit präsentieren möchten, spielt hier eine außerordentliche Rolle. So stellt sich das Interview als eine literarische „Mischform“ dar: Es erfolgen Informationsübermittlung und Meinungsdarstellung, es ist ein kommunikatives Rollenspiel, das auch durch die Kategorien Vorführung, Vermittlung und Inszenierung geprägt ist.
Die von Diers und Blunck eingeladenen Kunsthistoriker_innen beschäftigen sich mit einer Reihe von historisch wichtigen Stationen des Künstler_innen-Interviews. Matteo Burrioni analysiert Giorgio Vasari, den Vater der Kunstgeschichtsschreibung, und dessen schwieriges Verhältnis zu Michelangelo Buonarroti, während sich Oskar Bätschmann mit Benedetto Varchis „Lezzioni“ und dem Wettstreit der Künste beschäftigt. Bereits im Vorgehen Vasaris – quasi an der Geburtsstunde des Künstlergesprächs in Form eines Briefverkehrs mit Michelangelo – macht dessen versuchte Einflussnahme auf den Befragten deutlich: Der Bildhauer und Maler entzog sich dem Biografen und überantwortet seinem Freund Ascanio Condivi die Aufgabe, eine Lebensbeschreibung herauszugeben. Die „Komplizenschaft“ zwischen Schreiber und Beschriebenem wurde flugs aufgelöst, und es kam zu keiner weiteren Zusammenarbeit mehr, wobei Vasari in seiner zweiten Ausgabe der Vite erstmals Archivmaterial zur Untermauerung seiner Behauptungen einsetzte und vorgab, einen guten Kontakt zum Künstler zu haben.
Andreas Zeising sieht in der Interviewpraxis im Rundfunk in den frühen 20er Jahren – neben den Briefeditionen von Vincent van Gogh oder Anselm Feuerbach zu Beginn des Jahrhunderts – einen Ursprung für den Erfolg des Genres. Da sich das Künstlergespräch im Radio an die breite Masse, d.h. an ein Laienpublikum richtete, sollte es einen Bildungsauftrag erfüllen. In Deutschland gingen erst ab 1926 Künstler „on air“. Während anfangs viele Interviews vom Skript verlesen wurden, änderte sich jedoch bald die Situation gravierend: Angesichts eines professionell agierenden Journalisten mussten Künstler nun „kreative Kommunikatoren“ werden und „Medienkompetenz“ entwickeln (S. 121).
Die spannende Fragestellung der multiplen Autorenschaft erörter Peter J. Schneemann in seinem betrag „Formate und Funktionen der künstlerischen Selbstaussage. Die Produktion von Quellenschriften in der amerikanischen Kunstszene der 1950er Jahre“. Ausgehend von der Beobachtung zu Jackson Pollocks erster Einzelausstellung in der Galerie Art of This Century von Peggy Guggenheim im November 1943, stellte er fest, dass für diese Präsentation ein „Interview“ von Pollocks späterer Frau Lee Krasner und dem Galeristen Howard Putzel, vielleicht auch unter der Mitwirkung von Robert Motherwell, zusammengestellt wurde. Zwei Jahre später wurden die kurzen Antworten zu Aphorismen verkürzt und als Selbstdefinition in der Ausstellung „Personal Statement. Painting Prophecy – 1950“ weiterverwendet. Schneemann beschreibt die Funktion des Interviews als medialen Vermittler des „Bildes des modernen Künstlers“, wobei es den „gesellschaftlichen Erwartungen angeglichen“ würde (S. 133). Künstler wie Mark Rothko und Ad Reinhardt analysierten kritisch diese Haltungen, während Andy Warhol oder John Baldessari das „Interview als performativen Akt (…) überhöhen, verfremden und gegen sich selbst richten“ (S. 140), wodurch es auch zur „Waffe für den modernen Künstler“ (S. 143) werden konnte.
Da sich die 60er und 70er Jahre als besonders fruchtbare Jahrzehnte der Künstler_innen-Äußerungen entpuppten, wurde ihnen im Sammelband mehr Platz eingeräumt. Vor allem mit der Person Andy Warhols ist der Wandel vom selbstanalytischen Künstlerstatement hin zum Glamourfaktor Medienpräsenz verbunden. Philipp Ursprung stellt in der Überschrift zu seinem Beitrag sogar die Frage: „Hat das Interview die Kritik absorbiert? Andy Warhol und die Folgen.“ Der Künstler-Aussage, so der Autor weiter, solle und könne gar nicht widersprochen werden, sie sei ein Indiz unkritisierbarer kultureller Autorität (S. 155). Das Persönliche würde wieder zu Tage treten, da in dieser Zeit das Original verneint worden, die physische Handschrift der Künstler verbannt, die Signatur verschwunden wäre. Eine Folge war, dass die autonome Kunstkritik als erste vom Feld gedrängt wurde (S. 157). Denn, wer in einem Interview den Künstler_innen-Worten selbst lauschen kann, der braucht keinen analytischen Text mehr. Die Museen bestimmten ab nun den Marktwert der Künstler_innen, die Setzungen von Themen und die Ordnung des Diskurses (S. 160). In der von ihm 1969 gegründeten Zeitschrift inter/VIEW wurden O-Töne – wenn auch editiert – abgedruckt. Warhol verzichtete auf kunst- oder kulturhistorische Fragestellungen und öffnete dafür einen Raum für sonst kaum erörterte Themen. Dennoch bleibt das Magazin ein „Instrument der Kontrolle“ (S. 165), wenn es auch nichtkommerzielle Statements abdruckte. Anhand von inter/VIEW lässt sich wunderbar aufzeigen, dass zwar Offenheit das Ziel war, aber auch nicht jede_r zum Mikrofon greifen konnte.
Das zeitgenössische Künstler_innen-Interview, so Julia Gelshorn in ihrem Aufsatz „Two Are Better than One“, würde dem Wunsch nach Bedeutung nachkommen – sowohl von Seiten der Leser_innen, die auf der Suche nach der Bedeutung von Kunstwerken wären, als auch von Seiten der Schöpfer_innen, die sich selbst Bedeutung verschaffen. Gelshorn tritt in der Folge für eine kritische Lesart der Gattung Interview ein, wenn sie sie als ein „Kunstwerk für sich“ klassifiziert. Wie der Künstler John Miller beschrieben hat, verlangt der globale Kunstmarkt einen „Überfluss an Diskurs“, um die „beständig wachsende Zahl an Kunstwerken zu legitimieren“ (S. 267). Gleichzeitig ist das Interview aber auch eine Reaktion auf die Usancen der (post)modernistischen Kunstkritik und Theorieproduktion, indem es meist um die Objekte selbst und die sie konstituierenden Erfahrungen kreist. Das Interview und in ihm die „Stimme des Künstlers [erscheint] als ideale Zugangsmöglichkeit zur legendäre Einheit von Leben und Werk“ (S. 271).
Künstler_innen, Kurator_innen, Galerist_innen gehen im Interview eine Komplizenschaft ein, die selten kritisch reflektiert wird, spätestens nach der Lektüre dieses Bandes wird dies klar. Der FUNDUS Band 206 bietet hier einen interessanten Ansatz, der zum Nachdenken über die eigene Handlungsweise und Rezeptionshaltung anregt. Diers/Blunck/Obrist gelingt ein spannender und epochenübergreifender Einblick in die „Verhaltensform“ Künstler_innengespräch, analysiert die medialen Voraussetzungen, markiert wichtige Momente der Geschichte des Interviews. Ob es wirklich nötig ist, für eine Reflexion zum modernen Künstler_inneninterview – wie zum Beispiel das Interviewprojekt von H.U. Obrist – in der Renaissance zu beginnen, sei dahingestellt, wenn auch sämtliche Auseinandersetzungen mit Michelangelo die Macht des Künstlers über sein Bild in der Öffentlichkeit schön belegen. Obrist selbst wird in der Befragung durch seine beiden Mitherausgeber kritisch auf seine Praxis befragt, wobei an ihm alles abzuperlen scheint. Seine Interviews wären nicht die gefälligere Form des Textes, auch nicht die einfachere (in Vergleich zu einem analytischen, selbst verfassten Text), er sieht sich als Kurator und Freund der Künstler_innen und nicht als Kritiker, sein Archiv „steht irgendwann einmal zu Gebrauch bereit“. Nun, so der Tenor des FUNDUS-Bandes 206, ist es Aufgabe der Kunsthistoriker_innen und Kunstkritiker_innen, Methoden zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Gesprächen zu entwickeln und als gängige Praxen zu etablieren.