1835 in Rom begonnen und bis 1881 weitergeführt, verbindet der Bildzyklus „Le Poème de l’âme“ von Louis Janmot (1814–1892) Musik mit Literatur. Der Lyoner Künstlers veranschaulicht in 34 Kompositionen, begleitet von einem langen Gedicht, die Initiationsreise einer Seele auf der Erde. Es besteht aus zwei Zyklen mit jeweils 18 Gemälden und 16 großen Zeichnungen. Henri Focillon, Direktor des Museums der Schönen Künste in Lyon von 1913 bis 1924, beschrieb ihn als „das Bemerkenswerteste, das Kohärenteste und das Seltsamste des romantischen Spiritualismus“.
Frankreich | Paris: Musée d‘Orsay
12.9.2023 – 7.1.2024
Louis Janmot war zu seiner Zeit ein sehr einzigartiger Künstler - aber sein Werk spiegelt das vieler anderer Künstler wie William Blake, Philipp Otto Runge oder Francisco de Goya vor ihm, seiner Zeitgenossen, den Präraffaeliten, oder sogar später die Symbolisten wider, insbesondere Odilon Redon, der mit ihm in Kontakt stand. Die Ausstellung stellt „Le Poème de l’âme [Das Gedicht der Seele]“ und seinen Schöpfer an die Schnittstelle literarischer, religiöser, philosophischer und künstlerischer Bezüge, Einflüsse und Strömungen vor.
Der erste Zyklus, den er 1854 fertigstellte, erzählt von den ersten Jahren einer Seele im Himmel und auf Erden, dargestellt als kleiner Junge und begleitet von einem jungen Mädchen. Man verfolgt die Etappen und Wechselfälle ihrer Reise, von der Geburt des in Rosa gekleideten Jungen bis zum frühen Tod der jungen Frau. Auf seiner existenziellen Suche trifft der Junge auf seine Seelenverwandte – ein junges Mädchen in Weiß – das wie er nach Himmel, Reinheit und Harmonie strebt. Man folgt den Etappen und Wechselfälle ihrer Reise: Geburt, frühe Kindheit, Bildung, aufkeimende Liebe und Träume von Idealen.
Die Bilder des Zyklus haben eine große visuelle Kohärenz: Die Hintergründe erinnern an Theaterkulissen, vor denen sich die Figuren wie auf einer Bühne seitwärts bewegen und so den Eindruck der Kontinuität verstärken. Die scheinbare Ruhe dieser ersten Serie wird im Gegensatz zur zweiten oft durch Details in den Werken sowie durch die Gedichte in Versen konterkariert, die in jeder Phase die tragische Natur des Schicksals der Seele unterstreichen. Théophile Gautier und Charles Baudelaire wurden dank der Intervention von Eugène Delacroix von diesen Gemälden angezogen, die auf der Weltausstellung von 1855 ausgestellt wurden.
Der 1881 fertiggestellte zweite Zyklus erzählt, wie der nun alleinstehende Junge mit den Versuchungen und Unglücken der menschlichen Seele konfrontiert wird. Für diesen Teil gibt Janmot die Malerei auf und widmet sich dem Zeichnen. Kohle wird mit farbigen Glanzlichtern auf Blättern assoziiert, deren Abmessungen denen der Gemälde ähneln. Die Atmosphäre ist dunkler, was durch das Medium verstärkt wird. Vom Verlust der Frau, die er liebte, gezeichnet, sieht sich der junge Mann der Verzweiflung gegenüber.
Der Junge sucht einen Ausweg im Vergnügen, gibt Versuchungen und Zweifeln nach, findet aber nur Leid. Ein glückliches, aber zwiespältiges Ende markiert den Höhepunkt dieser Initiationsreise: Er findet seine Geliebte im Himmel. Der pessimistische Ton spiegelt die Prüfungen wider, denen Janmot selbst in seinem Privatleben ausgesetzt war. Der Ton ist auch politischer und entspricht der konservativen Entwicklung katholischer Kreise in den 1860er und 1870er Jahren.
Ein von Janmot verfasstes Gedicht mit 2814 Zeilen mit dem Titel „L'Âme [Die Seele]“ begleitet die Werke. Es verstärkt ihre Bedeutung und ist untrennbar mit ihnen verbunden. Das Ganze bildet ein hybrides Werk aus Literatur und Bild, das zum Nachdenken, Zuhören und Wandern einlädt.
Die Ausstellung stellt „Le Poème de l’âme [Das Gedicht der Seele]“ in seiner Gesamtheit vor. Während der erste Zyklus in der Dauerausstellung des Museums der Schönen Künste in Lyon ausgestellt ist, wird der zweite, fragilere, nur sehr selten gezeigt. Wie die Protagonisten des „Poème de l’âme“ wird das Publikum die in diesen Bildern verborgenen Geheimnisse auf einer Schritt-für-Schritt-Wanderung, einer Initiationsreise durch die Werke, erkunden. Die Ausstellung bringt beide Ausdrucksformen visuell und textlich zusammen. So können die Besucher:innen das Gedicht hören, während sie die Gemälde betrachten.
In der Ausstellung ermöglichen fünf „Kabinette“, die philosophischen, spirituellen und literarischen Quellen des Malers und Dichters zu erkunden und seine Affinitäten zu anderen Künstlern zu entdecken, von William Blake bis Odilon Redon, die das Le „Poème de l’âme [Gedicht der Seele]“ in der Welt des 19. Jahrhunderts gut verankern.
Gemalte Zyklen sind in der Regel so gestaltet, dass sie sich in die Architektur einfügen. In seiner Jugend lernte Janmot die Geschichte der Psyche von Raffael (1518) für die Villa Farnesina in Rom und das Leben des Heiligen Bruno von Eustache Le Sueur (1645-1648) für das Kartäuserkloster von Paris (Louvre) kennen. Dennoch unterscheidet sich „Das Gedicht der Seele“ von diesen Vorbildern gravierend, denn es passt nicht in einen bestimmten Ort. Vielmehr ist es die Verbindung von Malerei und Poesie, die ihre Konzeption bestimmt, wie in den „Illuminated Books“ von William Blake. Daher muss man sich der Literatur und Illustration zuwenden, um Janmots Quellen zu finden.
Der Künstler ließ sich von den epischen und philosophischen Gedichten seiner Zeit inspirieren, wie „Der Fall eines Engels“ von Alphonse de Lamartine (1838), „Das Göttliche Epos“ von Alexandre Soumet (1840) oder den großen europäischen Epen, interpretiert von romantischen Künstlern: „The Göttliche Komödie“ von Dante (1303-1321), „Paradise Lost“ von John Milton (1667) oder „Das Lied der Nibelungen“, eine mittelhochdeutscher Heldenepos.
Im 19. Jahrhundert, insbesondere in der Romantik und dann im Symbolismus, erlangte die Darstellung der Seele große Bedeutung. Kunstschaffende reagierten auf unterschiedliche Weise auf dasselbe ikonografische Problem: Wie kann man eine immaterielle Einheit darstellen, die vom Körper getrennt ist und über den Tod hinaus existiert? Die Seele wiederum nimmt die Form einer geflügelten weiblichen Figur an, eine Allegorie der Reinheit und Spiritualität, oder materialisiert sich in Form eines Schattens oder eines Flusses, der aus dem Körper entweicht. Janmot seinerseits stellt die Seele als einen kleinen Jungen dar, der in den Himmel aufsteigt.
Die Leichtigkeit der von der irdischen Schwerkraft befreiten Seele ist der gemeinsame Nenner vielfältiger Werke. Die Flügel, ein Attribut der Seele, lässt sie ihrem himmlischen Gegenstück, dem Schutzengel, zum Verwechseln ähnlich sehen. Der Schutzengel erfreute sich im 19. Jahrhundert ebenfalls großen Bedeutung in der Bevölkerung, von Kinderliteratur und Frömmigkeitshandbüchern bis hin zu den größten literarischen und künstlerischen Werken der Zeit.
Janmots Werk zeichnet sich durch den gleichen zeitlosen, weiblichen Archetyp aus, der sich schon früh in seinem Werk durchsetzt. Stehen ihm Menschen, die ihm nahe stehen, Modell, darunter seine Frau oder seine Töchter, transformiert er sie im Laufe seines Studiums entsprechend seinem ästhetischen Ideal. Sein Geschmack vereint mehrere formale Quellen: die Perfektion der Zeichnung seines Meisters Jean Auguste Dominique Ingres, die Orientierung an der Antike und die Anmut der Florentiner Renaissance-Malerei, insbesondere jene von Sandro Botticelli.
Die weiblichen Figuren des „Gedichts der Seele“ vermischen Bezüge zur Jungfrau, deren Kult damals einen beträchtlichen Aufschwung erlebte, mit zeitgenössischer oder vergangener Literatur. Janmot ist sehr direkt von der Göttlichen Komödie des mittelalterlichen Florentiner Dichters Dante inspiriert, die damals von romantischen, aber auch katholischen Kreisen sehr geschätzt wurde. Die Reise des Helden trägt ihre Spuren, die Suche nach einer verlorenen Geliebten, die den Namen Beatrix von Dante entlehnt hat.
Der Traum, der im Gedicht der Seele sehr präsent ist, ist abwechselnd melancholisch, mystisch, sinnlich; Er wagt sich auch in gefährliche Länder, wenn er zum Albtraum wird. Auf dieses damals in Literatur und Kunst populäre Thema dürfte Janmot durch Stiche von Werken seiner Vorgänger, wie des Schweizers Johann Heinrich Füssli, des Engländers William Blake oder des Spaniers Francisco de Goya, aufmerksam geworden sein. Im Gegenzug erforscht er psychische Qualen und das, was bald das „Unbewusste“ genannt wird. Der Künstler wurde möglicherweise durch zwei befreundete Psychiater mit diesen Themen bekannt gemacht, die bei den Symbolisten und dann, zur Zeit der Psychoanalyse, bei den Surrealist:innen ein Echo fanden. Odilon Redon besuchte Janmot häufig und ließ sich von ihm vielleicht anregen mit Kohle zu arbeiten. Max Ernst und Salvador Dalí kannten das Gedicht der Seele nicht, aber Dalí drückte sein Interesse an Janmot aus, als er das Werk 1968 in einer Ausstellung entdeckte.
Die Landschaft spielt in den Szenen von Das Gedicht der Seele eine große Rolle. Sie beteiligt sich gleichsam an der Handlung, indem sie sich auf den Geisteszustand der Hauptfigur einstellt. Obwohl Janmot eine Ausbildung als Historienmaler absolvierte, wurde er von zwei seiner Kameraden aus Lyon, Paul Flandrin und Florentin Servan, in die Landschaftsmalerei eingeführt. Daneben lernte er, im Freien zu studieren, um Motive zu finden, die er dann in seinen Kompositionen verwenden konnte. Die meisten Dekorationen sind von Bugey in Ain inspiriert, das ein kontrastreiches Erscheinungsbild bietet und steile Klippen, ein Plateau mit grünen Wiesen und Sümpfen kombiniert. Janmot fühlte sich dieser Region verbunden, da seine Familie von dort stammte. In den 1840er und 1850er Jahren hielt er sich im Sommer mit seinem Freund Servan in Lacoux auf. Flandrin gesellte sich häufig zu ihnen und das Trio malte gemeinsam in der umliegenden Landschaft.
Diese Ausstellung wird vom Musées d'Orsay et de l'Orangerie de Paris in wissenschaftlicher Zusammenarbeit und mit außergewöhnlichen Leihgaben des Musée des Beaux-Arts de Lyon organisiert.
Kuratiert von Stéphane Paccoud, Chefkurator für Gemälde und Skulpturen des 19. Jahrhunderts im Museum der Schönen Künste in Lyon, und Servane Dargnies-de Vitry, Kuratorin für Malerei am Musée d'Orsay.
Quelle: Musée d'Orsay