Paula Modersohn-Becker (1876–1907) erarbeitete sich selbstbewusst und selbstgewiss, unabhängig vom Urteil ihrer Lehrer, Malerkollegen und Kritiker zwischen 1900 und 1907 eine gänzlich neue Bildsprache. Die Beharrlichkeit, mit der sie in einer fast ausnahmslos männlich dominierten Kunstwelt ihre Ziele verfolgte, fasziniert auch heute noch. Modersohn-Beckers in nur wenigen Jahren entstandenes Œuvre weist sie als Vorläuferin des Expressionismus aus. Dafür wandte sie ihren Blick sowohl auf die französische Avantgarde ihrer Zeit wie auch auf ägyptische Mumienporträts und griechische Tanagra-Mädchen. Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal besitzt mehr als 20 Gemälde zumeist aus der späten und reifen Zeit der Malerin. Gemeinsam mit dem Rijksmuseum Twenthe in Enschede organisiert es eine Ausstellung, die auf den internationalen Kontext der populären deutschen Malerin zwischen Worpswede und Paris setzt.
Niederlande / Enschede: Rijksmuseum Twenthe
8.4. – 12.8.2018
Deutschland / Wuppertal: Von der Heydt-Museum
9.9.2018 – 6.1.2019
verlängert bis 24.2.2019
Bereits während ihrer ersten Studienjahre in Berlin 1898 suchte die junge Malerin Anschluss an die gerade berühmt gewordene Künstlerkolonie Worpswede in der Nähe von Bremen (→ Künstlerkolonie Worpswede). Sie hatte 1895 die Ausstellung der Worpsweder im Münchner Glaspalast gesehen und war von Fritz Overbecks „Abend im Moor“ (1896, Stiftung Fritz und Hermine Overbeck, Bremen) so begeistert, dass sie sofort beschloss, in Worpswede ergänzenden Unterricht zu nehmen. Fritz Mackensen (1866–1953) wurde ihr Lehrer, der um einiges ältere Otto Modersohn (1865–1943) 1901 ihr Ehemann. Beide waren angesehene Künstler, doch auch Paula Becker gelang es rasch, mit ihrer individuellen, von einigen als eigenartig empfundenen Malerei Beachtung zu finden.
Nachvollziehbar wird dies anhand der lebengroßen, realistischen Kohlezeichnungen und Ölbilder der jungen Malerin: Sie zeigt mit größter Akribie hochbetagte Frauen, männliche wie weibliche akademische Akte. Die Schonungslosigkeit, mit der sie sich dem Akt und dem Naturstudium Ende der 1890er Jahre widmete, verblüffte bereits Mackensen. Das lässt den Schluss zu, dass Paula Becker zwar von der lyrischen Stimmung in den Bildern vom Taufelsmoor magisch angezogen worden war, in ihrer Kunst und ihrer Persönlichkeit aber andere Interessen schlummerten. Eine Briefstelle an ihre Tante belegt, dass Paula Becker bereits in diesen Jahren von Paris träumte.
„Als ich mit 15 Jahren nach Worpswede kam, brachte mich Mackensen gleich am ersten Tage zu seiner Schülerin Paula Becker. Sie sollte mir zeigen, wie man Zeichenpapier aufspannt, wie man mit den Bauern umgeht, um sie zu Modellen zu gewinnen.“ (Ottilie Reylaender, 1932)
Worpswede, wo man den Naturalismus in einer idyllischen Landschafts- und Genremalerei pflegte, wurde ihr bald zu eng (→ Naturalismus 1875-1918). So suchte sie nach Inspiration in der berühmtesten Kunstmetropole der Zeit. In der Neujahrsnacht 1900 machte sie sich zum ersten Mal auf nach Paris.
Ein halbes Jahr verbrachte Paula Becker 1900 in Paris, studierte an der Académie Colarossi und besuchte Ausstellungen mit alter und junger Kunst. 1901 heiratete sie den um neun Jahre älteren Otto Modersohn und nahm einen Doppelnamen an, was Modersohn-Beckers Selbständigkeit unterstreicht. Bis zu ihrem frühen Tod im Alter von nur 31 Jahren folgten drei weitere mehrmonatige Aufenthalte in der Stadt an der Seine. Die ambitionierte Malerin zeichnete im Louvre, traf Auguste Rodin, dessen Zeichnungen sie bewunderte, und setzte sich mit der Kunst von Paul Cézanne, Paul Gauguin, Vincent van Gogh, Henri Rousseau und Pablo Picasso ber auch ägyptischen Mumienporträts auseinander. Paula Modersohn-Becker ließ sich von den neuesten französischen Strömungen anregen und entwickelte dabei ihren ureigenen Stil.
Um 1900, vermutlich wieder zurück von ihrem Aufenthalt in Paris, malte Paula Becker Worpsweder Landschaften, in denen sie die stimmungsvolle Beleuchtung bei Mondschein mit Reduktion der Details, dem Zusammenfassen größerer Farbflächen verband. Hierin wird die Abkehr der Malerin vom lyrischen Naturalismus ihrer Gefährten deutlich. Wenn sie sich auch dem Motivschatz der norddeutschen Künstlerkolonie aneignete, so schaffte sie es doch den Ansichten neue Aspekte abzuringen. Die omnipräsenten Worpsweder Birken verglich sie mit „zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen“ (Paula Modersohn-Becker, Tagebuch, undatiert). Die Vermenschlichung der Natur ist nicht nur ein Zeitphänomen, sondern drückt unbewusst Paula Modersohn-Beckers Hinwendung zum Menschen aus. In den folgenden wenigen Jahren schuf sie bedeutende Stillleben, in denen sie sich vor allem mit Fragen der Räumlichkeit auseinandersetzte und Lehren aus Paul Cézannes Stillleben zog und Bilder von Kindern und alten Frauen, begleitet von analytischen Selbstporträts. Schon im August 1897 hatte die aufstrebende Künstlerin an ihre Eltern geschrieben:
„Heute habe ich mein erstes Pleinairporträt in der Lehmkuhle gemalt. Ein kleines, blondes Dingelchen. Es stand zu schön auf dem gelben Sand. Es war ein Leuchten und Flimmern. Mir hüpfte das Herz. Menschen malen geht doch schöner als eine Landschaft.“
In ihrer Malerei konzentrierte sich Paula Modersohn-Becker auf Klarheit und Einfachheit des Ausdrucks. Auch wenn sie mit Vorliebe Kinder, hochbetagte Personen und einfache Leute malte, sich also im klassischen Gebiet der Genremalerei bewegte, verlieh sie den Porträts dadurch Monumentalität.
Paula Modersohn-Becker verband das genaue Studium von Landschaft und Menschen mit der freien Erfindung von Formen und Farben, so dass ihre Modelle bei aller Kargheit eine sonderbar leuchtende, naturferne Ausstrahlung erhielten. Mit Bedacht komponierte sie in der Fläche, so dass sich das Gesehene aus dem naturalistischen Zusammenhang löst. Auf der Suche nach Vorbildern wandte sie sich nach Paris, da die Worpsweder Künstler den Naturalismus pflegten und ihr der Sinn nach Komposition und damit der Loslösung von der Genremalerei stand. Vereinfachte, flächige Formen, maskenhafte Gesichter, die geheimnisvolle Aura eines geradezu mystischen Lichts prägen die späten Werke der Künstlerin. Als sensible Beobachterin von Jung und Alt erweist sich Paula Modersohn-Becker als unsentimentale Regisseurin ernster Figuren. Deshalb gilt sie als Pionierin des Expressionismus (→ Expressionismus in Deutschland und Frankreich).
Zu den beeindruckendsten Bildern des Von der Heydt-Museums in Wuppertal zählt „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvase“ (1906/07). Das Bild entstand in Paris, wo Paula Modersohn-Becker ihre Modelle auf dem Modellmarkt am Montparnasse fand. Aus einem Brief an ihre Stieftochter Elsbeth vom 27. Februar 1907 weiß man, dass das Mädchen zeichen den Blumen eine junge Italienerin namens Dolores Kataldi war. Die Malerin positionierte ihr Modell auf einer undefinierbaren, grünen Sitzgelegenheit, umgeben von Fingerhut und Glockenblume. Diese hochaufragenden Blüten schätzte Modersohn-Becker auch schon in früheren Kompositionen. Die Farbverteilung ist auffallend kontrastreich: der rote Vorhang links leuchtet mit dem Fingerhut um die Wette, die rechte Bildhälfte wird von blauen Tönen dominiert. Orange Blüten in den unteren Ecken schaffen eine Verklammerung, die gemeinsam mit dem gelben Mädchen mit deutlich schwarzer Umrisslinie eine Dreiecksform ergeben. Die Farbe wird, wie für Paula Modersohn-Becker charakteristisch, in dicken Farbschollen aufgetragen. Ein Effekt, der in Abbildungen kaum nachvolzogen werden kann. Mit einem Bild wie diesem erweist die Künstlerin den „Vätern der Moderne“ ihre Reverenz und fügt sich selbst in die internationale Avangarde ihrer Zeit. Während ihres Lebens verkaufte Paula Modersohn-Becker nur drei Werke. Sie hielt ihre Bilder sogar vor ihrem Ehemann versteckt.
Akzeptiert, sogar bewundert wurde sie dennoch nur von Künstlern, die sie genau kannten und beobachteten: neben Otto Modersohn waren das zuerst Heinrich Vogeler (1872–1942) und Rainer Maria Rilke (1875–1926), die 1917 eine erste Retrospektive der Malerin organisierten. Anerkennung erhielt Paula Modersohn-Becker erst einige Jahrzehnte nach ihrem Tod. Einer, der das Werk Paula Modersohn-Beckers früh bereits schätzen lernte, war August von der Heydt (1851–1929). Bereits 1909, zwei Jahre nach ihrem frühen Ableben, erwarb der Bankier und Kunstmäzen ein erstes Gemälde: das „Stillleben mit Rhododendron“.
Heute besitzt das Von der Heydt-Museum mehr als 20 Gemälde von Paula Modersohn-Becker, zumeist aus der späten und reifen Zeit der Malerin. Sie bilden den Grundstock der aktuellen Ausstellung. Mit der Personale macht das Von der Heydt-Museum deutlich, in welchem Zwiespalt die junge Malerin steckte, und dass sie trotz dieser widersprüchlichen Vorbilder ihren ganz eigenen Weg fand. Modersohn-Beckers eindrucksvollen Porträts, Selbstporträts, Stillleben und Landschaften werden einerseits zusammen mit ausgewählten Gemälden ihrer Malerfreunde – Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende und Heinrich Vogeler (Landschaften und Mutter-Kind-Bilder) – und Kollegin Clara Rilke-Westhoff aus Worpswede gezeigt. Andererseits setzt die Schau Modersohn-Beckers Werk in den Kontext der Pariser Avantgarde, vertreten durch Arbeiten von Vincent van Gogh, Auguste Rodin (zwei Zeichnungen), Aristide Maillol, Bernhard Hoetger, Paul Cézanne, Paul Gauguin, Emile Bernard und einem Mädchenporträt von Edvard Munch.