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Expressionismus in Deutschland und Frankreich Was die deutschen Künstlern von ihren französischen Kollegen lernten

Wassily Kandinsky, Murnau, 1908, Ö auf Karton, Merzbacher Kunststiftung.

Wassily Kandinsky, Murnau, 1908, Öl auf Karton, Merzbacher Kunststiftung.

Von Matisse zum Blauen Reiter

Bereits am Cover des umfassenden Katalogs wird deutlich, dass Timothy O. Benson, Kurator am LACMA und Organisator dieser Wanderausstellung, den deutsch-französischen Kunstaustausch über Farbe definiert. Denn was der Begriff Expressionismus genau beschreibt, das wussten bereits die Zeitgenossen nicht. Von Alfred Döblin bis Oskar Kokoschka reichen die Kommentatoren einer Kunstrichtung1, die sich über Innerlichkeit, Mystik, Farbexperimenten und Farbexplosionen (bis ins Unrealistische), dynamischem Pinselduktus, Musikalität, Kubismus-Rezeption, Primitivismus (vom „nordischen“ Nolde, der ägyptisierenden Modersohn-Becker bis zur Rezeption afrikanischer Plastik durch die Fauves und die Brücke Künstler → Picasso war ein Afrikaner!) u.v.m. als neu und zeitgemäß definierte. Benson und seine Kolleg_innen beschäftigen sich daher weniger mit dem Versuch, eine Theorie oder Begriffsbestimmung des Expressionismus aufzustellen, als die gegenseitige Ausstellungsgeschichte zu erforschen. Das taten sie allerdings mit höchst bemerkenswerter Akribie. Ihre Ergebnisse werden an den drei Ausstellungsorten Zürich, Los Angeles und Montreal mit einer wunderbaren Auswahl an Werken internationaler Leihgeber visualisiert!

Von Matisse zum Blauen Reiter
Expressionismus in Frankreich und Deutschland

Schweiz | Zürich: Kunsthaus Zürich
7.2. - 11.5.2014

USA | Los Angeles
8.6. - 14.9.2014

Kanada | Montreal: Montreal Museum of Fine Arts
11.10.2014 - 25.1.2015

Die Künstlerliste liest sich wie ein Who-is-Who der französischen und deutschen Avantgarde – von Cuno Amiet, Georges Braque, Henri Matisse bis Marianne von Werefkin sind alle wichtigen Künstlerinnen und Künstler aus Paris, München und Dresden vertreten. Dass aber gerade die drei so bedeutenden Wiener Exponenten Egon SchieleOskar Kokoschka und Max Oppenheimer nicht berücksichtigt werden, schmerzt aus österreichischer Sicht, waren alle drei doch höchst interessiert, am Berliner bzw. Münchner Ausstellungsgeschehen und in Berliner Zeitschriften wie der „Aktion“ und dem „Sturm“ präsent zu sein. Auch der in Oberösterreich lebende Alfred Kubin, der gemeinsam mit den Künstlern des Blauen Reiter ausstellte, hat wohl wegen seiner auf die Grafik reduzierten, symbolisch-geheimnisvollen Kunstsprache in Schwarz und Weiß nicht ins Konzept gepasst. Auch der Berliner Expressionismus der 1910er Jahre, dem man neben Ludwig Meidner wohl auch Kokoschka zuschlagen müsste, wird über die Brücke-Künstler hinaus nicht repräsentiert. Dennoch kann man diesem Ausstellungsprojekt, das vom Kunsthaus Zürich ins LACMA (Los Angeles County Museum of Art) und dann ins Montreal Museum of Fine Arts geht, einen wichtigen Stellenwert bescheinigen. Es stellt Publikationsorgane, Druckgrafiken und Gemälden gleichberechtigt nebeneinander und unterstreicht damit die Bedeutung der internationalen Kunstpresse vor dem Ersten Weltkrieg, die neben Ausstellungen den höchsten Anteil an der Popularisierung von Künstler:innen hatte.

Ausstellungen ausstellen

In den letzten Jahren hat sich die Forschung vermehrt mit dem Kunstaustausch und der Entwicklung der Klassischen Moderne über Ländergrenzen hinweg beschäftigt. Ausstellungen versuchten historisch wichtige Präsentationen auf deren Bedeutung für die Kunstproduktion, den internationalen Austausch und die Popularisierung der Avantgarde zu hinterfragen: Das Belvedere reinszenierte die „Gustav Klimt und die Kunstschau 1908“, die u. a. von Josef Hoffmann (→ Josef Hoffmann, Adolf Loos und die Folgen), Koloman „Kolo“ Moser und den Schüler_innen der Kunstgewerbeschule organisiert, während das Wien Museum heuer noch die Entwicklung der „Metropole Wien“ mit der Weltausstellung aus dem Jahr 1873 in Verbindung bringt. Das Wallraf-Richartz-Museum fragte ebenfalls zum 100-jährigen Jubiläum nach der Bedeutung der legendären Sonderbund-Ausstellung von 1912 in Köln, und das Kunsthaus Zürich hat vor einigen Jahren Picassos ersten Museumsausstellung 1932 in ihren eigenen Hallen gedacht.

Ausgangspunkt für solche Reprisen sind immer die begleitenden Publikationen, Rezensionen und Ausstellungsfotografien in Kunstpublikationen, der Briefverkehr zwischen Künstler_innen und Organisator_innen, so diese vorhanden sind. In der aktuellen Ausstellung „Expressionismus in Deutschland und Frankreich“ zeigt das Kunsthaus Zürich u.a. das Heft 8 des Kunstmagazins „Kunst und Künstler“ aus dem Jahr 1909, in dem die „Notizen eines Malers“ von Henri Matisse erstmals auf Deutsch abgedruckt wurden. Nur wenige Kojen weiter findet sich die Publikation „Ein Protest deutscher Künstler“, in der der Worpsweder Maler Carl Vinnen die Dominanz der französischen Kunst am deutschen Kunst- und Ausstellungsmarkt heftigst kritisierte. Aus diesen für die Forschung essentiellen Quellen eine ästhetisch anspruchsvolle Schau zu gestalten, welche die Neuartigkeit der Konzepte und die Probleme der Gestalter berücksichtigt, ist ein schwieriges Unterfangen. Beson und Hug entschieden sich, eine Trennwand durch die Ausstellungshalle zu legen, die auch wie ein roter Faden gelesen werden kann. Auf ihr werden die französischen Künstler, beginnend mit den „Vätern der Moderne“ Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Paul Cézanne, Henri Matisse und die Künstlsr des Fauvismus u.v.m. – präsentiert. In den Kojen daneben finden sich die deutschen Künstler_innen, die seit etwa 1905 die farbintensive Kunst der Franzosen rezipierten und dabei dennoch eigenständige Personalstile entwickelten.

Die „Väter der Moderne“

Unter den deutschen Malern ist die Gruppe der „Brücke“ jene, die „zeitlich versetzt ähnliche Stilmerkmal wie die Fauves in Frankreich“2 entwickelt haben. Voraussetzung waren für beiden Künstlergruppen die „Väter der Moderne“, die seit den Impressionisten rund um Claude Monet eine anti-akademische Richtung vertraten.

Die wichtigsten Vorbilder sind:

  • Georges Seurat, Erfinder des Pointillismus, der von Paul Signac propagiert und von diesem an Henri Matisse im persönlichen Studium weitergegeben wurde. Seurat war es auch, der Matisse das kleine Fischerdorf Collioure am Fuß der Pyrenäen für Malstudien im Sommer 1905 empfahl. Der Aufenthalt von Matisse und André Derain im pittoresken Hafen kann als „Geburtsstunde“ des Fauvismus gelten.
  • Paul Cézanne, dessen Tektonik und fleckenhafter Farbauftrag v.a. für die Kubisten wichtig werden wird. Der jedoch die gesamte Komposition, oder wie Matisse es in seinen „Notizen“ ausdrückte, die Harmonie der Leinwände nie aus den Augen verlor und auch scheinbar Unfertiges als abgeschlossen bestimmte.
  • Odilon Redon, der von Matisse gesammelt wurde und dessen mystisches Licht und neuartige Farbigkeit in seinen Pastellen half zu akzeptieren, dass Gefühle hauptsächlich über den Farbeinsatz ausgedrückt werden können. Er ist in der Ausstellung nicht durch ein Kunstwerk, sondern als Verfasser eines Bekenntnisses zur „suggestiven Kunst“ vertreten. Im Juni 1910 veranstaltete die Neue Künstlervereinigung München, die Vororganisation des Blauen Reiter, eine Ausstellung in der Galerie Tannhauser. In diesem Katalog publizierten die Münchener Künstler einen Text Redons, den er mit folgenden Worten beendete: „Die Jugend überdies, mit ihren beweglicheren Innenleben und in Frankreich mehr denn ehedem von den erhabenen Wogen der Musik ergriffen, erschließt (sic!) sich notwendigerweise auch den Dichtungen und Träumen der idealistischen Plastik dieser Kunst.“3
  • Vincent van Gogh und sein dynamischer Farbauftrag gemeinsam mit der subjektiven Farbverwendung wurden zu wichtigen Inspirationsquellen. Nach Van Goghs ersten großen Ausstellung in der Galerie Bernheim-Jeune 1901 wandten sich v.a. die Künstler der „Brücke“ wie auch Emil Nolde dem Holländer zu.
  • Paul Gauguin wurde nach seinem frühen Tod 1903 in Gedächtnisausstellungen gefeiert und auch in Deutschland gezeigt. Er trug nicht nur mit seiner großflächigen, farbigen Gestaltung zur Diskussion bei, sondern auch durch seinen Primitivismus, mit dem er an die paradiesische Ursprünge des Menschseins erinnern wollte.
  • Henri Rousseau wurde nicht nur von Pablo Picasso ob seiner naiven Ausdrucksweise geschätzt, sondern auch von den Künstler_innen des „Blauen Reiter“. Als Zeichen ihrer Verehrung luden sie „den Zöllner“ 1911 neben Henri Matisse und Robert Delaunay zu ihrer ersten Ausstellung in der Münchener Galerie Thannhauser ein.

Fauves und „Brücke“ stürmen voran

Während Henri Matisse, André Derain, Henri Manguin, Maurice Vlaminck, Othon Friesz, Georges Braque u.a. sich bereits am Neo-Impressionismus stießen, weil dieser für sie eine „Tyrannei“ der Farben bedeutete, mussten sich die deutschen „Brücke“-Künstler noch den vorherrschenden Jugendstil und die mächtigen drei Impressionisten – Max LiebermannLovis Corinth und Max Slevogt – überwinden. Im Kontrast zu den Fauves, die sich eines gemäßigten, vielleicht auch stärker an Cézannes Kontrolle orientierten Pinselstrichs bedienten, sind in den Werken von Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich HeckelKarl Schmidt-Rottluff sowie dem 1906 zur Gruppe gestoßenen Max Pechstein ihre Herkunft von Van Goghs Farbdynamiken deutlich spürbar. „Die Brücke“ konstiutierte sich am 7. Juni 1905 aus Architekturstudenten in Dresden; 1906 wurden auch Emil Nolde (bis 1907) und Max Pechstein Mitglieder, 1908/09 ist Kees van Dongen wie auch zuvor schon Emil Nolde für eineinhalb Jahre aufgenommen worden (→ Farbenrausch. Meisterwerke des deutschen Expressionismus). Van Dongen stellt damit neben Pechstein, der sich vom 9. Dezember 1907 bis Ende Juli 1908 in Paris aufhielt, auch die personelle Klammer zwischen den Fauves und der „Brücke“ her. Ab dem Jahr 1908 änderte sich der Stil der „Brücke“, die Nolde zuvor noch mit dem Schimpfwort „Vangogherianer“ belegt hatte, zu einer flächigeren Malweise, welche der Leuchtkraft der Farben besonders zuträglich war. Die verstärkte Ausstellungspräsenz der Fauves in Deutschland könnte dafür ein Grund gewesen sein. Van Dongens wenig anheimelndes Porträt einer Sängerin mit weit aufgerissenem Mund leitet in diesen ersten Teil der Schau ein und symbolisiert seine außergewöhnliche Stellung sowohl Teil der Fauves-Bewegung als auch Mitglied der „Brücke“ gewesen zu sein.

Sonderfall Paula Modersohn-Becker und der Bremer Künstlerstreit

Die Worpsweder Künstlerin Paula Modersohn-Becker (1876-1907) ist ein „Sonderfall“, da sie aus ihren vier Paris-Aufenthalten deutlich andere Schlussfolgerungen zog als ihre deutschen Kollegen einige Jahre später. Während ihr Mann Otto Modersohn als wichtiger Vertreter der Worpsweder Künstlerkolonnie einem stimmungsvollen Realismus verhaftet blieb, entwickelte sich seine Schülerin und Gattin in Paris zu einer Pionierin der Moderne: Mit dem Satz „Ich glaube, ich werde mich von hier fortentwickeln.“4, geschrieben in einem Brief an ihre Eltern nach ihrem ersten Ausstellungsskandal in Bremen 1899, verabschiedete sich Modersohn-Becker von der realistisch-impressionistischen Malweise ihrer Heimat. Die um 1906 entstandene „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß“ folgt bereits Beckers Wunsch nach Einfachheit und geschlossener Form. Bereits 1902 schreibt die Künstlerin davon, „die Farbenskizze ganz so (zu) machen, wie man einst etwas in der Natur empfunden hat“ und von „Farbenstimmung“.5 Diese Formulierungen erinnern frappant an jene Worte, die Matisse Jahre später für sein Kunstwollen gefunden hat. „Professor“ Matisse beschrieb die ungewohnten Farbwerte seiner Bilder wie folgt:

„Die Ausdruckswerte der Farben drängen sich mir in ganz instinktiver Weise auf. Um eine Herbstlandschaft wiederzugeben, werde ich nicht versuchen, mir ins Gedächtnis zu rufen, welche Färbungen zu dieser Jahreszeit gehören; ich werde mich nur durch die Empfindung inspirieren lassen, die sie mir erweckt.“6

Dass gerade eine Bremer Künstlerin noch vor den Mitgliedern der „Brücke“ solche grundlegend neuartigen Überlegungen anstellte, war für die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen deutschen und französischen Künstlern durchaus entscheidend. Der in Bremen tätige Gustav Pauli (1866–1838) wurde zur Identifikationsfigur der Konkurrenz um Aufmerksamkeit zwischen den Kunstschaffenden und von deutscher Seite heftigst angegriffen. Der Worpsweder Maler Carl Vinnen (1863–1922) publizierte 1911 „Ein Protest deutscher Künstler“, in dem er sich gegen die „große Invasion der französischen Kunst7 aber auch gegen die Macht der Kunstschriftsteller („Ästheten“) aussprach. Auslöser für das Pamphlet war der Ankauf des Van-Gogh-Gemäldes „Mohnfeld“ (1890) für die Bremer Kunsthalle durch deren Direktor Gustav Pauli im Jahr 1910. Bereits 1899 war Pauli für eine Ausstellung der Worpsweder Malerin Paul Becker (verheiratete Modersohn-Becker) und 1906 für den Ankauf von Monets „Dame im grünen Kleid (Camille)“ in den Medien getadelt worden. Ihm wurde vorgeworfen, er solle „die ausländische Kunst zum Nachteil der einheimischen deutschen zu begünstigen8. Dass der „Protest deutscher Künstler“ nicht nur das Produkt von reaktionären Geistern war, zeigt ein Blick auf die Liste der 123 Unterzeichnern, zu den heute berühmtesten gehörten Käthe Kollwitz, Franz Servaes und Franz von Stuck.9

Die Gegenseite ließ sich durch den publizistischen Angriff nicht entmutigen und veröffentlichte ihrerseits im Juni 1911 eine Stellungnahme unter dem Titel „Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den „Protest deutscher Künstler““ bei Piper. Diese Schrift unterfertigten u.a. Lovis Corinth, Max Liebermann, Max Slevogt, Otto Modersohn, Gustav Klimt, Carl Moll, Wassily Kandinsky, August Macke, Franz Marc, Max Pechstein, Max Beckmann u.a. Die pro-französische Gruppe setzte sich sowohl aus den drei berühmten Impressionisten Liebermann, Corinth und Slevogt zusammen wie auch den Künstlern des zukünftigen „Blauen Reiter“ und der Dresdner „Brücke“. Während Liebermann selbst 1910 durch seine Ablehnung der „Brücke“-Kunst gegenüber zur Spaltung der Berliner Secession und zur Gründung der Neuen Secession beigetragen hatte, findet er sich im Gegenprotest interessanterweise mit der jungen Avantgarde vereint.

Farbe + Rhythmus = „Blauer Reiter“?

Wie die Kuratoren Timothy O. Benson und Cathérine Hug hervorheben, sind die Werke der „Brücke“-Künstler und die des „Blauen Reiter“ kaum miteinander vergleichbar. In der Schau finden sich hauptsächlich Arbeiten aus den Jahren vor der Publikation des gleichnamigen Almanachs mit dem Hl. Georg am Cover. Einzige Ausnahme bildet Paul Klee, dessen Hinwendung zur Farbe erst mit der Tunis-Reise 1914 in zwei Aquarellen aus diesem Jahr belegt wird.

Wassily Kandinsky (1866–1944) und dessen Lebensgefährtin Gabriele Münter (1877–1962) lebten von Juni 1906 bis August 1907 in Sèvres, außerhalb von Paris. Obwohl sie sich abseits von der Pariser Kunstszene hielten, studierten sie am Herbstsalon die Werke von Paul Gauguin, Paul Cézanne und Henri Matisse genau. Kandinskys in dieser Zeit entstandenen Holzschnitte erschienen beim Verlag „Tendances Nouvelles“ im Jahr 1907 unter dem Titel „Xylographies“ und machten den russischstämmigen Künstler aus München auch in der Seine-Metropole bekannt. In ihnen verarbeitete er Erinnerungen an seine russische Heimat und ihre Märchen, verband alles mit einer musischen Note, die typisch für Kandinsky ist.

Die folgenden Jahre malten Kandinsky und Münter gemeinsam mit Alexej von Jawlensky (1864–1941) sowie Marianne von Werefkin (1860–1938) im kleinen Dorf Murnau, südlich von München. Im Jahr 1908, als Matisse seine „Notes d`un peintre“ erstmals veröffentlichte10 und in Wien die „Kunstschau“ als Höhepunkt der Jugendstilbewegung organisiert wurde, arbeiteten die zukünftigen Künstler des „Blauen Reiter“ an Stillleben und Landschaften in deutlich expressionistischer Manier. Jede und jeder behielt dabei seinen persönlichen Zugang: Kandinsky eroberte sich leuchtende Farben, Gabriele Münter hingegen nutzte gedecktere Töne. Werefkins Kompositionen sind dynamisch bewegt, und Jawlensky entwickelte seine Bildsprache rasant von einem lyrischen Expressionismus zu einer abstrahierenden Formreduktion. Drei Frauenbildnisse des Letztgenannten – „Mädchen mit Pfingstrosen“ (1909), „Dame mit gelbem Strohhut“ (um 1910), „Märchenprinzessin mit Fächer“ (1912) – belegen eine höchst stringente Steigerung der Farbkontraste bei gleichzeitiger Abnahme von Räumlichkeit und Details sowie einer Vergröberung des Pinselduktus.

Gleichzeitig lässt sich an den Werken von Kandinsky seine Hinwendung zur Abstraktion ablesen: „Murnau, Kohlgruberstraße“ (1908) ist eine an den Farben der Fauves geschulte Wiedergabe einer baumbestandenen Straße. Im Vergleich zu Kandinskys intensiven Farben muten jedoch beispielsweise Manguins Töne pastellig an. „Fragment zu Komposition II“ (1910) sowie „Skizze I für Bild mit weißem Rand“ (1913) stellen auch bereits in ihren Titeln keinen Bezug zur Umwelt her, obwohl das „Fragment“ sich von Cézanneschen bzw. Fauveschen Kompositionen mit badenden Damen in natürlicher Umgebung ableiten lässt.

Kristallines als „Schönheit des Abstraktionsdrangs“

Nach Wilhelm Worringer in dessen epochalem Text „Abstraktion und Einfühlung“ (Erstpublikation 1908) findet der „Abstraktionsdrang seine Schönheit im lebensverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen, allgemein gesprochen, in aller Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit11. Damit stellt Worringer den Abstraktionsdrang dem Einfühlungsdrang, dem er das Organische zuschreibt, diametral gegenüber.

Das Kristalline (→ Kristallvisionen in der Kunst) fanden die Künstler_innen des Blauen Reiter vor allem in der Kunst von Robert Delaunay (1885–1941), den sie wie Matisse und Rousseau zu ihrer ersten Ausstellung 1911 in die Münchener Galerie Tannhauser einluden. Delaunay hatte eine Variante des Analytischen Kubismus entwickelt, die er Simultaneität bzw. Orphismus nannte und mit der er u.a. das gleichzeitige Sehen als vitalistisches Konzept begriff. Licht und Farbe changieren in seinen von Würfeln durchzogenen Bildstrukturen, Simultankontraste (nach Eugène Chevreul) steigern sich zu nahezu abstrakten Kompositionen. Dass der in Deutschland 1911 noch relativ unbekannte Robert Delaunay zu den Ausstellungen des „Blauen Reiter“ eingeladen wurde, zeigt die Internationalität der Gruppe, von der sich v.a. Paul Klee ab 1914 zu weiteren Farb- und Kompositionsexperimenten anregen ließ.

Das jüngste Mitglied des „Blauen Reiter“ war der aus Krefeld stammende Heinrich Campendonk (1889–1957). Er stellte auf beiden Ausstellungen der Gruppe aus und wollte gemeinsam mit August Macke, das Rheinland neben München und Berlin als wichtige Kulturregion etablieren. Wie auch Campendonk reagierten Lyonel Feininger (1871–1956) und Franz Marc begeistert auf die kristallinen Formen des Kubismus, mit Hilfe derer entweder ihr Volumen und damit ihre Monumentalität betont oder sie auch dynamisiert werden konnten. Im Jahr 1911 hielt sich Feininger in Paris auf und kam mit den Kubisten in Kontakt. Der in New York geborene und hauptsächlich in Berlin beheimatete Feininger freundete sich bereits 1912 in der Hauptstadt mit den Brücke-Künstlern an, vor allem aber Heckel und Schmidt-Rottluff, und folgte 1913 Marcs Einladung, mit dem „Blauen Reiter“ in München auszustellen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 brach diese für Deutschland so fruchtbare Beziehung nach Frankreich abrupt ab. Aber nicht nur das, Franz Marc etwa meldete sich freiwillig und mit großem Enthusiasmus zum Kriegsdienst. Er sah in den Kampfhandlungen eine Möglichkeit, die Gesellschaft zu erneuern. Der Maler fiel am 4. März 1916 in der Nähe von Verdun.

Expressionismus in Frankreich und Deutschland im Vergleich

Der Kulturaustausch zwischen Deutschland und Frankreich reduzierte sich vor 1914 deutlich darauf, dass sich Frankreich – und hier fast ausschließlich Paris als zentralisierte Metropole des Ausstellungswesens und des Kunstmarkts – in einer gebenden Rolle und Deutschland in der nehmenden befanden. Während Matisse zwar 1910 München besuchte, um eine Ausstellung zu orientalischer Kunst zu sehen, und er sich deutlich bemühte (aus Verkaufsgründen) auf deutschen Ausstellungen vertreten zu sein, richtete sich sein künstlerisches Interesse nachweislich auf nordafrikanische Gefielde. So ist die Wirkung nicht nur der Fauves, sondern der modernen Kunst Frankreichs allgemein und bis hin zu den Kubisten, kaum zu überschätzen. Dennoch kann man mit ihnen und den „Vätern der Moderne“ nicht die gesamte Entwicklung des deutschen Expressionismus erklären. Weitere wichtige Faktoren sind das Verhältnis von Musik und Bildender Kunst sowie die Bezüge zur russischen Volkskunst. Aber auch Künstler wie der Norweger Edvard Munch und der Belgier James Ensor haben wichtige Rollen in der Geschichte des deutschen Expressionismus gespielt.

Gut gelungen ist die Schau wegen der Einbindung wichtiger Magazine aber auch Druckgrafiken, welche die internationale Kunstentwicklung für viele Produzenten wie Konsumenten leicht zugänglich machte. Es ist vorstellbar, dass durch die neue Publizität zeitgenössischer Kunst die Schnelligkeit ihrer Entwicklung nur noch vorangetrieben wurde. Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit zählte ein markanter Personalstil, weshalb die Expressionisten trotz Gruppenbildung ihre Handschriften individuell hielten. Die Ausstellung in Zürich dokumentiert aber nicht nur die Herausforderung für deutsche Künstler_innen, sich dem Pariser Pflaster zumindest für einige Zeit zu stellen, sondern auch den nachhaltigen Eindruck, den moderne französische Kunst auf die Reisenden machte. In Wanderausstellungen konnten die gewonnen Erkenntnisse vertieft und immer schneller rezipiert werden. Dass die deutschen Expressionisten sich bis etwa 1911 vor allem um romantisierende Sujets wie Landschaften, Porträts, Stillleben, Akten bemühten, zeigt zumindest für die „Brücke“-Künstler, dass sie dem bürgerlichen Lebensstil (ihrer Eltern) zugunsten eines scheinbar natürlicheren, primitivistischen entkommen wollten. Der sukzessive Umzug der „Brücke“ nach Berlin brachte neue Themen wie die Metropole, die Geschwindigkeit des modernen Lebens und bürgerliche Außenseiter in den Fokus der Künstler. Ab den frühen 1910er Jahren stellten sie die Entdeckung der Farbe und den dynamischen Kubismus in den Dienst einer gesellschaftskritischeren Kunst, während die Künstler des „Blauen Reiter“ die Vergeistigung ihrer Werke vorantrieben.

Ab diesem Moment scheint der „Stil“ des Expressionismus noch schwieriger zu definieren zu sein, beinhaltet er doch Abstraktion neben übersteigerten Figurenbildern aus der Großstadt und lyrischen Naturvisionen. Dass der Expressionismus auch heute noch eine unglaubliche Befreiung für Künstler_innen bedeutet, dokumentiert das von Cathérine Hug geführte Gespräch mit Georg Baselitz und Robert Menasse im Ausstellungskatalog!

Auszüge aus Henri Matisse: Notizen eines Malers

1909 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen12

„Was ich vor allem zu erreichen suche, ist der Ausdruck. (…) Die Komposition ist die Kunst, in dekorativer Weise die verschiedenen Elemente anzuordnen, über die der Maler verfügt, um seine Gefühle auszudrücken. (…)
Ich möchte jenen Zustand der Kondensierung von Empfindungen erreichen, der das Bild ausmacht. (…)
Hinter dieser Folge von Momenten, die die flüchtige Existenz von Wesen und Dingen bildet und ihnen wechselnde Erscheinungsformen verleiht, kann man einen wahreren, wesentlicheren Charakter aufsuchen, an den der Künstler sich halten wird, um eine dauerhaftere Interpretation der Wirklichkeit zu geben. (…)
Es ist mir nicht möglich, die Natur sklavisch abzubilden; ich bin gezwungen, sie zu interpretieren und dem Geist des Bildes unterzuordnen. Wenn alle meine Beziehungen der Farbentöne gefunden sind, so muss sich daraus ein lebendiger Akkord von Farben ergeben, eine Harmonie analog der einer musikalischen Komposition. (…)
Die Ausdruckswerte der Farben drängen sich mir in ganz instinktiver Weise auf. Um eine Herbstlandschaft wiederzugeben, werde ich nicht versuchen, mir ins Gedächtnis zu rufen, welche Färbungen zu dieser Jahreszeit gehören; ich werde mich nur durch die Empfindung inspirieren lassen, die sie mir erweckt: die eisige Klarheit des Himmels von herbem Blau wird die Jahreszeit ebenso gut ausdrücken wie die Schattierungen des Laubes. (…)
Die Wahl der Farben beruht auf keiner wissenschaftlichen Theorie; sie stützt sich auf die Beobachtung, auf das Gefühl, auf die Erfahrung meiner Reizsamkeit. (…)
Mein Traum ist eine Kunst voll Gleichgewicht, Reinheit, Ruhe ohne beunruhigende oder die Aufmerksamkeit beanspruchende Sujets, die für jeden geistig Arbeitenden, für den Geschäftsmann ebensosehr (sic!) wie für den Künstler, ein Linderungsmittel ist, ein geistiges Beruhigungsmittel, etwas Ähnliches wie ein guter Lehnstuhl, der ihm von seiner physischen Ermattung Erholung gewährt. (…)
Ausdruck und Dekoration sind ein und dieselbe Sache, der zweite Begriff ist im ersten eingeschlossen." (Henri Matisse)

Literatur

Otto F. Best (Hg.): Theorie des Expressionismus, Stuttgart 1982.
Magdalena M. Moeller: Die Brücke und Fauves, in: Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Von Matisse zum Blauen Reiter (Ausst.-Kat. Zürich 7.2.-11.5.2014), Zürich 2014.
Odilon Redon: Ich wende mich hier…, in: Neue Künstlervereinigung München E.V. II. Ausstellung, München 1910.
Carl Vinnen: Ein Protest deutscher Künstler, Jena 1911.
Hans-Peter Wipplinger: Paula Modersohn-Becker. Zur Geschichte einer künstlerischen und persönlichen Identitätssuche, in: Paula Modersohn-Becker. Pionierin der Moderne (Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems 14.3.-4.7.2010), Krems 2010.
Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, München11 1921.

Expressionismus in Deutschland: Bilder

  • Wassily Kandinsky, Murnau, 1908, Öl auf Karton, Merzbacher Kunststiftung.
  • Alexej Jawlensky, Märchenprinzessin mit Fächer, 1912, Museum Ludwig Köln, Mädchen mit Pfingstrosen, 1909, Öl auf Karton, 101 x 75 cm, Kunst- und Museumsverein Wuppertal, Dame mit geölbem Strohhut, um 1910, Merzbacher Kunststiftung.
  • Vincent van Gogh, L`Homme à la pipe (Selbstbildnis [Mann mit Pfeife]), 1889, Privatsammlung.
  • Henri Rousseau, Pa Promenade dans la forêt (Waldspaziergang), 1889, Kunsthaus Zürich.
  • Robert Delaunay, Les Fenêtres sur la ville (1er partie, 1ers contrastes simultanés), 1912, Öl auf Leinwand, 53 x 207 cm, Museum Folkwang, Essen.
  • Paul Cézanne, Grosses pommes, um 1891-92, Öl auf Leinwand, 44,8 x 58,7 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, Legat Stephen C. Clark, 1960.
  • Paul Gauguin, Le Gardien de porcs, 1888, Öl auf Leinwand, 73,03 x 93,03 cm, Los Angeles County Museum of Art, Geschenk von Lucille Ellis Simon und ihrer Familie zu Ehren des 25jährigen Geburtstags des Museums.
  • Wassily Kandinsky, Murnau, 1908, Öl auf Karton, Merzbacher Kunststiftung.
  • August Macke, Landschaft mit Kühen und Kamel, 1914, Öl auf Leinwand, 47 x 54 cm, Kunsthaus Zürich.
  • Wassily Kandinsky, Fragment zu Komposition II, 1910, Ö auf Karton, 57 x 47,5 cm, Merzbacher Kunststiftung.
  • Franz Marc, Steiniger Weg (Gebirge/Landschaft), 1911 (übermalt 1912), Öl auf Leinwand, 130,8 x 101 cm, San Francisco Museum of Modern Art, Geschenk des Women’s Board and Friends of the Museum.
  1. Den besten Überblick über die verschiedenen Zugänge bietet noch immer die Anthologie Otto F. Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, Stuttgart 1982.
  2. Magdalena M. Moeller: Die Brücke und Fauves, in: Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Von Matisse zum Blauen Reiter (Ausst.-Kat. Zürich 7.2.-11.5.2014), Zürich 2014, S. 81.
  3. Zit. n. Odilon Redon: Ich wende mich hier…, in: Neue Künstlervereinigung München E.V. II. Ausstellung, München 1910, S. 45.
  4. Zit. n. Hans-Peter Wipplinger, Paula Modersohn-Becker. Zur Geschichte einer künstlerischen und persönlichen Identitätssuche, in: Paula Modersohn-Becker. Pionierin der Moderne (Ausst.-Kat. Kunsthalle Krems 14.3.-4.7.2010), Krems 2010, S. 29.
  5. Zit. n. ebenda, S. 86-87.
  6. Zit. n. Henri Matisse: Notizen eines Malers, in: Kunst und Künstler 8 (1909) 335-347.
  7. Carl Vinnen: Ein Protest deutscher Künstler, Jena 1911, S. 2.
  8. Wulf Herzogenrath, Ingmar Laehnemann (Hrsg.): Noble Gäste. Meisterwerke der Kunsthalle Bremen zu Gast in 22 deutschen Museen, Bremen 2009, S. 149.
  9. Darunter Leo Putz und Fritz Erler von der Münchner Künstlervereinigung Die Scholle.
  10. In: La Grande revue, 2, Nr. 24, Paris 1908.
  11. Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, München11 1921, S.2-3.
  12. Henri Matisse: Notizen eines Malers, in: Kunst und Künstler 8 (1909) 335-347.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.