Tizian, Tintoretto, Veronese, Bassano, Giorgione und Lotto sind die Heroen der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts. Venezianische Renaissance-Malerei unterscheidet sich von der Florentiner Kunst durch den Einsatz des Chiaroscuro und Farbe als Grundlagen der Darstellung. Figuren und Raum werden genauer beobachtet, allerdings idealistischer in ihren Konzeptionen, die Vorstellung von Schönheit in der venezianischen Renaissance ist den Werken in Rom, Parma und Florenz ebenbürtig, wenn nicht in einigen Äußerungen höher zu bewerten. Das Museo Thyssen-Bornemisza zeigt mit fast 100 Gemälden den Reichtum der Lagunenstadt und fasst diesen in Themengruppen zusammen. Dem Madrider Haus gelingt damit eine veritable Ausstellung zur venezianischen Renaissance-Malerei, deren Schwerpunkt auf dem Porträt liegt.
Spanien / Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza
20.6. – 24.9.2017
Ende des 15. Jahrhunderts schien es, als würde Venedig von den anderen Stadtstaaten auf der italienischen Halbinsel wirtschaftlich, politisch aber auch künstlerisch abgehängt werden. Doch genau 1500/1510 eroberten sich venezianische Maler und Architekten neue Ausdrucksmöglichkeiten, die auf die spezifisch venezianische Tradition aufbauen: Farbenreichtum, Betonung von Mustern und Oberflächen, Beschäftigung mit den Qualitäten des Lichts gehören zu den wichtigsten Charakteristika der venezianischen Renaissance Kunst des 16. Jahrhunderts.
Genau 1500 druckte Jacopo de‘ Barbari einen Vogelschau-Plan von Venedig mit den ungewöhnlichen Maßen 134,5 x 282 Zentimetern. Damit gelang ihm nicht nur der erste realistische Stadtplan einer Stadt, sondern auch eine Übersicht für die Lagune, von Südosten gesehen. Der Riesenholzschnitt wurde von sechs Holzstöcken auf Papierbögen gedruckt und dann zusammengeklebt. Gleichzeitig zeigen Porträts der Dogen – wie Doge Mocenigo von Gentile Bellini, die Prokuratoren Gritti und Soranzo bzw. Senatoren von Tizian – die Macht der betagten Herrscher.
Bis heute ist das gotische und byzantinische Erbe der Stadt an den Palazzi des Canal Grande deutlich ablesbar. Architekten, Humanisten, Verleger und Sammler wandten sich um 1500 antiken Texten zu, darunter Vitruvs Architektur-Traktaten. Sebastiano Serlio1 und Vincenzo Scamozzi, der von Paolo Veronese bei der Vermessung eines korinthischen Kapitells gemalt wurde, begründeten die Architektur-Theorie neu. Wie auf vielen Renaissance-Porträts zieren Ruinen die Hintergründe, was als Hinweis auf die hohe Bedeutung der klassischen Überreste zu deuten ist. Die Lektüre klassischer Texte, Bibliotheken und das Sammeln von Antiquitäten gehörten selbstverständlich auch zur venezianischen Welt. Zu den schönsten in Venedig gedruckten Büchern gehört Francesco Colonnas „Hypnerotomachia Poliphili“ (1499), in dem sich der Autor eine utopische Antike erträumte. Bilder von Moroni und Bronzen in Mythologien von Veronese zeigen, wie sehr sich Porträtierte damit identifizierten.
In der venezianischen Renaissance-Malerei finden sich häufig Darstellungen junger Männer und Frauen in melancholischen Posen. Giorgione, Tizian, Bernardino Licinio, Giovanni Cariani und Lorenzo Lotto verbanden mit ihnen Allegorien der Musik, die in der Renaissance als Symbol für Perfektion galt.
Darüber hinaus widmeten sich venezianische Maler ganzen „Galerien schöner Frauen“, alledamt unbekannte Schönheiten. Palma Vecchio, Titian und Veronese entwickelten die Idee von Perfektion mit einem Schuss Erotik im Genre idealisierter Frauenbildnisse. Darstellungen der Göttin der Schönheit und der Liebe, Venus, transponierten dieses Konzept in die mythologische Welt. „Venus und Cupido“ erhält mit „Cephalus und Procris“ ein Pendant durch Lambert Sustris (beide Louvre).
Zwischen dem Bild der weiblichen Schönheit und religiöser Malerei steht die Darstellungstradition von Maria Magdalena. Vor allem Tizian widmete sich der Heiligen, die er mit himmelnden Blick, tränenüberströmt darzustellen wusste. In Madrid werden drei Versionen (Privatsammlung; Eremitage, St. Petersburg; Capidimonte, Neapel) gezeigt: jene aus dem Museo di Capodimonte malte Tizian für Kardinal Farnese. Eine weitere befand sich beim Tod des Künstlers noch in dessen Atelier und war vielleicht für Alfonso de Ávalos bestimmt. Die Legende weiß zu berichten, dass der Künstler angeblich dieses Bild umarmt hätte, als er starb.
Venezianische Malweise eignete sich hervorragend, Bilder der Macht zu produzieren: Zum einen war das Glänzen metallischer Rüstungen durch Licht und Farbe besonders gut zu schildern (siehe Carpaccio und Tizian), zum anderen dienten Auftragswerke der Dekoration von Palästen, in denen Repräsentationskonzepte verdeutlicht wurden. So arbeiteten Tizian und Giulio Romano im Palazzo Te in Mantua bzw. Palladio und Veronese im Palast von Iseppo da Porto in Vincenza zusammen.
Theokrits Idyllen und Sannazaros „Arcadia“ sind die literarischen Ausgangspunkte für mythologische wie sakrale Bilder der Renaissance in Venedig. Häufig platzierten Maler aus der Lagunenstadt ihre Protagonisten in pittoreske Landschaften, auf Lichtungen oder Wiesen. Die Ausstellung in Madrid versammelt Gemälde von Sebastiano del Piombo, Lorenzo Lotto, Palma Vecchio, Dosso Dossi u.v.m., um diese venezianische Eigenheit zu dokumentieren. Tizians „Madonna mi Kind und der hl. Katherina und einem Schafshirten“ (um 1525–1530, Louvre), das der Venezianer für Herzog Alfonso I. Este in den frühen Jahren seiner Karriere malte, und Jacopo Bassanos ländliche Szenen lassen ein großes Interesse von Künstlern und Auftraggebern an der Natur annehmen. Venezianische Patrizier empfanden das Grün der Terra ferma als anregend und Palladios Landvillen als höchsten Ausdruck der Architektur.
Zu den wichtigsten Werken der Schau zählt Paolo Veroneses „Raub der Europa“, ehemals Palazzo Ducale und heute im Prado, dessen brillante Farben und pittoreske Naturschilderung eine ruhige, ausgesucht schöne Komposition zieren. Die Geschichte der Entführtung wird im Mittel- und Hintergrund noch in zwei weiteren Szenen geschildert, die jede Dramatik vermissen lassen. Der Maler aus Verona (1528–1588), der neben Jacopo Tintoretto der wichtigste Zeitgenosse und Nachfolger Tizians war, war ab 1551 mit großen Aufträgen in Venedig beschäftigt. Seine Palette ist berühmt, seine Kleider schimmern, sein Fleisch scheint weich. Wenn er auch dem großen Tizian Anregungen in Sachen Figurentypus, Komposition und Farbe verdankte, so suchte er doch ausgewogenere, klassisch harmonischere Ergebnisse zu erzielen.
Wie bereits betont wurde, nahm in der mittelitalienischen Hochrenaissance die Zeichnung (disegno), durch die der Geist (idea) des Künstlers Form annahm, den zentralen Platz im Denken über den kreativen Prozess ein (→ Michelangelo & Sebastiano del Piombo). Als Ausgangsbasis der Kunstwerke in Florenz und Rom geschätzt, entwickelten venezianische Maler ein erstaunliches Geschick im Umgang mit Farbe. Visuelle und sensuelle Aspekte der Malerei, Farbe und „Flecken“, waren dominierende Ausdrucksmöglichkeiten. Wie auch in anderen Teilen Italiens blieb die Orientierung an der Klassik nicht lange in Mode. Die späten Werke von Tizian, Tintoretto, Veronese und Bassano zeigen, wie jeder dieser Maler einen „offeneren“, sichtbareren Pinselstrich einsetzte. Oft spricht man von Farbflecken oder Schlieren. Damit hinterfragten die Venezianer die Bedeutung des disegno, oder zumindest die dieser in Florenz genoss, und die Renaissance-Ästhetik der klassischen Schönheit. Bis heute darf die Frage gestellt werden, ob die Werke Tizians als vollendet gelten dürfen oder nicht (→ Der späte Tizian).
König Philipp II. war der begeistertste Tizian-Sammler des 16. Jahrhunderts. Er trug die bedeutendste Sammlung an späten Werken zusammen, die sich heute im Prado und dem Kloster El Escorial befinden. Tizians dramatischer „Christus am Kreuz“ (um 1565) datiert aus den späten Jahren des um 1490 geborenen Malers. Wie gemalt wurde, war also nicht nur eine formale Frage, sondern führte zu expressiverer Behandlung von Figuren, Landschaften und der Natur als vergleichsweise in Florenz. Die Gemälde der 1560er und 1570er von Bassano, Tintoretto und dem späten Tizian wie „Christus am Kreuz“ (um 1565) betrachtend, liegt der Schluss nahe, dass hierin bereits barocke Stiltendenzen zu finden sind. Viele Werke gemahnen durch ihr dramatisches Hell-Dunkel bereits an das „Kellerlicht“ Caravaggios.
Leihgeber: Szépmüvészeti Múzeum in Budapest, Galleria dell´Accademia in Venedig, Fondazione Accademia Carrara in Bergamo, Palazzo Pitti und Galeria degli Uffizi in Florenz, Kunsthistorisches Museum in Wien, Musée du Louvre in Paris und die National Gallery in London.
Kuratiert von Fernando Checa Cremades, Professor für Kunstgeschichte an der Universidad Complutense