Zum 35. Verlagsjubiläum präsentierte der Verleger und Sammler Lothar Schirmer einen ersten Überblick zur „Düsseldorfer Photoschule“. Darin fasst Stefan Gronert, Leiter der Grafischen Abteilung im Kunstmuseum Bonn und Herausgeber der „Editionen“ von Gerhard Richter (gemeinsam mit Hubertus Butin), auf 58 Seiten Begleittext kurz die Charakteristika von zehn Künstlerpersönlichkeiten zusammen, die das Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie in der Fotoklasse von Bernd Becher verbindet. Die Ziele des Autors sind, die Besonderheiten der einzelnen Künstlerpersönlichkeiten aufzuzeigen und die Vielfalt der Fotografie der letzten beiden Jahrzehnte zu beleuchten (S. 64). Dabei verweist er immer wieder auf die Unterschiede zur künstlerischen Praxis von Bernd und Hilla Becher, deren klar definierter Ansatz für Gronert quasi die „Folie“ darstellt, vor deren Hintergrund die Weiterentwicklung der ehemaligen Schüler beleuchtet wird. Darüber hinaus verknüpft Gronert die einzelnen Œuvres miteinander, sobald ähnliche Motive nachzuweisen sind, verweist aber in einem nächsten Schritt sofort auf die unterschiedlichen künstlerischen Praxen, die dahinter stehen. Auf weiteren 170 Seiten werden die Fotografien der Düsseldorfer ganzseitig vorgestellt.
Bernd und Hilla Becher (1931-2007/1934-2015) zählen zu den bedeutendsten Fotografen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihre Fotografien, die sie als Künstlerpaar in etwa drei Jahrzehnten gemeinsam schufen, entsprachen der traditionellen Funktion der Fotografie als Dokumentationsmedium. In letzter Konsequenz arbeiteten sie betont sachlich, konzentrierten sich in ihren kleinformatigen Aufnahmen auf Industriebauten und Fachwerkhäuser und schufen damit Serien von „anonymen Skulpturen“ (→ open spaces | secret places). Ausgangspunkt ihrer fotografischen Recherche waren ähnliche Zugangsweisen von Eugène Atget, Walker Evans, Albert Renger-Patzsch, August Sander und Karl Blossfeldt, die Bernd und Hilla Becher selbst als geistesverwandte Positionen hervorhoben. Von diesen Vorbildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterschieden sich Bernd und Hilla Becher vor allem durch die Präsentationsweise ihrer Arbeiten als Tableaus oder Typologien, für die sie 6 bis 24 Fotografien zum vergleichenden Sehen zusammenstellten.
1976 begann Bernd Becher seine Lehrtätigkeit an der Düsseldorfer Akademie, die er bis 1996 inne hatte. Zu seinen ersten Studenten zählten Candida Höfer (* 1944), Axel Hütte (* 1951), Thomas Struth (* 1954) und Thomas Ruff (* 1958). Der Begriff der „Becher-Schule“ lässt sich 1988 anlässlich einer Ausstellung in einer Kölner Galerie erstmals nachweisen. Eine Ausbildung bei den Bechers garantierte offenbar eine objektivierende Sichtweise, so dass sich der Begriff der Schule überhaupt anwenden ließ. In den 1990er Jahren sollte sich die Bezeichnung „Becher-Schule“ am internationalen Kunstmarkt etablieren, wurde zu einer Marke hochstilisiert und genießt bis heute besten Ruf (auch in Bezug auf die technische Ausarbeitung der Fotos).
Die Qualität der Düsseldorfer Fotografen liegt aber zu einem wichtigen Teil darin, dass sich die ehemaligen Schüler in ihren Werkgruppen deutlich von der künstlerischen Praxis der Bechers unterscheiden. Stefan Gronert vermutet, dass die Intentionen der Bechers derart radikal und konsequent waren, dass eine Emanzipation davon unumgänglich war, wollte man nicht als Nachahmer enden (S. 65). Die zehn in der Folge vorgestellten Fotografen – Laurenz Berges, Elger Esser, Andreas Gursky (→ Andreas Gursky in Düsseldorf), Candida Höfer (→ Candida Höfer. Düsseldorf), Axel Hütte, Simone Nieweg, Thomas Ruff, Jörg Sasse, Thomas Struth und Petra Wunderlich – unterscheiden sich bei aller äußerlichen Ähnlichkeit des Zugangs in ihren Haltungen deutlich von den Bechers aber auch untereinander. Die verbindenden Aspekte sind leicht aufzuzählen: ein Hang zum fotografischen Archiv, zur Liebe zum Detail, zur Absenz von Menschen, zum Nicht-Inszenieren, zum Hinterfragen von Sehgewohnheiten und zum Großformat. 1989 legte der französische Kurator Jean-François Chevrier eine Erklärung dafür vor, warum die Fotografie der 1980er Jahre zum Monumentalen tendierte1: Die Fotografie nahm Form und Funktion von Gemälden an (Tableau-Form), wodurch sie an der Wand präsentiert, von vielen gleichzeitig betrachtet werden konnte.
Die Analyse von Stefan Gronert führt bei aller Kürze der Portfolii gut in die Werkgruppen ein und klärt für jeden Künstler dessen spezielle Fragestellungen ab. Dass mit dem Erfolg der Düsseldorfer Fotografie ab den frühen 80er Jahren auch die Entwicklung der Bilder als Großformate zusammenhängt, wird in einem Exkurs angesprochen.
Wer sich erstmals mit der Düsseldorfer Fotografie beschäftigt, findet mit diesem Bildband einen guten Einstieg in das Thema. Es werden nicht nur die wichtigsten Protagonisten kurz vorgestellt und ihre aufschlussreichsten Werkgruppen abgebildet, sondern der einleitende Text von Stefan Gronert genügt allen Anforderungen eines enzyklopädischen Überblicks. Dass sich der Autor freilich bewusst ist, dass das Thema damit noch nicht umfassend abgehandelt ist, zeigt das Ende seines Textes. Hier interessiert sich Gronert für weiterführende Fragestellungen zur Theoriebildung, zur Rezeption und zur Digitalisierung – allesamt Denkaufgaben, die in diesem katalogartigen Buch keinen Platz gefunden haben.
Stefan Gronert
Herausgegeben von Lothar Schirmer
320 S., 332 Abb.
davon 163 ganzseitige Tafeln in Farbe und Duotone
€ 68,-; sFr 110,-
ISBN 978-3-8296-0291-4 (D)
Schirmer / Mosel