Alice Bailly

Wer war Alice Bailly?

Alice Bailly (Genf 25.2.1872–1.1.1938 Lausanne) war eine Schweizer Malerin und Textilkünstlerin der Klassischen Moderne (→ Klassische Moderne). Baillys Kunst war von Fauvismus, Kubismus und Futurismus beeinflusst; ihre Werke sprühen vor intensiven Farben, zusammengehalten durch dunkle Konturen. Außergewöhnlich ist, dass Alice Bailly ihre Ölmalerei mit Stickarbeiten kombinierte und so den Kubofuturismus in die angewandte Kunst transformierte.

 

Kindheit und Ausbildung

Alice Bailly wurde am 25. Februar 1872 in Genf in eine gutbürgerliche, wohlhabende Familie geboren. In ihrer Kindheit nahm Bailly an mehreren Kursen für Frauen an der École des beaux Arts in Genf teil. Von 1891 bis 1895 war sie Schülerin der Künstler:innen Hugues Bovy (1841–1903) und Denise Sarkissof (1856–1920). Ein Auslandsstipendium ermöglichte ihr, ein Jahr in München zu studieren.

 

Bailly in Paris

Alice Bailly zog 1904 nach Paris und schloss sich zunächst der Schweizer Kolonie in der Rue Boissonade am Montparnasse an. Unter den Werken, die sie 1907 zur städtischen Kunstausstellung in Genf schickte, befand sich das Gemälde „Trois torses de femmes“ (1907), das der expressiven Handschrift von Vincent van Gogh und dem Synthetismus von Paul Gauguin verpflichtet war. Die Farbwahl entlehnte Bailly bereits Henri Matisses gesteigerten Kolorismus. Zwischen 1904 und 1910 orientierte sich Bailly am Fauvismus. Ihr Interesse an Landschaftsmalerei stieg, welche die berühmtesten Künstler:innen des Fauvismus in verspielter Weise darstellten, andererseits aber auch vereinfachte Formen und flächige Kompositionen verwendeten. Vor allem faszinierte sie die Verwendung leuchtender und nicht naturalistischer Farben. Bereits 1908 hingen ihre fauvistisch inspirierten Gemälde im Salon d´Automne neben weiteren Künstler:innen des Fauvismus. Im Jahr 1909 stellte sie im Salon des Indépendants, im Salon d’Automne und auf der Kunstausstellung in München aus. Bis 1926 wurden im Salon d’Automne regelmäßig Werke von ihr ausgestellt.

Ab 1910 schloss sich Alice Bailly Künstler:innen aus dem Umfeld des Kubismus an, darunter Albert Gleizes, Jean Metzinger, Marie Laurencin und Sonia Lewitska. Baillys Karriere erreichte ihren Höhepunkt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als sie sich zur Avantgarde bekannte. Das bot ihr die Möglichkeit, den kosmopolitischen Kreisen um Guillaume Apollinaire und seine Zeitschrift „Les Soirées de Paris“, um Sonia (→ Sonia Delaunay. Malerei, Design und Mode) und Robert DelaunayKees van Dongen und vielen anderen beizutreten.

1912 stellte sie zusammen mit den Kubisten André Lhote und Jean Marchand (bekannt als Mercator) erneut bei den Indépendants aus und markierte damit ihre Mitgliedschaft in dieser Bewegung. Im folgenden Jahr wurde Guillaume Apollinaire auf ihr Bild „Dans la Chapelle“ (1912) aufmerksam, das den Einfluss Robert Delaunays zeigt. Im selben Jahr näherte sie sich dem Futurismus an und nahm wieder Farbe in ihre Kompositionen auf („Fantaisie équestre de la dame rose“, ausgestellt 1913 in der Galerie Strunskaja in Zürich). Alice Bailly wandte sich 1910 vom Fauvismus ab und konzentrierte sich auf Kubismus und Futurismus. Unter dem Einfluss dieser beiden Stile der Malerei entwickelte Bailly eine neue, eigene Form des Kubo-Futurismus: Ihr Gemälde „Equestrian Fantasy with Pink Lady“ zeichnet sich durch die Darstellung von einerseits rhythmischen Bewegungen, aber andererseits auch durch die Aufteilung der Darstellung in ebene und bunte Flächen aus. Dieses Gemälde beinhaltet einerseits die Eigenschaften des Futurismus, indem Bailly rhythmische Bewegungen innerhalb eines Gemäldes darstellt, die aber andererseits auch auf kubistische Weise in ebene Flächen eingeteilt sind. Die Verwendung beider Stile und die Verwendung von unrealistischen Farben zeichnen u. a. die Radikalität von Baillys Werken aus. Sie kombinierte aber auch Ölfarben mit farbigem Papier, einem Bronzehintergrund, Glasperlen und Filz. Diese Materialkombinationen waren neu, waren jedoch markant für Baillys Gemälde. Anschließend hatte sie ihre erste Einzelausstellung im Museum Rath in Genf.

 

Bailly in der Schweiz

Im Sommer 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach, befand sich Alice Bailly bereits in der Schweiz. Sie sah sich gezwungen dort zu bleiben und neue Kontakte im Kunstbereich aufzubauen, da sich ihre Bekanntheit hauptsächlich auf Frankreich bezog. Ihren Aufenthalt empfand Bailly zunächst als isolierend und ihr Publikum als wesentlich weniger kunstinteressiert im Vergleich zu dem in Paris, da vor allem ihr Freundeskreis in ihrem Genfer Atelier La Roulette überwiegend aus Dichtern bestand. So bewegte sich sie im Umfeld von Sammler:innen und Mäzen:innen und reiste oft nach Basel, Zürich und Winterthur.

In Zürich besuchte Alice Bailly die dadaistischen Zirkel (→ Dadaismus), so veröffentlichte sie 1919 eine Ideogrammzeichnung in „391“, Francis Picabias Publikation – und setzte ihre Forschungen zwischen Kubismus und Futurismus in Ölmalerei fort. Gleichzeitig schuf Alice Bailly auch Textilkunstwerke, darunter „L’Ami Spiess“ (Wollbild, 1918).

Ab 1916 interessierte sich Alice Bailly zunehmend im Kunstverein von Winterthur, der bereits 1907 von einem Vorstand geleitet wurde, der den Bau eines weiteren Museumsgebäudes plante und sich der modernen und französischen Kunst aufgeschlossen zeigte. Bailly nahm Kontakt zu dem Vorstand auf und schlug eine Ausstellung ihrer Werke in dessen Kunstmuseum vor. Folglich war sie an elf Gruppenausstellungen zwischen 1917 und 1930 beteiligt. Besonders beachtet wurden die Ausstellung im Frühjahr 1917, in der neben Baillys Werken auch die anderer schweizerischer Künstlerinnen gezeigt wurden, sowie eine Ausstellung im März 1919, in der 26 von Baillys Gemälden ausgestellt wurden. Vom 19. Juni bis 17. Juli 1921 hatte Alice Bailly eine Einzelausstellung in der Kunsthalle Bern. Beide Ausstellungen rückten das Werk der Künstlerin ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wurden kontrovers debattiert.

 

Arthur und Hedy Hahnloser

Das Sammlerehepaar Arthur Hahnloser (1870–1936) und Hedy Hahnloser-Bühler (1873–1952) lernte Alice Bailly durch deren aktiver Beteiligung am Winterthurer Kunstleben, durch ihre Rolle als Fürsprecherin vieler Künstler:innen aber auch durch Arthurs Mitgliedschaft im Vorstand des Kunstvereins kennen. Die Hahnloser förderten vor allem Künstler:innen des Postimpressionismus (→ Sammlung Hahnloser: Meisterwerke des Postimpressionismus). Alice Baillys Werke wurden zwar kein wesentlicher Bestandteil der Sammlung des Ehepaars, jedoch entwickelte sie eine enge Beziehung zu ihnen und wurde zu deren Freundeskreis gezählt.

Zwischen 1918 und 1930 besuchte Alice Bailly häufig die Villa Flora – ein privates Kunstmuseum, das mit vielen Kunstwerken, überwiegend aus der Schweiz und Frankreich, ausgestattet war. Baillys Werke waren teilweise davon inspiriert, wie z. B. „Laine La bergère et son jardin“ (1919), das die Tochter der Hahnlosers, Lisa Hahnloser, im Garten von Ziegen umgeben darstellt. Das Gemälde „Le concert dans le jardin“ von 1920 soll an einen Nachmittag, den Bailly im Garten der Villa Flora verbracht hatte, erinnern.

 

Werner Reinhart

Im Juni 1918 lernte Alice Bailly den Industriellen und Mäzen Werner Reinhart kennen. Er stellte eine wichtige Person in ihrem Freundeskreis in Winterthur dar und erwies sich als verlässlicher Förderer, der ihr künstlerisches Schaffen förderte und sie finanziell unterstützte. Dennoch hatte Alice Bailly Geldprobleme. Zudem bezog sich ihre Beziehung zu ihm nicht nur auf ihre künstlerische Arbeit, sondern erstreckte sich auch auf privater Ebene: Reinhart teilte ihre Begeisterung für moderne Literatur und Musik und eröffnete ihr den Weg in einen Kreis von Musikern und Komponisten, die ebenfalls von ihm unterstützt wurden, darunter Arthur Honegger, Igor Strawinsky und Frank Martin. Bailly bewunderte Reinharts Sensibilität, sie war in den Kunstförderer verliebt. Diese unerwiderte Liebe beeinflusste sie bis kurz vor ihrem Tod; bis dahin schrieb sie ihm zahlreiche Briefe.

 

Bailly in Lausanne

Im Jahr 1923 zog Alice Bailly nach Lausanne, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Bailly stellte dort weiterhin regelmäßig aus und förderte moderne Künstler:innen. Alice Bailly unternahm mehrere Reisen nach Italien, die für ihre Arbeit entscheidend waren („Intérieur de cour“, 1929).

In den 1920er Jahren waren Tänzer:innen und Musiker:innen ein wichtiger Teil ihres ikonografischen Repertoires, was ihre Teilnahme im Jahr 1936 am Auftrag des Lausanner Théâtre Municipal mit „Entracte“ und „Forêt enchantée“ erklärt. Die Arbeit an den acht Wandgemälden für das Foyer des Théâtre Vidy-Lausanne führte jedoch zu einer starken Belastung der Künstlerin.

 

Tod & Nachruhm

Die kräftezehrende Arbeit am Stadttheater von Lausanne machte Alice Bailly vermutlich anfällig für Tuberkulose, an der sie dann zwei Jahre später, am 1. Januar 1938, verstarb.

Die erste Retrospektive ihres Werks fand wenige Monate nach ihrem Tod im Kantonalen Museum der Schönen Künste in Lausanne statt. Die 1946 gegründete Alice-Bailly-Stiftung unterstützt junge Schweizer bildende Künstlerinnen und Künstler finanziell.

 

Literatur zu Alice Bailly

  • Paul-André Jaccard, Alice Bailly. La Fête étrange (Ausst.-Kat. Musée cantonal  des beaux-arts de Lausanne, Lausanne) Mailand 2005.