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Bielefeld | Kunsthalle Bielefeld: Der böse Expressionismus

Die Brisanz des Expressionismus droht im Wohlgefallen zu verschwinden, weshalb die Kunsthalle Bielefeld mit „Der böse Expressionismus. Trauma und Tabu“ die wilden, antibürgerlichen Seiten der Kunstform aufdeckt.

„Wir wollen die Bürger nicht unterhalten. Wir wollen ihnen ihr bequemes, ernst-erhabenes Weltbild tückisch demolieren“, propagiert Herwarth Waldens Sturm-Zeitschrift, eine der wichtigsten Publikationen des Expressionismus. Diese Ansage ist klar und eindeutig. Es ist die Kampfansage einer neuen Zeit an die Überzeugungen und Werte der alten; das Kampfmittel ist die Kunst.

Die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts waren eine Zeit größter Herausforderungen und existenzieller Verunsicherung, geprägt von Industrialisierung und proletarischem Massenelend, Landflucht, ausufernden Großstädten und Wohnungsnot. Die rückständige, an feudalen und militaristischen Idealen orientierte Gesellschaftsordnung des wilhelminischen Kaiserreiches war mit den rasanten Veränderungen heillos überfordert, der Kollaps kam mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914.

Der Expressionismus war unter solchen Vorzeichen die Kunstform, mit der sich die Rebellion im Felde der Kultur Bahn brach; nach 1919 gewann er unter den neuen politischen Vorzeichen noch einmal an Vehemenz. Die jungen Künstler*innen, Dichter*innen, Schauspieler*innen und Tänzer*innen, selbst Bürgersöhne und -töchter zumeist, erlebten Bürgerlichkeit als Trauma und probten den Aufstand gegen rigide Normen und verlogene Konventionen. Die Künstler*innen brachen Tabus, nahmen Drogen und beendeten Prüderie und Triebverzicht, um anstelle von Verdrängung und Neurose aus den Kräften des Trieblebens die Kraft für ihre Kunst zu ziehen. Sie lebten, frei nach Nietzsche und ermutigt von Sigmund Freud, die „Umwertung aller Werte“ auf der Suche nach einem selbstbestimmten Dasein in einer Gesellschaft ohne Klassenschranken, zu ihrer Zeit nichts mehr als eine Utopie.

 

 

Einst skandalträchtige Außenseiter, sind die Expressionisten heute gesellschaftsfähig, ihre Bilder Millionen wert; als Zeugnisse pittoresker Bohème, farbenfroher Idyllen und Ansichten einer vermeintlich guten alten Zeit werden sie verharmlost und je nach Möglichkeit als dekorative, verlässliche Geldanlagen gesucht. Die Brisanz der Bilder droht im Wohlgefallen zu verschwinden. Weil die Impulse, die vom Expressionismus ausgingen und die Fragen, die er in schonungsloser Offenheit gestellt hat, bis heute relevant und wichtig sind, wollen wir an die Virulenz und die Intentionen dieser „Zeiterscheinung“ erinnern: Internationalität, Individualität, gesellschaftliches Miteinander und Toleranz stehen auch ein Jahrhundert später, und gerade heute, immer noch auf der Agenda.

 

Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler

Max Beckmann, Rudolf Belling, Otto Dix, Conrad Felixmüller, Otto Gleichmann, George Grosz, Erich Heckel, Jacoba van Heemskerck, Walter Jacob, Alexej von Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner, Emmy Klinker, Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Wilhelm Lehmbruck, August Macke, Ludwig Meidner, Paula Modersohn-Becker, Otto Mueller, Emil Nolde, Max Pechstein, Hans Richter, Christian Rohlfs, Karl Schmidt-Rottluff, Jakob Steinhardt, Hermann Stenner, Georg Tappert, William Wauer, Marianne von Werefkin, Gert H. Wollheim

Kuratiert von Jutta Hülsewig-Johnen; kuratorische Assistenz Henrike Mund.
Quelle: Kunsthalle Bielefeld

 

 

Der böse Expressionismus: ausgestellte Werke

  • Emmy Klinker, Interieur, o.J., Öl auf Leinwand, 39 x 49 cm (Von der Heydt-Museum Wuppertal)
  • Hans Richter, Visionäres Porträt. Ekstase durch Verzweiflung gefährdet, 1917, Öl auf Leinwand, 53 x 38 cm (Galerie Berinson)
  • Max Pechstein, Frauen am Waldrand, 1911, Öl auf Leinwand, 70 x 79 cm (Kunstmuseum Gelsenkirchen, © 2017 Pechstein Hamburg / Tökendorf)
  • Christian Rohlfs, Tänzerinnen, 1920, Aquarell und Gouache, 67 x 50 cm (Bielefelder Privatbesitz)
  • Erich Heckel, Stehendes Kind (Fränzi stehend), 1911, Farbholzschnitt, in Schwarz, Grün und Rot, 54,2 x 40 cm (Blatt), 37,5 x 27,8 cm (Platte) (Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen – Kupferstichkabinett)
  • Erich Heckel, Szene am Meer, 1912, Öl auf Leinwand, 96 x 121 cm (Von der Heydt-Museum Wuppertal, © Nachlass Otto Gleichmann)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Drei Akte auf schwarzem Sofa (verso) / Bergwald (recto), 1910, Öl auf Leinwand, 85 x 94 cm (Bündener Kunstmuseum Chur, Ankauf mit Beiträgen aus einer Sammlung der Kantonschüler Chur und des Bündener Kunstvereins (1969/70))
  • Ernst Ludwig Kirchner, Fränzi neben geschnitztem Stuhl (Mädchenakt), um 1910, Aquarell, 45 x 35 cm (Museum Biberach, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, Foto: Museum Biberach)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis im Morphiumrausch, 1917, Rohrfeder, Tinte auf Kreidegrundpapier, 50 x 38 cm (Brücke-Museum Berlin)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis mit Mädchen, 1914/15, Öl auf Leinwand, 60 x 49 cm (Staatliche Museen zu Berlin. 1949 erworben durch die Stadt Berlin)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Totentanz der Mary Wigman, 1926/1928, Öl auf Leinwand, 110 x 149 cm )Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Zwei Akte auf blauem Sofa, 1910-1920, Öl auf Leinwand, 50,2 x 70,5 cm (Merzbacher Kunststiftung)

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Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.
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