Hermann Nitsch (* 1938) zählte zu den umstrittensten Künstlern Österreichs und ist als wichtiger Vertreter des Wiener Aktionismus international anerkannt. Seit Ende der 1950er Jahre arbeitet er unermüdlich an seinem Konzept des Orgien-Mysterien-Theaters. Begleitet wird es von Malaktionen, für die er Farbe als Material begreift und sie in Malaktionen performativ und aktionistisch auf den Bildträger aufbringt.
Österreich / Wien: Albertina
17.5. – 11.8.2019
Die Albertina stellt die Rinnbilder Hermann Nitschs zum ersten Mal überhaupt aus und inszeniert die farbigen Räume des österreichischen Künstlers in der Basteihalle. Wer die Rolltreppe in den unterirdischen Ausstellungsraum hinunterfährt, darf sich an die Konzeption Nitschs für sein Orgien Mysterien Theater erinnert fühlen. Der Künstler arbeitet seit Ende des 1950er Jahre an der Realisation dieses auf antikem Mythos, christlichen Glauben, Theatertheorie, Erlösungskonzept mittels Katharsis Gesamtwerks. Ein Teil davon ist die Aktionsmalerei, die hier zwar losgelöst aus ihrem Kontext präsent wird, aber doch in einer Struktur, die an seine Entwürfe für eine Architektur des Orgien Mysterien Theaters erinnert. Diese stellt sich Nitsch als unterirdisches Höhlen- und Gangsystem vor, in denen verschiedene Stationen der Aktion stattfinden.
Der Gang in die Basteihalle wird bereits von Nitschs Musik begleitet und führt in einen dunkel gestrichenen Bereich, wo die früheste Aktionsmalerei Hermann Nitschs präsentiert wird. Das etwa zwei mal neun Meter lange „Blutorgelbild“ entstand zwischen dem 1. und 4. Juni des Jahres 1962. Erstmals hatte sich Nitsch ein großes Atelier zur Verfügung – und bereits genug Erfahrung mit den seit 1960 abgehaltenen, sechs kleineren Malaktionen gesammelt, um auf der Fläche von nahezu 18 Quadratmetern erstmals einen Tierkadaver und Blut zum Einsatz zu bringen. Angeregt wurde Hermann Nitsch zur aktionistischen Bildgestaltung durch die Ausstellung „Junge Maler der Gegenwart“ (1959), auf der er Werke unter anderem von Jackson Pollock, Willem de Kooning, Georges Mathieu, Josef Mikl und Wolfgang Hollegha aber auch Pierre Soulages sehen konnte. Die Befreiung der Malerei von traditionellen erzählerischen, repräsentativen und abbildenden Funktionen löste eine intensive Beschäftigung Nitschs mit den Möglichkeiten des Rinnens, Schüttens, Schmierens aus. Er kleidete die ihm zur Verfügung stehenden Räume aus und gestaltete mit seinem ganzen Körper, dem Rhythmus seiner Bewegungen, der Impulsivität von Gefühlseruptionen Leinwände, wobei der Malprozess im Vordergrund steht, dem Zufall Tür und Tor geöffnet werden. Die Inszenierung der Bilder – aneinanderstoßende Einzelwerke in Form eines sich durch die Ausstellung schlängelnden Frieses – entspricht dem Konzept des Künstlers und der Entstehungsweise der Arbeiten.
„eine starke lust überkam mich, wände und bodenflachen wieder zu bemalen. ich erlebte im heißen august dieses jahres viel freude beim beschütten, besudeln und bespritzen der flachen mit blutroter farbe. geschult durch die aktionen erreichte ich eine bei den früheren malereien nicht vorhandene unbekümmertheit, frische und spontaneitat. EIGENTLICH HABE ICH ALLES NUR VON OBEN BIS UNTEN BESCHUTTET UND BESUDELT.“1 (Hermann Nitsch)
Nach den ersten Malaktionen zwischen 1960 und 1962 unterbrach Hermann Nitsch das Arbeiten an der Leinwand, um sich erneut ganz dem Orgien Mysterien Theater zu widmen. Erst 1983 setzt das malerische Werk wieder ein. Außerdem hatte er wieder Platz, denn für eine umfassende Ausstellung im Van Abbemuseum im niederländischen Eindhoven waren alle Werke aus Schloss Prinzendorf abgeholt worden! „Nitsch hatte“, so die Kuratorin Elsy Lahner, „wieder Lust zu malen, mit Farbe zu arbeiten. Er hatte in den Jahren dazwischen schon kleinere Arbeiten gemacht, aber in den frühen 1980er Jahren legte er wieder den Schüttboden in Schloss Prinzendorf mit Stoff aus und gestaltete Rinnbilder, die zunehmend farbiger werden.“ Es handelt sich sowohl um Bilder, die am Boden als Boden-Schüttbilder und/oder an Wänden als Rinnbilder entstanden. Pastoses Farbmaterial türmt sich über dünnflüssigen Farbschlieren auf, Hände gaben die Struktur. Der direkte Kontakt mit dem Malmittel, die menschliche Dimension der Hand ist überall spürbar. Nitsch steht inmitten seiner Malerei. In der Albertina wieder zusammengefügt, entstehen farbige Räume, die in ihrem All-over ein Gefühl für die (gedankliche) Größe auch des Orgien Mysterien Theaters und der Malaktionen vermitteln.
Die 15 Serien sind in der Basteihalle nicht chronologisch angeordnet. Ziel der Kuratorin war, Kontraste und unterschiedliche methodische Vorgangsweisen zu veranschaulichen. Daher war es nötig die Räume „um die Serien herum zu bauen“, wie Lahner erzählt. Die Einzelbilder lösen sich in der Serie auf, so wie das Individuum im 6-Tages-Spiel sich mit der Gruppe verbindet. Ab 1986 nahm Nitsch das Malhemd in einigen Werken auf, seit 1989 integrierte der Künstler auch leuchtende, liturgische Farben. Die während einer Aktion als Relikte entstehenden Schüttbilder aus Blut oxidieren in einen Braun- bzw. Grauton und sind beständig dem (farbigen) Verfall alles Organischem ausgesetzt. Dem hält Nitsch seit Ende der 1980er Jahre die Leuchtkraft und Symbolkraft von Farben entgegen.
„nachdem ich im sommer 2000 in prinzendorf den ersten auferstehungszyklus malte und es mir gelang, blumenfrische farben in die substanz und das fleisch der farbe einzubinden, war mir klar, dass ich mich dieses jahr radikal mit der farbe gelb auseinandersetzen werde. es entstand der auferstehungszyklus II. nun sollte sich die eidottergelbe, fleischschleimige, spermaartige, üppige, brunstschwangere substanz der farbe weitestgehend und endgültig zu strahlendem korngelb sublimieren und verklaren. die farbe des sommerlich reifen getreides steigert sich zum blendenden licht der sonne, in das man nicht zu schauen vermag. es handelt sich jetzt nur mehr um licht, um weisses, dampfendes, dem auge nicht verständliches licht.“2 (Hermann Nitsch)
Farbenfrohe Werke wie der „Auferstehungszyklus I“ (2000), gefolgt vom gelben „Auferstehungszyklus II“ (2002), „Kathedrale der Farbe“ (2009, Malaktion in Mistelbach), „Ochensbilder“ (1994/95), die „Braune Serie“ (1994/95), „Springbrunnenbilder“ (seit 1989) sollen das „blutverschmierte“ Nitsch-Bild in der Öffentlichkeit revidieren helfen. Bemerkenswert sind die verschiedenen Herangehensweisen, die unterschiedliche Prozesse sichtbar machen.