Ausgangspunkt für die Vermessung der zeitgenössischen Landschaftsfotografie bietet für Kurator Florian Steiniger das Werk von Hamish Fulton, der seit Ende der 1960er Jahre Landschaften erwandert und seine Eindrücke mit der Kamera festhält. „Walk Work“ nennt er seine Art der Natur zu begegnen und sein Erstaunen in schwarz-weiße Bilder umzuwandeln. „Straßen und Wege“ (2004) des oberösterreichischen Fotografen Bernhard Fuchs schließen in der Ausstellung des Bank Austria Kunstforums ikonografisch daran an. Während Fulton und Fuchs sich einer direkten Fotografie bedienen, ist Andreas Gursky in Düsseldorf berühmt für seine digital überarbeiteten Bilder. Damit diagnostizieren Steininger im Bank Austria Kunstforum eine Hinwendung zu fantastischen Welten, die mehr die Sehnsüchte der Menschen als die Natur widerspiegeln.
Österreich | Wien: Bank Austria Kunstforum Wien
11.2. – 26.4.2015
Das Meer in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen, mal ölig ruhig und mal zu gigantischen Wellen aufgetürmt, ist genauso Bedrohung wie Herausforderung. Dorthin, wo Wege erst gebaut werden müssen, führen Expeditionen, zu Eisbergen, Urwäldern, kurzum fremdländischen Regionen. Hier lassen sich auch pittoreske, d. h. malerische Blicke einfangen, die in ihrer Wortgenese noch immer die Abstammung der Landschaftsfotografie von der Malerei belegt. Dass aber nicht nur Naturausschnitte und Blicke auf bzw. von Bergen, die „manipulierte Welt“ und ihre Metropolen zur Landschaftsfotografie zählen, sondern auch bereits Bilder von der Marsoberfläche, zeigen Thomas Ruffs angeeignete NASA-Fotografien aus dem Jahr 2012.
Im Herbst 1977 unternahm Hamish Fulton eine 14-tägige Wanderung rund um die Baldwin Halbinsel an der Westküste von Alaska. Dabei entstand eine Reihe von Schwarz-weiß-Fotografien. Sie sind streng horizontal komponiert. Zuerst ein Landschaftstreifen, dann folgen der Horizont und der bewölkte Himmel, alles parallel zueinander. Schön war das Wetter sichtlich nicht, als Fulton zu seinem „Walk Work“ aufbrach. Im Gegenzug zu Studienkollegen wie Richard Long, die wichtige Vertreter der Land Art wurden, wollte er keine Spuren seiner Anwesenheit hinterlassen. Der Respekt vor der Natur und vor dem Wandern führte zu einer performativen Kunstforum, die nicht nach spektakulären Eindrücken sucht, sondern auch im Alltäglichen, in der Einsamkeit der Tundra Motive aufspürt. Fultons querformatige Naturausschnitte mit ihrem unerbittlichen Horizont und bewölkten Himmel sind banal und erhebend gleichzeitig.
Diese Alltäglichkeit durchbricht Thomas Ruff seit einigen Jahren mit großem Erfolg, hatte er sich doch darauf spezialisiert, nicht mehr selbst auf den Auslöser zu drücken und Motive zu konstruieren, sondern aus den Millionen von existierenden Aufnahmen auszuwählen und durch Aneignung sowie Nachbearbeitung zu seinen Werken zu machen. Vor einigen Jahren stieß Ruff auf Fotografien von einer Saturn-Sonde und stellte die Saturn-Ringe ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Seitdem die NASA die Mars-Mission gestartet hat, fasziniert ihn die vom Reconnaissance Orbiter zur Erde gefunkten Bilder der von Kratern übersäten Oberfläche des Gestirns.
Zwischen diesen beiden Extremen – Alltägliches und noch Unbekanntes – bewegen sich aktuelle Landschaftsfotograf_innen. Sie zeigen Waldwege in Oberösterreich (Bernhard Fuchs) oder Megacities (Jordi Colomer, Thomas Struth, Balthasar Burkhard), Ausblicke von Bergen und auf Berge (Margherita Spiluttini, Walter Niedermayr, Jörg Sasse), Wellenberge (Ulrike Crespo, Sonja Braas, Julie Monaco) und Eisberge Olaf Otto Becke, Frank Thiel) sowie romantische „Postkarten-Ansichten“ (Elger Esser - Aetas, Axel Hütte). Landschaft, so Florian Steiniger, ist „stets ein Beziehungsgeflecht zwischen Mensch und Natur, zeigt sich als mentale Projektionsebene der Wahrnehmung unserer nahen und fernen Umgebung“. Das heißt, dass erst mit dem Blick des Menschen auf die Natur diese zur Landschaft wird.
Dass Landschaftsbilder wie auch andere künstlerische Werke erst kognitiv verarbeitet werden können, wenn ihre Entstehungsgeschichten dokumentiert sind, klingt nach einer Binsenweisheit. Die Attraktivität, Hässlichkeit, Größe ihrer dargestellten Landschaftselemente lässt diese Erkenntnis jedoch manchmal vergessen. Thomas Struths Bild des „El Capitan“ aus dem Yosemite National Park (1999) oder Andreas Gurskys „James Bond Island“ sind ohne Kenntnis der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Regionen doch einfach nur ein Berg oder eine Inselgruppe im Süden Thailands. Erst ihre Hauptrollen in der amerikanischen Identitätsfindung (El Capitan) und Filmindustrie (Khao Phing Kann, die 007-Insel) machen sie zu wiedererkennbaren, mit Bedeutung aufgeladenen Orten. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gursky seine Fotografien am Computer perfektioniert bzw. kompiliert. Die Kompositionen werden mit weiteren Versatzstücken angereichert, so als würde er perfekte Landschaften malen oder erschaffen wollen. Dass sich der deutsche Fotograf auch für die Inselprojekte in Dubai interessierte, liegt auf der Hand.
Auffallend an den künstlerischen Selbstdefinitionen ist, dass einige Fotografen aus der so genannten Düsseldorfer Photoschule, wie Jörg Sasse und Elger Esser, sich nicht als herkömmliche Künstlerfotografen sehen, sondern als Schöpfer von Bildern, wobei sie sich des Mediums Fotografie bedienen. „Ich benutze Fotografie als bilderzeugendes Mittel“1, meinte etwa Sasse, um zu betonen, dass es um die Arbeit nach dem Drücken des Auslösers geht. Denn wer hätte geglaubt, dass über die romantische Steinbrücke ein mit Panzern beladener Güterzug wirklich von einer alten Dampflokomotive gezogen wird? Für ihn geht es um das Offenlegen von Projektionsflächen und Sehnsüchten, aber auch deren Enttäuschungen. Fotografie wurde für ihn Mittel zum Zweck, um den Effekt von Täuschung und Enttäuschung möglichst zu perfektionieren.
Julie Monaco simuliert in ihren Computerbildern stürmische Seestücke, und Sonja Braas fotografiert Dioramen in Naturkundemuseen. In seinen „neo-piktorialistischen Fotografien“ (Steiniger) begab sich Elger Esser sogar auf die Spuren von Gustave Courbet und Claude Monet. Ihre Auseinandersetzung mit der traditionellen Malerei oder besser deren Blick auf Landschaften, wenn auch im Gewand der Fotografie, lässt die Frage nach den neuen Riesenformaten in der Fotografie aufkommen. Nicht nur die technologische Entwicklung seit den 1980er Jahren beflügelt Fotograf_innen mit den Möglichkeiten des Großformats, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem Tableau und den Sehnsuchtsräumen (romantischer) Landschaftsaneignungen. Thomas Ruffs „Sterne / Stars 3.38 00h 46m/-30°“ (1992) beendet dann auch sinnvollerweise die Fotostrecke im Katalog. Die Textbeiträge von Florian Steininger und Lisa Ortner-Kreil werden ergänzt durch zwei Textauszüge vom Schriftsteller Christoph Ransmayr (aus „Der fliegende Berg“) und vom Soziologen Roland Lippuner, der sich 2010 mit der Schrift „Umwelt und Gesellschaft. Zur Geographie einer strukturellen Kopplung“ habilitierte.
Der pittoreske Blick / Der Berg / Die Expedition / Straßen und Wege - Bernhard Fuchs / Walk Work - Hamish Fulton / Gefährliche Brandung und beruhigte See / Manipulierte Welt / Metropolis / Mission to Mars
Olaf Otto Becker (geb. 1959 in Lübeck-Travemünde, Deutschland, lebt und arbeitet in München)
Sonja Braas (geb. 1968 in Siegen, Deutschland, lebt und arbeitet in New York)
Balthasar Burkhard (1944–2010, Bern)
Jordi Colomer (geb. 1962 in Barcelona, lebt und arbeitet in Paris und Barcelona)
Ulrike Crespo (geb. 1950 in Fulda, Deutschland, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main)
Elger Esser (geb. 1967 in Stuttgart, lebt und arbeitet in Düsseldorf)
Bernhard Fuchs (geb. 1971 in Haslach an der Mühl, Österreich, lebt und arbeitet in Düsseldorf)
Hamish Fulton (geb. 1946 in London, lebt und arbeitet in Canterbury)
Andreas Gursky (geb. 1955 in Leipzig, lebt und arbeitet in Düsseldorf)
Axel Hütte (geb. 1951 in Essen, lebt und arbeitet in Düsseldorf)
Julie Monaco (geb. 1973 in Wien, lebt und arbeitet in Wien)
Walter Niedermayr (geb. 1952 in Bozen, lebt und arbeitet in Bozen)
Thomas Ruff (geb. 1958 in Zell am Harmersbach, Deutschland, lebt und arbeitet in Düsseldorf)
Jörg Sasse (geb. 1962 in Bad Salzuflen, Deutschland, lebt und arbeitet in Bahnitz/Milower Land, Deutschland)
Margherita Spiluttini (geb. 1947 in Schwarzach, Salzburg, lebt und arbeitet in Wien)
Thomas Struth (geb. 1954 in Geldern, Deutschland, lebt und arbeitet in Berlin und New York)
Frank Thiel (geb. 1966 in Kleinmachnow, Deutschland, lebt und arbeitet in Berlin)
Ingried Brugger, Florian Steininger (Hrsg.)
mit Beiträgen von I. Brugger, H. Eipeldauer, R. Lippuner, L. Ortner-Kreil, Ch. Ransmayr, V. Rudorfer, F. Steininger
160 Seiten, dt./engl.
Wien 2015
ISBN 978-3-86984-520-3
Verlag für moderne Kunst
Florian Steininger, Landscape in my Mind, S. 10–25.
Christoph Ransmayr, Nachrichten aus der Höhe / News from the Heights, S. 110–113.
Lisa Ortner-Kreil, Tatort Stadt. Zur Inszenierung von urbanem Raum in der Fotografie / Crime Scene City. On staging urban spaces in photography, S. 114–123.
Roland Lippuner, Imagination und Erleben von Landschaft / Imagining and Experiencing Landscapes, S. 124–129.
Textbeiträge zu den Künstlerinnen und Künstlern von / Contributions to the artists by Ingried Brugger, Heike Eipeldauer, Lisa Ortner-Kreil, Veronika Rudorfer und / and Florian Steininger, S. 130–155.