Im Zentrum der Ausstellung „Artemisia“ steht das jüngst erworbene „Selbstporträt als Heilige Katharina von Alexandria“. Erstmals wird diese Entdeckung des Jahres 2017 neben eng verwandten Werken von Artemisia Gentileschi ausgestellt.
London | National Gallery of Art, Sainsbury Wing4.4.–26.7.2020
3.10.2020 – 24.1.2021
Kaum vorstellbar, dass eine Sechzehnjährige so ein Bild malen kann! Die Rede ist vom frühesten signierten und datierten Werk Artemisia Gentileschis, das in seiner Komposition und Ausführung atemberaubende Gemälde „Susanna und die beiden Alten“ aus den Kunstsammlungen des Graf von Schönborn in Pommersfelden. Das 1,7 x 1,21 Meter große Werk trägt die Datierung 1610, was es als frühes Meisterwerk der offenbar frühreifen römischen Malerin ausweist. Artemisia zeigt die keusche, aber schöne Susanna aus dem Alten Testament, wie sie sich gegen die lüsternen Alten zur Wehr setzt. Und doch ist der nackte Körper nicht nur den Blicken der beiden Richter ausgesetzt, sondern wird auch unserem Zugriff preisgegeben. Die Bekleideten stehen im heftigen Kontrast zur ungeschützten Susanna, die sich voll Not wegdreht. Das Bad im Vordergrund, in das die alttestamentarische Heldin ihren Fuß taucht, wird zum Nebenschauplatz. Das harte Licht und die kühlen Farben steigern den dramatischen Moment. Artemisia, die Tochter des Caravaggio-Anhängers Orazio Gentileschi, zeigt sich als unerbittliche Dramaturgin einer grausamen Geschichte von weiblicher Ausgeliefertheit. Dass ein so junges Mädchen, die Szene so direkt und schonungslos in einem großformatigen Bild darstellt, lässt auf eine hohe Einfühlungskraft der Schöpferin schließen. Und mehr noch: Das erste nachweisbare Bild von Artemisia Genteilschi zeigt einen weiblichen Akt, womit sie sich in die hohe Kunst der Historienmalerei einschreibt.
Woher die kam, lässt sich kaum vermuten. Die 1593 in Rom geborene Artemisia hat ihre Mutter früh verloren. Als Mädchen durfte sie nicht unbegleitet aus dem Haus. Da ihr Vater sein Atelier im Haus hatte, war sie vermutlich eng in die Produktion seiner Werke eingebunden und gleichzeitig, wenn Modelle, Künstlerfreunde und Käufer kamen, ausgesperrt. Vermutlich begann ihr Vater sie mit zwölf Jahren auszubilden. Dass Artemisias frühe Werke – so nicht signiert – daher jenen ihres Vaters ähneln, liegt auf der Hand. So teilen sich Vater und Tochter so manche Pose eines Modells, bzw. sie nutzt eine Pose für verschiedene Personen, wie ihre beiden Varianten der schlafenden „Kleopatra“ (um 1611/12) und der „Danaë“ (um 1612) belegen.
Die Ruhe der beiden Protagonistinnen steht in diesem Fall im harten Kontrast zum Leben der Heranwachsenden: Anfang Mai 1611 wurde sie von einem Malerkollegen ihres Vaters, Agostino Tassi, vergewaltigt. Ein Jahr später fand der Gerichtsprozess wegen der „Defolration“ statt, und Artemisia musste öffentlich aussagen. Obschon der Vergewaltiger schuldig gesprochen und der Stadt verwiesen wurde, verlief seine Karriere ungebrochen. Artemisia heiratete den Bruder ihres Anwalts, den Florentiner Künstler Tochter Pierantonio Stiattesi, und übersiedelte mit diesem in die Toskana. Am Hof der Medici erst entwickelte sich die Hochbegabte zu einer gefeierten Künstlerin und anerkannten Kreativen.
Zur selbständigen Künstlerin entwickelte sich Artemisia Gentileschi während ihres Aufenthalts in Florenz. Als sie in der Stadt der Medici ankam, war Artemisia 19 Jahre alt und wenig gebildet. Als sie 1620 wieder zurück nach Rom ging, hatte sie nicht nur Lesen und Scheiben gelernt, sondern auch berühmte Freunde wie Galileo Galilei und Michelangelo Buonarroti den Jüngeren gefunden.
Mit dem 1612/13 kurz vor ihrer Abreise in Rom gemalten und 1613/14 in Florenz wiederholten Historiendrama „Judith enthauptet Holofernes“ aus dem Museo e Real Bosco di Capodimonte in Neapel bzw. den Uffizien in Florenz führt die Londoner National Gallery in die erste Reifephase der Malerin ein. In dem dramatischen Hochformat zeigt Artemisia mit kühler Hand, wie die jugendliche Judith ihrem Widersacher Holofernes den Kopf auf das Bett drückt, um, tatkräftig unterstützt von ihrer Dienerin, mit einem Kurzschwert besser ebendiesen Kopf vom Rumpf zu trennen. Tiefrotes Blut fließt das weiße Laken herab. Im Katalog stellt Katalogautorin Letizia Treves dieser Komposition (mit Vorbehalt) die noch deutlich ruhigere Enthauptung von Caravaggio voran. Dieser hatte in einem Querformat die alttestamentarische Heldin von ihrem Widersacher kompositionell deutlich getrennt. Judith führt ihre Tat zwar mit starker Hand und Entschlossenheit, aber auch einem Stirnrunzeln aus. Artemisia hingegen lässt ihre Judith körperbetonter agieren. Die vermutlich wenig später entstandene „Judith“ zeigt die Szene noch dramatischer, die Kostüme und Geschmeide noch kostbarer (dem Florentiner Geschmack folgend), die Lichtführung noch kontrastreicher. Immer wieder wird die Darstellung mit der Biografie der Künstlerin in Verbindung gebracht; ihre Vergewaltigung und der beschämende Prozess prägen, wie Elizabeth Cohen hervorstrich, unsere Wahrnehmung der Künstlerin.1 Doch soll man nicht der Versuchung unterliegen, das (gesamte) Werk der Künstlerin ihrer Lebenserfahrung zuzuschreiben – und sie dadurch ausschließlich als Opfer und Überlebende zu charakterisieren. Obschon Artemisia Gentileschi für die Bevorzugung von kämpferischen Heldinnen bekannt ist, arbeitete sie gleichzeitig auch an religiösen Themen, wie die „Madonna mit Kind“ (1613/14, Polo Museale del Lazio – Galleria Spada, Rome) in London belegt.
Neben den dramatischen religiösen Historien widmete sich Artemisia Gentileschi ab 1613 in Florenz dem Selbstporträt. In der National Gallery sind vier Werke aus den 1610er Jahren. Nach dem erst jüngst in einer Privatsammlung wiederentdeckten „Selbstporträt als weibliche Heilige“ (um 1613/14) setzte sich die Malerin im „Selbstporträt als Lautenspielerin“ (um 1615/17, Wadsworth Atheneum Museum of Art, Hartford), dem jüngst von der National Gallery in London erworbenen „Selbstporträt als hl. Katharina von Alexandrien“ (um 1615–1617) und einer weiteren Darstellung der „Hl. Katharina von Alexandrien“ (um 1615–1617) aus den Uffizien überzeugend in Szene. Die Künstlerin dreht sich selbstbewusst zum Publikum und aus den Bildern heraus. Sie setzte Licht- und Schatteneffekte gekonnt ein, obschon sie erst in ihren frühen 20ern war. Ihre technisch brillante Malerei zeigte sie in ausgesuchten Gewändern, die den höfischen Geschmack ihrer Florentiner Zeitgenossen widerspiegeln. Der Florentiner Aufenthalt bedeutete für Artemisia sich zu einer reifen Künstlerin zu entwickeln. Am 19. Juli 1615 wurde die Gentileschi als dann auch als erste Frau in die Accademia delle Arti del Disegno [Akademie der Zeichenkünste] aufgenommen! Gleichzeitig bekam sie fünf Kinder, zwei Söhne und drei Töchter, von denen allerdings nur Prudenzia Stiattesi das Erwachsenenalter erreichte. Die Ehe mit ihrem Mann verlief nicht problemlos, was u.a. an seinem Schuldenmachen lag, woraufhin Artemisia eine Affäre mit dem gut vernetzten und brillanten Verwalter Francesco Maria Maringhi begann.
Während der 1620er und 1630er Jahre lebte Artemisia Gentileschi zuerst in Rom (1620–1626), dann in Venedig (1627–1630) und Neapel (1630–1638). Die nunmehr berühmte Künstlerin kehrte vermutlich aus wirtschaftliche Gründen Florenz den Rücken und ließ sich 1620 erneut in ihrer Heimatstadt nieder. Briefe von Artemisia selbst oder auch ihrem Ehemann an Marighi dokumentieren, dass sie vielbeschäftigt und renommiert war, obwohl ihr weibliches Geschlecht die Auftraggeber davon abhielt, öffentliche Aufträge an sie zu vergeben. Obwohl Artemisia die berühmteste Malerin ihrer Zeit war, wurde sie von römischen Künstlerkreisen und kirchlichen Auftraggebern dennoch nicht vollumfänglich anerkannt. Artemisia Gentileschi führte keine Fresken aus noch malte sie Altarbilder. Zu ihren wichtigsten Künstlerfreunde zählten Maler aus den Niederlanden und Frankreich, die eigene Künstlerkolonien in der Ewigen Stadt ausprägten. Von Simon Vouet (1590–1649) ist ein Porträt der Künstlerin zu sehen. Ihr Bildnis wurde in Medaillen und Kupferstichen verbreitet; ja, ihre rechte Hand sogar von Pierre Dumonstier II (Dumonstier leNeveu, um 1585–1656) gezeichnet.
Dass sich Artemisia Gentileschi den Wünschen der Auftraggeber anpasste, zeigen ganzfigurige Porträts aber vor allem die inzwischen allgemein anerkannte Version der „Susanna und die beiden Alten“ von 1622 aus der Burghley House Collection. Die Komposition weicht sowohl in der Auffassung des weiblichen Aktes (nun orientiert an der hellenistischen Skulptur der „Hockenden Venus“) als auch im Stil von der frühen Variante ab. Das hat in der Vergangenheit zu An- und Abschreibungen des Gemäldes an Artemisia geführt, was sich in den letzten Jahren zugunsten der Malerin konsolidiert hat. Die stilistische Neuorientierung Artemisias in den frühen 1620er Jahren könnte mit der Inthronisation von Papst Gregor XV. Ludovisi (1554–1623) zu tun gehabt haben. Der Papst aus Bologna holte Guercino nach Rom (1621), aber auch der Bologneser Barockklassizismus von Domenichino und Annibale Carracci wird im Katalog als Inspirationsquelle angeführt. Wenn es stimmt, dass Kardinal Ludovico Ludovisi (1595–1632), der Neffe des Papstes, die „Susanna“ in Auftrag gegeben hat, dann wollte die Malerin mit der Orientierung an Bologneser Künstler vermutlich ihre Versatilität demonstrieren und gleichzeitig dem kulturellen Background des Kunden entgegenkommen.
Artemisia Gentileschi bewies auch in den folgenden Jahren eine stilistische Heterogenität, die auf eine kenntnisreiche Malerin rückschließen lassen, die sich nicht von einer Orientierung am Caravaggismus bestimmen lassen wollte. Zu diesen überraschenden Werken zählt u.a. eine signierte und auf 1630 datierte „Verkündigung“ (Museo e Real Bosco di Capodimonte, Neapel). Das Bild dürfte Artemisias frühester Auftrag für ein Altargemälde sein, misst die Leinwand doch 257 x 179 Zentimeter. Da nichts über die Umstände seiner Entstehung bekannt ist, ist die „Verkündigung“ zwar das früheste Dokument von Artemisia in Neapel, dennoch gibt das Bild – u.a. mit den äußerst traditionskonformen Engelsköpfen – mehr Rätsel auf als es Fragen beantwortet.
Für nahezu ein Vierteljahrhundert ließ sich Artemisia Gentileschi in Neapel nieder. Dort erhielt sie mit dem „Hl. Januarius im Amphitheater in Pozzuoli“ (um 1635–1637, Basilica San Procolo, Pozzuoli, Neapel) ihren ersten nachweislichen Auftrag für ein Altarbild (über dem Chorgestühl). In Neapel etablierte sie eine Werkstattpraxis, die auch andere Spezialisten einschloss: Die Figuren malte Artemisia selbst, Palastarchitekturüberantwortete sie Viviano Codazzi, Himmel und Landschaftshintergrund wurden von Domenico Gargiulo (genannt Micco Spadaro) gestaltet, wie für „David und Bathsheba“ (um 1636/37, Museum Purchase, Schumacher Fund) vermutet wird.
Eines der spätesten Werke Artemisias entstand in London und befindet sich heute noch in der Royal Collection von HM Queen Elizabeth II: „Selbstporträt als die Allegorie der Malerei (La Pittura)“ (um 1638/39 → Artemisia Gentileschi, Selbstporträt als die Allegorie der Malerei). Das Gemälde zeigt (vermutlich) die Malerin, während sie malt. Die Leinwand bleibt im Dunkeln, Artemisia resp. die Allegorie der Malerei beugt sich nach vor und schaut nach links. Was sie sieht, zeigt sie uns nicht. Die Identifikation der Dargestellten mit Artemisia wird mit Hinweis auf das Alter der Mittvierzigjährigen Malerin immer wieder in Frage gestellt. Vielleicht zeigt das Werk auch Prudenzia, ihre Tochter, die sie ebenfalls zur Malerin ausbildete. Wie auch immer: Die selbstreferenzielle Note des Bildes ist offensichtlich.
Den Abschluss der Gentileschi-Ausstellung in London bildet die dritte Version von „Susanna und die beiden Alten“ aus dem Jahr 1652 (Polo Museale dell’Emilia Romagna). Es ist das letzte bekannte datierte Werk der Malerin, das sie im Alter von nahezu 60 Jahren geschaffen hat. Wieder einmal kehrte Artemisia zu dem alttestamentarischen Thema zurück, mit dem sie ihr Werk 1610 begonnen hatte. Doch im Vergleich zu ihrem Jugendwerk zeigt sie nun die Szene in einem Querformat. Aus der bedrückenden Nähe wird nun eine auseinandergezogene Komposition, was sie weniger bedrohlich erscheinen lässt. Artemisia lässt Susanna emotional und physisch reagieren – und zeigt dabei weniger nackte Haut der Protagonistin als zuvor. Die Farben sind tonal und kühl, einzig der Umhang des kahlköpfigen Richters leuchtet in Blau. Der stechende Realismus der frühen Artemisia ist einer weichen Malerei gewichen.
Ende des 18. Jahrhunderts hing das Gemälde im Florentiner Palast von Averardo de’Medici (heute. Palazzo Medici-Riccardi), wo es Alessandro da Morrona sah und beschrieb. Erst kürzlich entdeckte Adelina Modesti das Werk und identifizierte es. Heute gilt es wiegesagt als letzte bekannte Komposition der Malerin, unterstützt von Onofrio Palumbo, den ihr Biograf Bernardo de Dominici als ihren Schüler beschrieb. Rechnungen aus diesen Jahren belegen die Zusammenarbeit zwischen den beiden. Am Ende ihrer über vierzigjährigen Karriere war die Künstlerin genauso gefragt, wie in den Jahren zuvor. Obschon nicht geklärt ist, ob Bilder wie diese für den freien Markt oder auf Auftrag entstanden sind, lässt sich feststellen, dass Artemisia Gentileschi offen gegenüber stilistischen Veränderungen und Ausdruck blieb. Wer nur die frühen, hochdramatischen Werke der Künstlerin kennt, wird ihr nicht gerecht. Allein schon durch den konzisen Überblick gelingt es Letizia Treves von der National Gallery in London die malerische Welt einer der berühmtesten Künstlerinnen des Barock zugänglich zu machen und gleichzeitig zu überraschen!
Die Ausstellung „Artemisia“ vereint rund 35 Gemälde der italienischen Barockkünstlerin aus öffentlichen und privaten Sammlungen aus der ganzen Welt. Die Ausstellung bietet einen äußerst selektiven Überblick über Artemisias Werdegang - von ihrer Ausbildung in Rom, wo sie unter Anleitung ihres Vaters das Malen erlernte, über ihre prägenden Jahre in Florenz bis zu ihrer Rückkehr nach Rom einige Jahre später. Die Ausstellung endet mit Artemisias kurzer Reise nach London zu ihrem sterbenden Vater und der Eröffnung ihres Ateliers in Neapel, in dem sie die letzten 25 Jahre ihres Lebens lebte.
Zu den wichtigsten Leihgaben gehört Artemisia Gentileschis „Selbstporträt als Lautenspielerin“ (um 1615–1618) aus dem Wadsworth Atheneum Art Museum in Hartford, Connecticut, das ungefähr zur selben Zeit wie das Gemälde der National Gallery entstand.