Vielleicht ist die Vertikale Galerie bei so manchen Museumsbesucher_innen noch ein „geheimer Platz“, wo man zwar gratis aber nur mit Führung und gegen Voranmeldung Einlass findet. Die VERBUND-Zentrale am Hof hat sich aber mit den vergangenen Ausstellungen etwa über Brigit Jürgenssen (2009), zum aufregenden Frühwerk von Cindy Sherman (2012) und der geplanten Schau über Francesca Woodman (Herbst/Winter 2013) bereits einen unumstößlichen Platz in der Wiener Ausstellungsszene erarbeitet. Die seit 2004 von Gabriele Schor aufgebaute Sammlung ist inzwischen für ihre Maxime „Tiefe statt Breite“ bekannt. Zentrale Sammelschwerpunkte bilden die feministische Avantgarde und die Themen „Räume und Orte“ in der Kunst seit 1970. Nach Ausstellungen in Istanbul und Rom bringt diese Schau in Wien nun zwölf Künstler_innen unter dem Titel „open spaces | secret places“ zusammen. In performativen Arbeiten, in Fotografien und Film aber auch skulpturalen Werken erschlossen sich Künstler_innen der 70er Jahre soziale und räumliche Beziehungen von Orten.
Österreich | Wien: Am Hof 6a, VERBUND-Zentrale, Vertikale Galerie
13.3. - 17.7.2013
Besichtigung nur mit Führung und gegen Voranmeldung
Eleanor Antin (* 1935) fand 1970 eine neue Form, wie sie ihre Kunst fernab von Galerien und open spaces unter die Leute bringen konnte. „100 Boots“, 50 Paar schwarze Gummistiefeln, wurden ihre Protagonisten, die sie auf Abenteuerreise schickte und deren Erlebnisse sie in Form von 51 Schwarz-Weiß-Foto-Postkarten ungefragt an 1000 Adressat_innen sandte. In Anlehnung an die Fortsetzungsromane von Charles Dickens und Dostojewski arbeitete die Konzeptkünstlerin mit erzählerischen Mitteln, variierte die Geschwindigkeit der Zusendungen je nach Verlauf der Geschichte und inszenierte ihre Gummistiefel als Helden des Alltags. Der am 31.März 1971 begonnene Versand endete erst im Juli 1973, nachdem die „100 Boots“ im New Yorker Museum of Modern Art eingeladen waren und sich innerhalb von zwei Jahren den Weg vom Strand in Südkalifornien in das wichtigste Museum an der Ostküste erkämpft hatten.
Der in Mexico lebende Belgier Francis Alÿs (* 1959 → Francis Alÿs / Avery Singer) erzählt in der 9-Kanal-Video-Installation „Choques“ (2005-2006) von seinem Zusammenprall mit einem Hund. Auf jedem Stockwerk der Ausstellung trifft man auf einen Monitor, auf dem der Zusammenstoß aus einem anderen Blickwinkel gezeigt wird – inklusive den des Hundes. Wenn man anfangs noch an einen Zufall denkt (außer man hat den klatschenden Mann zum Schluss als Aufnahmeleiter erkannt), wird spätestens ab der zweiten Station klar, dass es sich nicht um den Mitschnitt von einer Überwachungskamera handeln kann. Die Besucher_innen wissen nun schon vor dem Künstler, dass er an der Hausecke über einen Hund stolpern wird. Manche könnten dies belustigend finden, denn Francis Alÿs arbeitet mit Wiederholungen, um diesen Effekt des Slapsticks zu erreichen. Die Frage, aus welcher Perspektive die Geschichte am besten erzählt oder die Performance am besten festgehalten wird, muss dann jedeR für sich klären.
Eine ähnliche Methode – ein Spiel zwischen Zufall und Inszenierung – nutzt auch der kanadische Fotokünstler Jeff Wall (* 1946) in seinen riesigen Leuchtkastendias. „Boys Cutting through a Hedge“ (2003) zeigt zwei Jugendliche, wie sie sich ihren Weg durch eine Hecke schlagen, um mit ihren Sporttaschen eine Abkürzung über einen Friedhof zu machen. Wenn das Bild auch wie ein Schnappschuss wirkt, so ist der Darstellung doch ein langer Entstehungsprozess incl. Casting der Sikhs an der benachbarten Schule vorangegangen. Sich einen Weg durch das gepflegte Grün zu bahnen, steht für Jeff Wall für die „inoffizielle Nutzung des Ortes“. Obwohl der Friedhof Teil des öffentlichen Raumes ist, wird er selten mit den aktuellen Dringlichkeiten des Lebens in Verbindung gebracht.
Zu den „unsichtbaren Orten“ zählen u.a. auch öffentliche Toilettenanlagen. Tom Burr (* 1963) machte 1994 eine Serie von geschlossenen WCs mit dem Titel „Unearthing the Public Restroom“. Für ihn waren diese Häuschen Symbole der Privatheit im öffentlichen Raum, die aber immer auch mit Kriminalität, fehlender Hygiene und geheimer (Homo-)Sexualität verbunden waren. Ähnlich den Typologien von Bernd und Hilla Becher zeigt Burr nicht nur die verschiedenen architektonischen Ausprägungen der Toiletten, sondern auch deren Schließung - wohl aus oben genannten Gründen. In symbolischer Form macht er das alte Plumpsklo wieder zugänglich, wenn er für „Split“ (2005) einen solchen Dreisitzer rekonstruiert und in Manier von Gordon Matta-Clark auseinanderschneidet. In ironischer Weise geht Burr jedoch über eine reine Rekonstruktion hinaus, da sein Toilettenhäuschen keine Tür besitzt! Das Betreten ist nur über den Spalt möglich, die Privatheit, die auch aufgrund der Mehrsitzigkeit keine ist, wird noch einmal verunmöglicht.
Bernd (1931-2007 und Hilla Becher (* 1934) zählen zu den Pionieren der konzeptuellen Fotografie der 70er Jahre und sind in der VERBUND Sammlung mit mehreren Werken vertreten. 1970 prägten sie für ihre Arbeitsweise den Begriff der Typologie. Sie fotografierten ihre Objekte auf sachliche Weise und hängten die Abzüge in rasterförmigen Clustern. Sie interessierte, wie Hilla Becher in einer Podiumsdiskussion in der Albertina vor wenigen Wochen unumwunden zugab,1 wie man „Ordnung in das Chaos“ der unzähligen Aufnahmen bringen könne. Sie suchten Kategorisierungen, formale Entsprechungen, arbeiteten mit Spannungen und vergleichen Formen der „Anonymen Skulpturen“, wie sie u.a. die „Gasbehälter“ (1965-2001), Fördertürme, Industrieanlagen und Fachwerkshäuser nannten. Die Buchentwürfe in der Ausstellung zeigen, wie Bernd und Hilla Becher die Seiten unter ein Thema stellten und dann aus unterschiedlichen Aufnahmen der 60er Jahre Typologien aufbauten.
Der in New York lebende, in Dänemark geborene Künstler Joachim Koester (* 1962) rekonstruiert und dekonstruiert in seinen Arbeiten gleichermaßen kanonische Werke der konzeptuellen Fotografie der 70er Jahre aber auch historisch bedeutende Orte. Für „The Kant Walks“ (2003-2004) näherte er sich dem berühmten Philosophen Immanuel Kant über dessen tägliche Spaziergänge an. Der deutsche Denker soll sein gesamtes Leben seine Geburtsstadt Königsberg (heute: Kaliningrad) nicht verlassen und sein Werk auf den einsamen, täglichen Spaziergängen geschaffen haben. In der siebenteiligen Fotoserie zeigt Koester einige mögliche Standpunkte der rekonstruierten Routen. Da Königsberg im 2. Weltkrieg nahezu völlig zerstört und unter dem Namen Kalinigrad z.T. wieder aufgebaut wurde, sind die Fotografien von Plattenbauten und verfallender Architektur bestimmt. Die herbstliche Stimmung und die wetterbedingt trübe Atmosphäre tragen dazu bei, keine anheimelnden, romantischen Gefühle aufkommen zu lassen. Die Schwierigkeit zu glauben, dass Kant diesen Ort wirklich nie verlassen haben soll, findet in den Aufnahmen deutlichen Wiederhall.
In sechs Gegenüberstellungen zeigt Koester in „histories“ (2003-2005), wie die Plätze und Orte auf berühmten Fotografien der 70er Jahre heute aussehen. Er wählte für diese Serie Aufnahmen von Ed Ruscha, Robert Adams, John Smithson, Gordon Matta-Clark, Hans Haacke sowie Bernd und Hilla Becher. Letztere hatten beispielsweise eine in den 30er-Jahren berühmte Förderungsanlage abgelichtet, die heute nur mehr als Industrieruine an die alten Zeiten erinnert. Erstaunlich wenig haben sich die urbanen Situationen verändert, wenn auch so manche Modernisierung die Fassaden und Wortwahl beeinflusste.
Einen neuen Blick auf Ausstellungsräume ermöglichen die Fotografien von Louise Lawler (* 1947), wenn sie Situationen aus dem Auf- und Abbau von Ausstellungen zur Verfügung stellt. Von einem Dokumentieren der Arbeit kann jedoch nicht im üblichen Sinn gesprochen werden, nutzt Lawler doch enge Bildausschnitte, um Kunstwerken ihre Aura zu nehmen und sie als nichtbeachtete Gebrauchsgegenstände zu zeigen (→ Louise Lawler. She’s Here).
Kurz vor ihrem Untergang machen Theresa Hubbard (* 1965) / Alexander Birchler (* 1962) alte Kinos und deren Technik zum Thema einer Fotoserie. Hubbard nimmt in den Aufnahmen verschiedenen Rollen ein, spielt die gelangweilte Kassiererin, die Filmvorführerin, die Putzfrau etc. immer mit melancholisch verlorenem Blickt. Sie wirkt seltsam stilllebenhaft, unbeweglich. Das alte Kino mit all seinen Utensilien bis hin zu den Filmrollen aus Zelluloid, das am Boden zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt ist, steht vor dem Aus. Die weibliche Figur erinnert an Protagonistinnen von Edward Hopper: Leere, Räume, Licht bzw. Dunkelheit dienen dazu, die „Gefangenheit“ der Protagonistin zu schildern, die ihrerseits dem sterbenden Analogkino ein Bild verleiht.
Raum denken, ist höchst abstrakt und daher schwierig, weshalb das Umgrenzen von Flächen und Volumina mit Hilfe von Linien eine häufig geübte Praxis ist. Der als Architekt ausgebildete Gordon Matta-Clark (1943-1978) ging mit seinem Projekt „Splitting“ (1974) in die Kunstgeschichte ein. In viermonatiger Arbeit räumte er ein ganzes Haus aus, spaltete es und senkte eine Hälfte um einige Grad ab. Zum Schluss schnitt er auch noch die vier oberen Ecken aus, um sie als Skulpturen auszustellen. Das Eigenheim, das seine Funktion als Schutz und Aufbewahrungsstätte verloren hat, strahlt auf den Fotografien in dem 10-minütigen Super-8-Film eine seltsame Ruhe aus. So als ob es aus dem Tritt gekommen wäre. Schwindel und Angst sind dann die Steigerungen in „Conical Intersect“ (1975), für die Matta-Clark Kegel in ein Pariser Abbruchhaus schnitt.
Während Gordon Matta-Clark eine neue Raumwahrnehmung über die Dekonstruktion von existierenden Gebäuden erreichte, beschritt Fred Sandback (* 1943) ab ca. 1966 in der Skulptur einen neuen Weg. Er wollte Plastiken ohne Inneres und Oberflächen schaffen. Sein Wunsch, mit Masse und Gewicht zu brechen, erinnert an die gleichzeitig entstandenen „Silver Clouds“ von Andy Warhol (→ Wolken in der Malerei); Sandbacks Lösung ist jedoch sehr viel minimalistischer, lädt weniger zum Spielen mit den Objekten als zum Nachdenken. „Untiteled (trapezoid“) (1968/1985) ist eine jener Raumzeichnungen aus lachsrosafarbenem Acrylgarn, das den Raum in seiner Struktur überhaupt nicht und in seiner Erscheinung nur minimal verändert. Der Faden definiert Felder – unterschiedliche in verschiedenen Richtungen und neue Räume. Sandbacks Arbeiten reflektieren das philosophische Paradoxon des Raumes – immer anwesend und dennoch nicht sichtbar zu sein.
Die Ausstellung „open spaces | secret places. Werke aus der SAMMLUNG VERBUND“ bringt eine geglückte Auswahl an bereits klassischen Werken der Kunstgeschichte und jüngeren Arbeiten zusammen. Fred Sandback widmet sich dem leeren Raum, macht ihn über einen subtilen Eingriff wenn schon nicht sichtbar, so doch über eine Gliederung vorstellbar. Dieser abstrakten Idee stehen Gordon Matta-Clark und Louise Lawler mit der konkreten Dekonstruktion von Räumen gegenüber. Die Erinnerung an Orte, das Einbeziehen von Architektur als raumkonstituierende Kunst spielt bei Joachim Koester und Hubbard / Birchler eine große Rolle. Neben den Räume und Orte konstituierenden Arbeiten von Tom Burr und Jeff Wall wirken die Typologien von Bernd und Hilla Becher wie Dokumentationen von überkommenen, nahezu vergessenen Orten. Öffentliche Orte wie geheime und geheimnisvolle Plätze eröffnen den Blick auf Raumdiskussionen genauso wie Mediendiskurse. In der Vertikalen Galerie bietet sich zudem ein halböffentlicher Raum zum Erkunden an. Belohnt wird man am Ende in der Dachgeschoss-Kantine mit einem spektakulären Blick auf das erste Hochhaus von Wien.