Aus Anlass des 80. Geburtstags von Georg Baselitz‘ (* 1938) organisieren die Fondation Beyeler und das Hirshhorn Museum and Sculpture Garden eine fokussierte Retrospektive zum rund sechzigjährigen Schaffen des deutschen Malers. Wichtige Gemälde und Skulpturen von 1959 bis 2017 stehen für die künstlerische Recherche, die den in der ehemaligen DDR geborenen Maler seit seinem Studium in Ost- und West-Berlin umtreibt.
„Ich ordne eigentlich alles, was ich tue, nach dem Prinzip der Disharmonie, nach dem der Unausgewogenheit, nach dem der Zerstörung.“1 (Georg Baselitz)
Schweiz | Riehen b. Basel: Fondation Beyeler
21.1. – 29.4.2018
USA | Washington D. C.: Hirshhorn Museum and Sculpture Garden
21.6. – 16.9.2018
#BaselitzBasel
1958 übersiedelte Georg Baselitz nach Westberlin, um an der Kunsthochschule zu studieren. Informel positionierte sich Georg Baselitz als avantgardistischer Künstler. Schon seine erste Einzelausstellung in der Westberliner Galerie Werner & Katz 1963 provozierte einen Skandalerfolg, der ein gerichtliches Nachspiel hatte. Juristen wurden bemüht, um zu klären, ob Baselitz‘ Werke – „Die große Nacht im Eimer“ (1962/63, Museum Ludwig, Köln) und „Der nackte Mann“ (Privatbesitz, USA) -obszön und somit strafbar wären. Gegen die Sittenvorstellungen seiner Zeit opponierte Baselitz offensichtlich. Doch in den 1960ern und 1970ern figurativ zu malen und sich dabei selbst als Avantgardist zu bezeichnen, schien doch vielen Fachleuten schwierig bis problematisch. Baselitz selbst verwehrte sich gegen das Stigma des „Sonderfalls“, wie es Martin Schwander darlegt, und bezog sich auf „vergessene und auch marginalisierte Figuren [der Kunstgeschichte] wie den Franzosen Antonin Artaud (1896–1948), die Schweden Ernst Josephson (1851–1906) und Carl Fredrik Hill (1849–1911 → Silke Otto Knapp & Carl Fredrik Hill), den russischen Symbolisten Michail Wrubel (1856–1910) […] Ferdinand von Rayski (1806–1890) und den finnischen „Nationalkünstler“ Akseli Gallen-Kallela (1865–1931)“.2 Zu ergänzen wären noch die Werke von Edvard Munch (1863–1944), japanische Holzschnitte (ukijo-e) und Druckgrafik des italienischen und des französischen Manierismus (Claire-obscure-Holzschnitte), afrikanische Skulpturen (→ Afrikanische Kunst) und Willem de Koonings „Woman“-Bilder.
„[Baselitz] ist der Überzeugung, dass das Bild eine Art Schutzschild gegen die Unzulänglichkeiten des Lebens ist. Nur im Bild findet Gesehenes und Erlebtes, Erinnertes und Imaginiertes zu jener sinnstiftenden Einheit, die der Mensch zum Leben braucht.“ 3 (Martin Schwander)
Naturalistische, symbolistische und expressive Positionen sind in Baselitz‘ Pantheon gleichberechtigt nebeneinander vereint. Artaud stand Pate, als Baselitz und Schönebeck das erste Manifest verfassten, und wohl auch, als Baselitz jene düsteren, teils verstörenden Bilder der 1960er malten, mit denen er die Staatsmacht auf den Plan rief. Ferdinand von Rayski hingegen wurde bemüht, als der seit dem Mauerbau 1961 im isolierten West-Berlin lebende Sachse Ende des Jahrzehnts seine Bilder auf den Kopf stellte: „Der Wald auf dem Kopf“ (1969, Museum Ludwig, Köln) Die „Helden“-Serie (1965/66), die als erste vollgültige Kompositionen im Œuvre gelten, orientieren sich u.a. an Figurendarstellungen des italienischen Manierismus. Seither arbeitet Georg Baselitz „durch Modelle von anderen Bildern“, wie er es selbst formuliert.4 Er zieht seine Schlüsse aus verschiedenen, durchaus heterogenen Quellen, um doch wieder zu neuen Bildern und Skulpturen zu kommen – so das Konzept.
Bindeglied zwischen den „Helden“ und den auf dem Kopf stehenden Motiven stellen die „Fraktur“-Bilder (1965/66) dar. In ihnen zerstört Georg Baselitz sukzessive die Integrität der Figuren. Dies mündete 1969 in der Umkehrung der Motive. Die Bilder Baselitz‘ hängen nicht einfach verkehrt, sondern werden auch so ausgeführt. So als wollte er seiner geübten Hand entkommen, sich selbst behindern – und dem Publikum schwieriger zu lesende Bilder vorsetzen. Der Abstraktion stand Georg Baselitz mit Ausnahme sehr früher Zeichnungen, in denen er die Möglichkeiten des Informel erprobte, immer skeptisch gegenüber. Doch was darstellen? Ihm geht es häufig um Porträts, großformatige Akte von seiner Ehefrau Elke und sich selbst, um Landschaften, Tierdarstellungen – allesamt gleichermaßen „banal“ wie auf dem Kopf stehend und dadurch auf den ersten Blick nicht zuordenbar. Gleichzeitig etablierte Baselitz damit sein Markenzeichen, das ihn in den 70er und 80er Jahren berühmt machte. Teils entstanden diese Bilder nach eigenen Fotografien und Polaroids oder nach Bildvorlagen in Büchern. In anekdotischen und deskriptiven Bildern sah der Maler jedoch eine Gefahr, weshalb er möglichst „banale“, im Sinne von bekannte oder nichtssagende Motive einsetzte. Deren gestürzte Perspektive bedeutete für ihn einen dritten, mittleren Weg zwischen Figuration und Abstraktion zu erfinden: „Die Umkehrung des Motives im Bilde gab mir“, so Baselitz, „die Freiheit, mich mit malerischen Problemen auseinanderzusetzen.“5 Dazu zählte u.a. die Komposition, die seit den frühen 1970er Jahren mittig von den dargestellten Figuren besetzt wird, bildparallele Ausrichtung der Bildelemente, das Figur-Grund-Problem, Fingermalerei, Mimesis.
Zu den bekanntesten Werken von Georg Baselitz aus diesem Jahrzehnt zählt „Fingermalerei – Adler“ (1972), den er in mehreren Versionen umsetzte. Als Gerhard Schröder sich einen solchen in sein Arbeitszimmer hängte, hatte der Maler bereits 1980 auf der Biennale von Venedig einen kulturpolitischen Skandal ausgelöst. Die erste von Baselitz aus Holz gehauene und bemalte Arbeit, das „Modell für eine Skulptur“ (1979/80), zeigt eine am Boden sitzende Person mit erhobenem rechten Arm. Schnell war das Publikum der Biennale überzeugt, einen Hitlergruß zu sehen, was der Deutsche Pavillon in den Giardini doch unter der NS-Diktatur 1938 maßgeblich umgebaut worden. Gemeinsam mit Anselm Kiefer thematisierte Baselitz die deutsche Vergangenheit, rezipierte aber auch formal wie in der Geste afrikanische Skulpturen aus seiner eigenen Sammlung.
In den folgenden Jahren wurde Georg Baselitz auf einer Reihe von Ausstellungen als einer der führenden Gegenwartskünstler sowohl in den USA wie auch Europa präsentiert. Die Bilder „Weg vom Fenster“ und „Adler im Bett“ waren 1982 auf der bedeutenden Ausstellung „Zeitgeist“ im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Die gestürzten Motive waren in den 1970ern zum Markenzeichen des Malers geworden, seine Faktur steigerte sich in den 1980ern in ihrer brachialen, teils wüsten Gestik, die Volumina reduzierte er in Richtung einer dekorativen Flächengliederung. Darüber hinaus wurde Baselitz die Rolle eines „Vaters“ und „Vorläufers“ der neoexpressionistischen Malerei (→ Neue Wilde | Junge Wilde) zugeschrieben, was dieser, der Einzelgänger, aber immer vehement von sich wies. Genauso wie die „Zeitgenossenschaft“. Dennoch, es gibt eine gewisse formale und maltechnische Ähnlichkeit zwischen Baselitz‘ Gemälden der 1970er und 1980er Jahre und der jüngeren Generation – genauso wie zu Werken der deutschen Expressionisten – mehr Brücke als Blauer Reiter – von Edvard Munch, Asger Jorn und Karel Appel oder Willem de Kooning, dessen „Woman“-Serie den Deutschen heftig in Beschlag genommen hat.
Das aus 20 monumentalen, schwarz grundierten und hauptsächlich mit Frauenköpfen bemalten, „geritzten“ Sperrholzplatten bestehende Werk „’45“ (1990, Kunsthaus Zürich) ehrt die „Trümmerfrauen“. NS-Vergangenheit, Schuld, „Stunde Null“ und Wiederaufbau kehren in Baselitz‘ Werk immer wieder. Bereits in den 1960ern hatte Baselitz den Farbholzschnitt des Manierismus entdeckt und sich selbst in dieser Drucktechnik geübt. Ende der 1970er machte er den Schritt in Richtung Lindenholzschnitzerei, der weitere großfigurige Arbeiten mit der Motorsäge folgten. Mit ihren plumpen Formen, teils grell bemalt, erinnern sie gleichermaßen an afrikanische Holzskulpturen, den „Primitivismus“ der deutschen Expressionisten wie auch dem skulpturalen Werk von Ernst Ludwig Kirchner oder Karl Schmidt-Rottluff (→ Karl Schmidt-Rottluffs Liebe zum „Wilden“). In „‘45“ verbindet Baselitz das Bild mit dem Relief, womit ein Hybrid entstand, dem sich der Maler sonst immer wortgewaltig entzog: Seine Bilder sind nun Objekte und bestechen durch rohe, ungeschlachte Ausdrucksmittel, die eindrücklich Leben und Tod zu schildern vermögen.
Zu Beginn der 1990er Jahre entschied sich Georg Baselitz, seine Bilder auf dem Boden zu malen und dabei die Leinwand von allen Seiten her zu bearbeiten. Dadurch bewegt sich der Maler über seiner Arbeit, sieht sie nie im Ganzen, sondern arbeitet sich von einer Partie zur nächsten weiter. Gleichzeitig wurden Baselitz‘ Gemälde heller, was wohl (auch) als Reaktion auf die veränderte politische Lage in Deutschland zurückzuführen ist: 1989 Mauerfall und wenig später die deutsche Wiedervereinigung führten zu einer freudigen Grundstimmung, die in den sogenannten „Russenbildern“. Nach der Lektüre seiner Stasi-Akte malte Georg Baselitz Lenin, Stalin, Marx und Engels in pointillistischer Technik und hellen Buntfarben auf weißem Grund (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus). Die Paraphrase, die sich Baselitz schon seit Jahrzehnten zunutze macht, tritt hier voll zutage.
Gemälde aus der „Remix“-Serie (2005–2008) sowie in jüngster Zeit entstandene Arbeiten vervollständigen den Blick auf einen der eigensinnigsten Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts. Einmal mehr sind des Kunst-Bilder, auf die er sich bezieht. Einmal mehr bewegt er sich kreisförmig, verbindet Vergangenes mit Gegenwärtigem, um zukunftsträchtige, „noch nie gesehene Bilder“, wie er es nennt, zu entwickeln. „Die große Nacht im Eimer“ (1962/63), das Skandalbild seiner frühen Jahre, erhält ein Hitlerbärtchen und einen Totenkopf vor seinen Füßen. „Es war ein großer Lacher. Aber auch ein großer Erfolg“6, konstatierte Baselitz. In den „Remix“-Bildern wirft der Künstler einmal mehr den Blick zurück auf sein eigenes Werk; in den aktuellsten Arbeiten wendet er den Blick voraus auf die Körper seiner selbst und seiner Frau Elke.
Bereits auf der Biennale von Venedig 2015 präsentierte Georg Baselitz im Arsenale großformatige Selbstakte, expressiv deformiert, eigentümlich schwebend, noch eigentümlicher hell, manchmal fahl, manchmal pastellig leuchtend vor dunklem Grund. Auge, Mund, Brust und Knie sind mit schwarzen, dünnen, bewusst ungelenken Linien eingezeichnet. Oder eigentlich mehr hastig notiert. Dazu noch Markierungen gespritzter oder rinnender Farbe. Mehr Erinnerungen an eine fragile Körperlichkeit denn Beschreibung des Sichtbaren. Zumindest hinterlässt der jetzt 80-jährige im gesellschaftlichen Leben einen viel vitaleren Eindruck als sein Konterfei auf der Leinwand vermuten ließe. Und Anti-Repräsentation als Strategie lässt sich schon in der „Helden“-Serie der 1960er Jahre nachweisen. Anfang des Jahrhunderts hatte Georg Baselitz in einem bildgewaltigen Text von der Anti-Spiegelfunktion seiner Bilder gesprochen: „Was man sieht, sieht man so und so in sich hinein, nicht wie im Spiegel, da ist es anders.“ Baselitz möchte anders sein, möchte allein sein bei allem, was er tut.
„Kunst hängt am Hacken
Bilder beißen nicht, nicht in die Wade wie der Hund, aber etwas tun sie schon, sie können einem den Kopf verdrehen. Dagegen beißt das Motiv schon eher, ob die Sonne scheint oder Regen fällt. Bilder mit dem Motiv auf dem Kopf zwingen zum Purzelbaum, zum doppelten Salto, wenn sie besonders gelungen sind. Die Bilder hängen fest am Hacken, was herunterhängt, zeugt von Schwerkraft. Was drauf ist, fällt nicht runter, es fällt nur mehr auf und springt mehr ins Auge. Auch wenn in der Mitte etwas auf der Leinwand ist, wie zum Beispiel ein klavierspielender Russe, so ist das kein Drehpunkt für Schwindelgefühle. Was man sieht, sieht man so und so in sich hinein, nicht wie im Spiegel, da ist es anders. Was auf diese Weise eingesehen ist, wirkt wie beim leergelassenen Teller, angenehm, von Chaos und Geometrie befreit, nur ernährt man mit Bildern mehr den Kopf als den Magen. Im Übrigen essen Bilder am liebsten Bilder.“7 (Georg Baselitz, 25.7.2000, Impera)
Die Ausstellung ist eine Kooperation mit dem Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington D. C., wo sie anschließend in veränderter Form gezeigt wird. Parallel zur Ausstellung in der Fondation Beyeler präsentiert das Kunstmuseum Basel Arbeiten auf Papier von Georg Baselitz.
Kuratiert von Stéphane Aquin, Chefkuratorin am Hirshhorn, und Martin Schwander von der Fondation Beyeler.
Martin Schwander für die Fondation Beyeler (Hg.)
mit Beiträgen von Stéphane Aquin, Rudi Fuchs, Steven Henry Madoff, Eva Mongi-Vollmer, Norman Rosenthal, Carla Schulz-Hoffmann, Martin Schwander, Christian Spies
280 Seiten, 178 Illustrationen
27.4 x 31 cm
ISBN 978-3-7757-4388-4
Hatje Cantz Verlag