Erwin Wurm schuf auf Einladung von Direktor Klaus-Albrecht Schröder eine neue Werkserie, die in der Albertina erstmals präsentiert wird. Unter dem Titel „De profundis“ widmet sich der für seine One-minute-sculptures international bekannt gewordene Bildhauer dem Thema des Künstlerbildes. In 31 Selbstporträts stellt sich Wurm dem Klischee des „leidenden Künstlers“, indem er gotische Bildformeln auf sich übertrug. Diese Zeichnungen werden durch überschriebene und übermalte Fotografien von ca. 25 befreundeten Künstlerkollegen aus Wien und Umgebung ergänzt.
Österreich / Wien: Albertina
12.12.2012 – 17.2.2013
„De profundis“ (Psalm 130) – „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir“ – gehört zu den traditionellen Totengebeten der Katholischen Kirche. Die Endlichkeit des Lebens wird in diesem Textfragment ins Zentrum gestellt. Gleichzeitig handelt es sich bei „De profundis“ aber auch um den Titel eines Brief-Essays von Oscar Wilde, in dem er 1897 aus der Kerkerzelle seinen Freund und Liebhaber „Bosie“, Lord Alfred Douglas, schrieb. Verzweifelt klagt darin der Schriftsteller aus der dunkelsten Zelle sein Leid und zieht mit einem Rundumschlag ein Resümee über die für ihn dramatische Beziehung: „Bosie“ habe ihn von seinem künstlerischen Tun abgelenkt. In ihrer gemeinsamen Zeit hätte Wilde kaum geschrieben, sein gesamtes Vermögen verprasst und seinen Leumund schlussendlich aufs Spiel gesetzt.1
Als Erwin Wurm darüber nachdachte, ob es heute überhaupt noch möglich wäre, verinnerlichtes Künstler-Leben darzustellen, fielen ihm Bildkonzepte aus der Gotik und der Frührenaissance ein. Für „De profundis“ aktualisierte er Posen von Stifterfiguren, dem Gekreuzigten bis hin zum gehäuteten Marsyas. Der Titel – sowohl als christliches aber auch als Oscar Wild-Zitat – verweist auf die Eindringlichkeit des Projekts, die Einsamkeit des Künstlers, sein Verstoßensein aus der Gesellschaft.
Zu Beginn des Jahres 2012 befand sich Wurm auf einer Insel und schuf während des Aufenthaltes 31 Selbstporträts in gotischer Manier – nur mit Stift und Papier. Er gab damit seine konzeptuelle bildhauerische Praxis der letzten Jahre kurzfristig völlig auf, zumindest was die Durchführung eines Kunstwerks betrifft. Wurm steigerte dieses Unterfangen noch durch die Konzentration auf sich selbst. Das Aufgehen und Eintauchen des schaffenden Künstlers im Werk wird durch die Beschäftigung mit dem eigenen Bild, dem Selbst noch gesteigert. Das Künstlerselbst ist der intimste und manchmal auch der geduldigste Partner des eigenen Tuns. Vielleicht war es dem Künstler nur auf der Insel möglich, sich selbst ohne (digitale) Ablenkung so nahe zu sein, denn die Abreise von der Insel kam einer Loslösung von der gestellten Aufgabe gleich. Die Serie von gezeichneten Selbstporträts, basierend auf gotischen Bildlösungen, ist für Erwin Wurm abgeschlossen.
In den 18 in der Ausstellung gezeigten Selbstporträts stellt sich Erwin Wurm in Haltungen dar, die mit einer Ausnahme durchaus auf mittelalterliche Posen zurückgehen. Zwei präsentieren den bis auf die Unterhose entkleideten Künstler als Gekreuzigten; ein Mal übernimmt er das halb aufgerichtete Liegen der Pietà, ein anderes Mal aber auch den Segensgestus. Der Körper wird meist im spätgotischen S-Schwung durchgebogen, über die Umrisslinie definiert und durch verschieden intensive Kreuzschraffuren in seiner Dreidimensionalität definiert. Der Kopf, oder besser das ausdruckslose Gesicht, nimmt eine zentrale Stellung ein. Erstaunlicherweise sucht Erwin Wurm nicht in der Expressivität des Gesichts das (klischeebehaftete) Leid des Künstlers festzumachen, sondern in der Inanspruchnahme der Posen und Rollen.
Die Erfahrungen, die Erwin Wurm bei der Arbeit mit seinem eigenen Bild gemacht hat, führte er in fotografischen Arbeiten weiter. Er lichtete sich selbst und ca. 25 ausschließlich männliche Künstler aus seinem erweiterten Freundes- und Kollegenkreis aus Wien und Umgebung ab. Haltungen und Orte wurden von Wurm vorgegeben, Persönliches wurde ausgeblendet. Dem Bildhauer war wichtig, dass es keinen Blickkontakt mit den Betrachterinnen und Betrachtern gibt. Die Künstler fungieren daher fast wie professionelle Modelle – wenn nicht ihre Vornamen sie aus der Anonymität heben würden.
Erneut stand für Wurm die Idee der Innenschau, des in sich gekehrten Seins, der Isolation des Einzelnen im Zentrum. Erneut war für ihn das Abbilden nicht genug, er hätte, so der Künstler im Gespräch mit Kuratorin Antonia Hoerschelmann, durch Überarbeiten der fotografischen Oberfläche „noch etwas verstärken und unterstreichen“ wollen. Eigentlich dienten ihm die Künstlerkollegen und auch die Fotografien als bildhauerisches Material, aus dem er „einen neuen Körper machen“ konnte. Diese neuen Körper – weniger individuell, manches Mal überhaupt nicht wiedererkennbar, immer aber durch ihre Vornamen an die Personen gebunden – sind neuer Ausdruck eines Bewusstseins von Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Tod. Erwin Wurm schuf „aus der Tiefe“ seiner Welt- und Körpererfahrung Menschenbilder, die ihre Aussage mehr aus kunsthistorischen Vorbildern als aus einer persönlichen Innerlichkeit schöpfen.
Mit Hilfe des Pinsels und der Farbe überarbeitet Erwin Wurm die Fotografien seiner Künstlerfreunde und –kollegen; macht so aus jedem Abzug ein Original. In mehreren, unterschiedlich großen Varianten pro Bild erprobt der Bildhauer, wie die männlichen Körper als „Material“ für verschiedene Formfindungen verändert werden können. Meist verknappt der Künstler die Umrisse, experimentiert mit Volumen und Flächigkeit. Nur manchmal dient rosa Farbe der Körpererweiterung und –ausdehnung. Die nackten, männlichen Leiber werden in einigen Fällen mit weiblichen Formen in Verbindung gebracht – in „Ohne Titel (Cajetan) 2“ beispielsweise formt Wurm aus der männlich behaarten Brust eine weibliche. Häufiger fragmentiert der zeichnenden Bildhauer die Körper wie zum Beispiel in „Ohne Titel (Michael) 3“, das nur noch die Beine und das männliche Glied zeigt. Der Ausstellungstitel „De profundis“ lässt sich mit dem Hinweis des Künstlers, weniger den christlichen Text als Oscar Wildes Bekenntnis gemeint zu haben, durchaus auch auf eine Genderfrage zuspitzen. Eine Fotografie, die ihn selbst zeigt, übermalt Wurm mit einer traditionell als weiblich konnotierten Pose: Kontrapost mit ausschwingender Hüfte, deren ausladende Form noch durch Malerei betont wird, beide Hände geöffnet. Die auftretende Irritation konterkariert der Künstler mit dem vehementen Hinweis auf seine Heterosexualität.
Körper, Haut, Geschlecht, von Erwin Wurm beißend auch als „Müllsack“2 bezeichnet, werden herausgearbeitet, verhüllt, verwandelt. Die Modelle werden nicht analysiert, sondern dienen dem Künstler als Folien für seine Ideen. Sie sind weder Porträts von mehr oder weniger berühmten Kollegen und Freunden der Kunstszene, nichts Subjektives haftet ihnen an. Als „Problemfälle“ der besonderen Art müssen in diesem Zusammenhang jene Bilder bezeichnet werden, die den Künstler selbst zeigen. Modell und Gestalter, Material und Konzept fallen in eins. Dennoch wirken sie nicht intim, zu stark ist das Bild des Künstlers von der Pose, der Hülle, dem Äußeren bestimmt.
Als Bildhauer beschäftigt sich Wurm seit den 1980er Jahren mit der Frage dieser delikaten Begrenzungslinie zwischen dem Innen und dem Außen. Im Gegensatz zu Egon Schieles oder Arnulf Rainers entäußernden Selbstdarstellungen wirken Wurms Männerbilder jedoch stark an der - mitnichten geschlechtsneutralen - Form interessiert. Oscar Wildes Text als Inspirationsquelle für die Serie zu wählen, scheint daher wenig geglückt. Wenn der Autor am Ende seines Essays feststellt, dass ihm alles wertlos erscheint, was nicht aus dem eigenen Innern kommt, lässt sich das durchaus auf den mit Farbe und Pinsel experimentierenden Künstler umlegen. Die Innerlichkeit bleibt aber dennoch auf der Strecke.