Was ist afrikanische Kunst?
Das 1873 gegründete Ethnologische Museum Berlin besitzt qualitativ wie quantitativ eine herausragende Sammlung an Kunst aus Afrika, mit Werken aus der Zeit vor 1918. Etwa 75.000 Objekte1 allein aus Afrika machen das Berliner Haus zu einem Zentrum der traditionellen afrikanischen Kunst. Zu den international bedeutenden Sammlungsschwerpunkten zählen Kunstwerke aus den Regionen: Benin, Kamerun, Kongo und Ostafrika. Ökonomische und wissenschaftliche Interessen ließen die Bedeutung Afrikas für europäische Händler und Kolonialherren über Jahrhunderte anwachsen, bis an der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert die Unterwerfung der Völker im Kolonialismus eine neue Qualität erhielt.
Afrikanische Kunst
Deutschland / Berlin: Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin
26.8.2005 bis auf Weiteres
Museumsgründer Adolf Bastian (1826–1905) wollte eine umfassende Sammlung zu vermeintlich unberührten, vorkolonialen Kulturen zusammenzutragen und diese umfassend ausstellen. Dahinter standen die zeittypische Aneignung von Land und Leuten, aber auch schon der Handel und die Produktion von Artefakten für diesen Markt. Um die künstlerische und kulturelle Bedeutung Afrikas südlich der Sahara zu demonstrieren, integrierte Kurator Peter Junge zu den allseits bekannten Masken und figurale Darstellungen auch dekorativ gestaltete Gebrauchsgegenstände wie Matten, Nackenstützen, Hockern, Gefäßen, Schmuck, Kämme und Löffel. Seit 2005 ist die Schausammlung zur afrikanischen Kunst mit etwa 120 Werken in einem Black Cube neu aufgestellt.2 In Kürze übersiedelt das Museum in das wieder errichtete Berliner Stadtschloss.
Fratzen oder doch so gut wie von Benvenuto Cellini?
Der Geograf und Ethnologe Friedrich Ratze äußert sich 1885 höchst abschätzig und damit zeittypisch über die afrikanische Kunst:
„In der Darstellung des Hässlichen übertrifft kein Volk dies Westafrikaner, welche zum Überfluss die Skulptur so sehr lieben, dass sie sich gar nicht genug thun [sic!] können mit den Fratzen, die sie in jedem zugänglichen Materiale ausprägen. Um von der Indezenz derselben nicht zu reden, sind sie in der Mehrzahl hauptsächlich so hässlich, weil sie absolut nichts Stilisiertes an sich haben, sondern brutal naturwahr sein oder höchstens ins Hässliche übertrieben wollen. Zum letzteren trägt die Ungeschicklichkeit noch bei, mit der besonders die Götzenbilder gearbeitet sind, welche menschliche Gestalten darstellen.“3
Zu den wenigen Ethnologen, die bereits zur Jahrhundertwende 1900 die Ästhetik der traditionellen afrikanischen Kunst schätzten, zählte Felix von Luschan (1854–1924). Er betreute die Afrika- und Ozeaniensammlungen des Berliner Völkerkunde-Museums von 1885 bis 1911 und bewunderte die Gusstechnik der Bronzen aus Benin. Nachdem englische Truppen die Hauptstadt erobert und geplündert hatten, wurden Werke aus dem Königspalast 1897 in London versteigert.
„Diese Benin-Arbeiten stehen nämlich auf der höchsten Stufe der europäischen Gusstechnik. Benvenuto Cellini hätte sie nicht besser gießen können und niemand vor ihm noch nach ihm, bis auf den heutigen Tag. Diese Bronzen stehen technisch auf der höchsten Höhe des überhaupt Erreichbaren.“4
Afrikanische Künstlerinnen und Künstler? Kunstgeschichte Afrikas?
Die meisten Werke der afrikanischen Kunst fallen aus europäischer Perspektive in die Kategorie „Anonyme Volkskunst“. Zwar handelt es sich um Auftragswerke, die aus konkreten Anlässen gefertigt werden, doch in den bäuerlichen Gesellschaften schnitzen Bauern und Schmiede im Nebenerwerb. In vielen Ethnien ist das Erschaffen dieser magischen Objekte eine Männeraufgabe. Der Beruf des Künstlers mit einer mehrjährigen Lehrzeit und Spezialisierung ist vor allem in Königreichen nachweisbar, so zum Beispiel die Bronzegießer und Elfenbeinschnitzer im Benin. Sie sind auch in Berufsgruppen und Gilden organisiert. Museumsbestände zeigen auf, dass einzelne Königreiche auf bestimmte Kunstproduktion spezialisiert waren, und es auch Austausch zwischen den Ethnien gab.
Zu den Charakteristika afrikanischen Kunstschaffens ist ihre enge Eingebundenheit in religiöse und soziale Bedingungen. Hier wäre die Frage zu stellen, inwieweit sie sich dadurch wirklich von Kunst aus Europa, Asien oder den beiden Amerikas unterscheidet! Es werden zwar mit traditioneller afrikanischer Kunst, die meist kulturelle und funktionelle Bedeutung hatte, verschiedene Ethnien und ihre Weltentwürfe repräsentiert, die bedeutendsten Schätze von Afrika-Sammlungen sind aber immer auch Dokumente des Kunstschaffens. Bis in die 1980er Jahren waren alle Sammlungen nach geografischen und ethnischen Kategorien gegliedert, z. B. Dogon, Yoruba, Kameruner Grasland. Das ermöglicht einen Überblick über die regionalen und geschichtlichen Unterschiede in der traditionellen Kunst Afrikas, denn damit werden die Unterschiede zwischen Stilen deutlich. Gleichzeitig dienen die Kunstwerke als Quellen zur Kulturgeschichte, als Manifestation von kulturellem Wissen. Erst ein Vergleich vieler Werke einer Ethnie offenbart die gestalterischen Qualitäten und Fähigkeiten einzelner Künstler im Rahmen der ästhetischen Kriterien der jeweiligen Kultur.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Objekte aus Südsahara-Afrika zunehmend als Kunstwerke anerkannt. Während die ethnologische Forschung diese Werke hauptsächlich als Objekte der Alltagspraxis und Kulturgeschichte interpretierte, formierte sich parallel dazu die Kenntnis zur Kunstgeschichte Afrikas. Aus der Sicht des frühen 20. Jahrhundert wies die afrikanischen Kunst einen hybriden Charakter auf, der allerdings Künstler in Paris und Dresden auch besonders faszinierte. In der Ausstellungspraxis zeigt sich der Bedeutungswandel vom Kultobjekt zum Kunstwerk vor allem seit den 1970er und 1980er Jahren. Ein berühmtes Beispiel ist der Umzug der afrikanischen Kunst aus der Sammlung von Nelson Aldrich Rockefeller vom Museum of Primitive Art ins Metropolitan Museum im Jahr 1974. In den letzten Jahren hat sich zudem die Aufstellung nach Themen und Inhalten durchgesetzt,5 um den Betrachterinnen und Betrachtern von einem neuen Gesichtspunkt aus, Einblicke in die afrikanischen Kunsttraditionen zu gewähren.
Der Begriff „Stammeskunst“ wurde in der modernen Ethnologie durch die Konzeption von Werkstätten und Schulen, manchmal auch durch Namen von Künstlerinnen und Künstlern ersetzt. In den meisten Fällen bleiben jedoch die Schöpferinnen und Schöpfer anonym. Dennoch lässt sich auch heute noch die Frage nach den „Meistern“ der afrikanischen Kunst nur sehr rudimentär beantworten. Zu den wenigen namentlich bekannten Künstlern aus dem 19. Jahrhundert zählen:
Ateu Atsa (um 1840–1910)
von den Bangwa aus dem Kameruner Grasland6. Das Werk des einflussreichen Bildhauers und seiner Werkstatt besteht aus 20 lebensnahen Porträts von Königen. Typisch für das Grasland ist, dass Kunst eine hauptsächlich repräsentative Funktion hat und im Vergleich zu Werken aus dem Kongo besonders expressiv und dynamisch gilt.
König Yu (1865–1912)
von den Kom aus dem nördlichen Kameruner Grasland. Das Ethnologische Museum Berlin besitzt zwei 1905 durch den deutschen Kolonialoffizier von Putzlitz geplünderte Gedenkfiguren. Yu war nicht nur ein wichtiger Herrscher von Kom, sondern gilt noch heute als bedeutender Künstler. Die beiden Skulpturen besaßen einst einen Stoffüberzug und dürften mit leuchtend bunten Glasperlen sowie Kaurimuscheln bestickt gewesen sein. Der König war vor den deutschen Truppen geflohen und hat diese beiden wohl nicht mehr verwendeten Figuren im Palast zurückgelassen.
Meister von Buli
von den Luba aus der Demokratischen Republik Kongo. Sein Werk umschließt etwa 20 ihm zugeschriebene Objekte. Wahrscheinlich bezeichnet der Begriff eine Werkstatt und nicht nur eine Einzelperson.
Meister Olowe (um 1878–1938)
aus Ise von den Yoruba in Nigeria. Olowe, der in der Provinz Ekiti tätig war, wird von vielen Sammlern und Kunsthistorikern als der wichtigste Yoruba-Künstler des 20. Jahrhunderts angesehen. Er wurde noch zu seinen Lebzeiten in Europa berühmt, als 1924 eine geschnitzte und bemalte Tür des Königspalastes in Ikere auf der British Empire Exhibition in London zu sehen war. Sein Stil unterscheidet sich von anderen Yoruba-Reliefs durch ihre Tiefe (ca. 10 cm) und Dreidimensionalität. Er rückte auch von der frontalen Darstellungsweise ab und nutzte Drehbewegungen der Körper. Darüber hinaus sind seine Werke durch äußerste Sorgfalt und Präzision in der Ausführung sowie Formbewusstsein gekennzeichnet. Sein Werk wurde Ende der 1990er Jahre auf 35 skulpturale Arbeiten zusammengefasst.7
Auf jeden Fall sollte man davon Abstand nehmen, afrikanische Objekte als „kollektive Tradition eines bestimmten Stammes“ zu deuten. Künstlerinnen und Künstler waren nicht unbedingt sesshaft und Objekte selbst nicht an Orte gebunden, sondern wurden weiterverkauft und in anderen Regionen bestellt8. Da über diese Art von Transfer von Kunst- und Kulturgütern oder auch Entstehungsorte und ausführende Künstlerinnen und Künstler nur wenige schriftliche Quellen existieren bzw. vergleichende Studien erst am Anfang stehen, sind Kuratorinnen und Kuratoren jedoch weiterhin gezwungen, die Exponate mit den Namen von Ethnien zu beschriften. Indem seit den 1990er Jahren Sammlungen thematisch aufgestellt werden, kann in Zukunft vielleicht so etwas wie eine überregionale Ikonografie resp. Ikonologie der afrikanischen Kunst erkannt werden.
Wichtigster Stoff des afrikanischen Kunstschaffens ist Holz, das unter den klimatischen Bedingungen nicht besonders dauerhaft ist. Aufgrund der schwierigen Erhaltungsbedingungen können kaum längere Entwicklungen beobachtet werden. Die Holzskulpturen der Dogon in Mali bilden hier die Ausnahme. Ergänzt mit archäologischen Funden des Königreichs Ife und der höfischen Kunst Benins lassen sich heute etwa 600 bis 800 Jahre afrikanischen Kunstschaffens schlaglichtartig beleuchten. Der kulturelle und wirtschaftliche Austausch mit Europa und Asien ist seit der Antike belegt.
Stilmerkmale, Funktionen und Themen traditioneller afrikanischer Kunst
Die meisten Skulpturen und Masken erreichen durch Frontalität, Symmetrie, Reduktion individueller Details eine Steigerung ihrer Monumentalität. Sie sind nahezu immer aus einem Stück Holz geschnitzt, die Kombination von Materialien, wie sie beispielsweise bei den Wächterfiguren der Kota zu beobachten ist, ist äußerst selten. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass die stilistischen Ausprägungen der Werke von Naturalismus über starke Abstraktion bis zu einer Umsetzung mit kubischen Formen reichen kann. Diese Variationsbreite ist nicht nur über einen längeren Zeitraum, sondern auch gleichzeitig zu beobachten, was eine einfache Datierung vieler Objekte erheblich erschwert.
Das Berliner Ethnologische Museum zeigt anhand von fünf Darstellungen menschlicher Gesichter aus dem Gebiet der Yoruba, beheimatet in Südwestnigeria und der Republik Benins, sowie aus dem Benin, welche großen stilistische Unterschiede zwischen dem 12. und dem 20. Jahrhundert beobachtet werden können. Die Annahme, dass eine hochstilisierte und scheinbar einfache Darstellungsform am Beginn einer Entwicklung steht, kann damit deutlich zurückgewiesen werden. Das Gegenteil ist der Fall! Der Terrakotta-Kopf aus der ausgegrabenen Stadt Ife, heute im modernen Südwest Nigeria gelegen, überrascht durch seinen Naturalismus. Als Leo Frobenius erstmals 1910 solche Köpfe sah, sprengten sie die Vorstellungskraft des Europäers völlig. Frobenius beschrieb sie daher als Relikte einer untergegangenen griechischen Kolonie und meinte, Atlantis gefunden zu haben. Heute ist unbestritten, dass es sich um idealisierte Darstellungen resp. Porträts von Herrscherfamilien und ihrer nächsten Umgebung handelt. Datiert werden die Köpfe aus Ife vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Königreich Benin zu einem der führenden Mächte in der Region. Auch im Benin spielten Gedenkköpfe an Könige (oba) und deren Mütter (iyoba) wichtige Rollen. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zeigt sich eine zunehmende Stilisierung und Formalisierung der Gesichtszüge. Die Insignien scheinen wichtiger zu sein, als das Individuum, das sie trägt. Darstellungen aus dem frühen 20. Jahrhundert gehören zu den avanciertesten und abstrahiertesten der Yoruba, wobei je nach Funktion der Skulptur auch naturalistische Töne angeschlagen werden konnten.
Eine Reihe von Kunstwerken im Ethnologischen Museum in Berlin diente der Herrscherrepräsentation (Benin, Kameruner Grasland, Kongo). Dazu dienten nicht nur monumentale, knapp unter einem Meter hohe Porträts verstorbener Könige und Würdenträgerinnen, sondern auch figürlich geschnitzte Türpfosten in Palästen, die aus mehreren hundert Einzelgebäuden bestehen konnten. Vor allem die Häuser des Königs und der Geheimbünde wurden mit vielfigurigen Darstellungen in Hochreliefs geschmückt. Zu den bekanntesten und auch farbenprächtigsten Werken zählen aber vor allem die mit Perlen und Kaurischnecken bestickten Throne aus Bamum und dem nördlichen Grasland. Im Königreich Benin glänzten Künstler durch die herausragende Beherrschung des Bronzegusses. Das Metall tauschten sie gegen Sklaven und Elfenbein mit den Europäern.
Der Mensch in der traditionellen afrikanischen Kunst
Der Mensch steht im Zentrum der afrikanischen Kunst, ergänzt durch Geistwesen und Tiere. Nacktheit, die Betonung von Geschlechtsmerkmalen und Genitalien dienen in der traditionellen afrikanischen Kunst nicht dem Voyeurismus, sondern sind Sinnbilder für Fruchtbarkeit und damit den Fortbestand von Familiengruppen bzw. der Erneuerung der Beziehung zu den Ahnen. Damit ist schon beschrieben, dass die Kunstwerke sowohl einen künstlerischen Anspruch haben, so wie sie zur Ordnung, Stabilität oder Sicherheit der Gesellschaft beitragen. Figürliche Darstellungen sind also immer mehr als nur Abbilder der Wirklichkeit. Die Kunstwerke können religiöse oder magische Funktionen haben, das Verhältnis der Menschen zur Geisterwelt regeln (resp. die Geister besänftigen), das Gedächtnis von Verstorbenen erhalten bzw. die Legitimation der Nachfolge symbolisieren oder auch sozialen Status, Macht und Reichtum seiner Trägerin oder seines Trägers anzeigen.
Die Darstellung menschlicher oder menschenähnlicher (anthropomorpher) Figuren sind ein wichtiger Teil der bildenden Kunst Afrikas. Wenn auch die afrikanische traditionelle Kunst häufig im Zusammenhang mit Riten stand, so gibt es dennoch Figuren beiderlei Geschlechts, die auf den ersten Blick keinen Ahnen, König, Mutter oder Geliebte darzustellen scheinen. Diese Annahme stellt sich jedoch meist als unrichtig heraus. Einzelfiguren gehören daher meist in die Kategorie Porträt von bereits Verstorbenen, wobei die europäische Porträtähnlichkeit in den afrikanischen Kulturen keine Rolle spielte. Dies wird u. a. mit der Angst der afrikanischen Gesellschaften vor der Bild- oder Nachahmungsmagie erklärt, wonach zu ähnliche Gesichtszüge die gefürchteten Geister zu sehr anziehen könnten. Über ihren Status als Abbild hinaus sind solche idealisierten Bildnisse aber immer auch Verweise auf die soziokulturellen Beziehungen, die der bzw. die Dargestellte einnahm. Sie wurden daher für spezielle Ereignisse angefertigt, behandelt, gepflegt und geschmückt wie Menschen. Mit magischer Energie aufgeladen, können sie auch zu agierenden Subjekten innerhalb eines rituellen oder sozialen Zusammenhangs werden. Ein weiterer Typus ist die Darstellung von Hilfsgeistern bei den Senufo (Elfenbeinküste), Wächterfiguren bei den Lobi (Burkina Faso). Die Blolo bla bzw. Blolo bian der Baule stellen in diesem Zusammenhang einen Sonderfall dar, sollen die Figuren doch den weiblichen (Blolo bla) bzw. männlichen (Blolo bian) Ehepartner in der spirituellen Welt verkörpern.
Die Darstellung von Paaren ist in der afrikanischen Kunst so verbreitet, dass durchaus spekuliert werden kann, ob so manche Einzelfigur im Museum nicht ursprünglich ein Gegenüber hatte. Wenn Figuren paarweise auftreten, so bemühten sich die Künstlerinnen und Künstler, sie bis auf ihr Geschlecht ähnlich zu gestalten. Meist handelt es sich um Darstellungen von Ahnen oder Naturgeistern, bei der Initiation verwendete Unterrichtsfiguren bzw. Erinnerungen an bedeutende Verstorbene. Um die Idee der Verbundenheit bzw. Einheit zu visualisieren, positionierten viele Schnitzer die Figuren auf eine gemeinsame Basis. Einen Sonderfall stellen Zwillings-Skulpturen vor allem der Yoruba dar. Da Zwillingsgeburten nur mit übernatürlichen Kräften erklärt werden konnten, wurden Zwillinge sowohl als Glücksbringer wie unheilvolle Wesen betrachtet. Die Ibedji-Statuetten aus dem Königreich-Yoruba stellen die Geister verstorbener Zwillinge dar. Da man davon ausging, dass sich Zwillinge einen Geist teilen, musste der verstorbene Zwilling in der Welt der Lebenden ersetzt werden. Gewaschen, gefüttert und geliebt wie ein lebendes Kind besänftigen die Eltern ihr verstorbenes Kind und ermöglichen dem Überlebenden eine sichere Zukunft.
Primitivismus in der europäischen Kunst: Projektion, Inspiration, Aneignung
Auch wenn in der Zwischenzeit realistische Kunst aus Afrika bekannt geworden ist (z. B. die berühmten Skulpturen der Ife der Yoruba in Nigeria, 1910 von Leo Frobenius entdeckt), so ist die Mehrzahl der Masken und Skulpturen aus Subsahara-Afrika geprägt von Abstraktion und einem freien Umgang mit der Form. Ab 1905 machten sie einen einschneidenden Eindruck auf die Erfinder des Kubismus, Pablo Picasso und Georges Braque, und die deutschen Expressionisten der Künstlergruppe Die Brücke. Das Berliner Völkerkunde-Museum wurde vor allem für Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde und Franz Marc zu einem „Studienort für neue Sehweisen“. Ihre Bewunderung galt der angeblichen Primitivität, der „Ursprünglichkeit“, einer gewissen „Zeitlosigkeit“, der Beseelung der Objekte mit magisch-religiöser Kraft. Damit konstruierten sich die Künstler der Avantgarde ein Bild von Afrika und Ozeanien, das ihrer von der europäischen Tradition und dem Akademismus gelangweilten Sehnsucht entgegenkam. Gleichzeitig bedienten sie sich eines alten, seit dem europäischen Mittelalter vorgeprägten Mythos: Afrika, der Kontinent der Natur, des Geheimnisvollen, der vitalen Kraft, wobei den Afrikanerinnen und Afrikanern eine besonders wilde und ungezähmte Sexualität zugeschrieben wurde. Das Verhältnis der europäischen Künstler zur für sie neuartigen und exotischen Kunst changiert zwischen Kopieren, Inspirationsquelle, Bestätigung für eigene Vorstellungen und Vorwegnahme eigener Konzepte.
Bis zu den Künstlern des Surrealismus defunktionalisierten und desozialisierten Europäer die Kunstwerke und sahen in ihnen die Befreiung der Form, die Magie, das scheinbar Unzivilisierte und Ursprüngliche. Erst die Surrealisten begeisterten sich nicht nur für die afrikanischen Artefakte, sondern kämpften auch gegen die Unterdrückung der kolonialisierten Völker.
Afrikas Kunstregionen bzw. Ethnien
Elfenbeinküste: Baule | Dan | Senufo
Die Gesichtsmasken der Dan stellen hauptsächlich Buschgeister dar, die vor den Menschen das Land besaßen. Sie erlaubten den Dorfgründern, den Wald zu roden und Äcker anzulegen. Die Dan entwickelten einen charakteristischen Maskentypus mit männlich-aggressivem Ausdruck. Die deutlich kubischen Formen. Weibliche Masken sind ebenfalls symmetrisch aber mit fein gearbeiteten Gesichtszügen (hohe, gewölbte Stirn, Schmucknarben, schmale Augen, flache Nase, breite Nasenflügel, anmutig lächelnd) gestaltet.
Für die Senufo war um 1900 Stilisierung besonders wichtig.
Die Baule sind für ihre „spirituellen Sexualpartner“ – blolo bla bzw. blolo bian – bekannt.
Ghana: Fante | Aschanti | Koma
Die ältesten Bodenfunde in Nord-Ghana sind Terrakotta-Figuren und Köpfe, die seit den 1980er Jahren bekannt sind. Diese Grabbeigaben können naturwissenschaftlich ins 13. bis 19. Jahrhundert datiert werden. Ihre Schöpfer dürften wohl die Vorfahren der Koma und Bulsa gewesen sein.
Aschanti sind berühmt für königliche Stühle und Goldgewichte in der Form der Dinge, die man mit dem Gewicht kaufen könnte.
Zu den außergewöhnlichen Objekten der Fante zählt die akua ba (weibliche Puppe). Sie haben eine rechteckige Kopfform und stilisierte Gesichtszüge. Die Rückseite des Kopfes ist mit geometrischen Mustern gestaltet. Sowohl Perlohrringe wie Haarbüschel konnten in Löchern an den Kanten befestigt werden.
Mali: Bambara | Bamana | Dogon
Tyi-Wara-Masken (auch: tyiwara-Masken oder Tschiwara-Masken) der Bambara gehören zu den auffallendsten Gestaltungen innerhalb der afrikanischen Masken. Sie kombinieren Elemente der Pferdeantipole (Gehörn), des Schuppentiers (Pangolin) und des Erdferkels in abstrahierter Form. Tyi-Wara-Masken wurden von Mitgliedern des Geheimbundes während Fruchtbarkeitsriten auf den Feldern getragen, während diese gerodet wurden. Es wurden vier verschiedene Stile ausgeprägt.
Nigeria: Yoruba (Ife | Königreich Benin)
Die Stadt Ife ist das wichtigste kulturelle und religiöse Zentrum der Yoruba im Südwesten Nigerias. Im Jahr 1910 grub Leo Frobenius erstmals Terracotta- und Messingköpfe im realistischen Stil aus. Die idealisierten Porträts von Königen und Würdenträger.
Ab dem 16. Jahrhundert wurde das Königreich Benin immer wichtiger und übernahm die Führungsrolle von Ife. Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert war es ein Zentrum des westafrikanischen Handels mit den Europäern.
Hochspezialisierte Bronzegießer am Hof schufen Metallskulpturen, die Herrscher idealisiert abbilden sowie zunehmend stilisierter und formalisierter gestaltet wurden, dazu Reliefplatten zur Ausschmückung der Pfeiler im Königspalast. Kunstvoll geschnitzte Elefantenstoßzähne dienten dem Ahnenkult.
Der Pantheon der Yoruba besteht aus über 400 Göttern und Helden.
berühmt für ihre ere ibeji (Zwillingsfiguren), agere ifa (Ifa-Schalen für die Aufbewahrung von Palmnüssen für das Ifa-Orakel)
Kamerun: Bamum | Kom (Kameruner Grasland ehemals in Tikar (Norden) und Bamileke (Süden) unterteilt; Kameruner Waldland)
Bei den Bamum finden sich ganzfigurige Gedenkfiguren von Königen und Königsmüttern, reliefierte Türpfosten, mit Perlen und Kaurischnecken bestickte Throne und Skulpturen. Büffelköpfe sind als Motive für Scheitelmasken, Hockerbeine, Schmuck etc. sehr beliebt, da sie von Mitgliedern von Bünden bei Begräbnisfeierlichkeiten getragen wurden. Nahezu ein Meter große Masken gelten als „Mütter“ ganzer Maskengruppen.
Ebenso große Statuen von Chiefs, stillenden Müttern und schwangeren Frauen ließen Chiefs im Süden rund um ihre Häuser aufstellen. Sie sollten die Fruchtbarkeit fördern und vorübergehend einen Sitz für die Seelen von Verstorbenen bereitstellen.
Besonders im nordöstlichen Kameruner Grasland sind Masken mit konvex-konkaver Gestaltung bekannt.
Gabun: Kota | Fang
Die Kota und Fang leben im südlichen Kamerun, in Äquatorialguinea und Gabun.
Die Fang sind berühmt für ihre rundplastischen byeri/bwiiti (Reliquiarfiguren/Wächterfiguren), die Gebeine wichtiger Vorfahren schützten. Ahnenverehrung spielte eine wichtige Rolle. Sie sind aus Holz und Metall gefertigt. 1910 wurden diese Reliquiarfiguren von der französischen Kolonialverwaltung verboten, wodurch viele Stücke auf den Kunstmarkt kamen bzw. heimlich kleinere Versionen angefertigt wurden. Die südlich lebenden Kota zeigen nur den Kopf und den Hals (m’bulu/mwete, ergänzt durch angewinkelte Arme, die gleichzeitig zur Befestigung der Gebeine dienten) in einer hochstilisierten und flachen Kopfskulptur, während die Fang die gesamte Figur darstellten.
Die Fang-Masken sind extrem stilistiert und abstrahiert.
Kongo: Königreich Kongo | Songye | Pende | Luba | Hemba | Chokwe
In der heutigen Demokratischen Republik Kongo leben verschiedene Ethnien, vor allem im unteren Kongo verwendeten minkisi (Kraftfiguren, Singular: nkisi nduda). Mit diesen Figuren verbanden die Portugiesen den Begriff Fetisch, abgeleitet vom Wort feitiço, womit sie die Kraftfiguren als selbstgemachte Götter und die Glaubenspraxis im Kongo als Verehrung von Gegenständen bezeichneten. Minkisi sollen hingegen die Verbindung zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten gewährleisten. Sie wurden von einem Bildhauer und einem nganga (rituellen Spezialisten) hergestellt. Der Künstler schuf die Form, ganzfigurige Darstellungen von menschlichen Geistern mit aufgerissenen Augen und energisch vorgestrecktem Kinn, der rituelle Spezialist (vormals Medizinmann) lud ihre Taschen mit bilongo (Medizinen: Erde von Friedhöfen, Mineralfarben, Nägel, Medizinwurzeln, Samen, Muscheln) auf. Ihre Verehrung und die an ihnen verübten Handlungen halfen der Gemeinschaft gegen Krankheiten, Hexen und Zauberern sowie Unglück. Die so genannten zinkondi (Nagelfetische, Singular: nkondi), mit Nägeln gespickte minkisi, sollten alles Übel abwehren.
Die Songye in Zentralkongo verwendeten gerne kleine Kraftfiguren (nkishi / mankishi).
Die Masken der Pende stellten soziale Charaktere dar.
Die mit den Luba eng verwandten Hemba machen idealisierte Darstellungen von Ahnen (großer, runder Kopf, hohe Stirn, alterslos).
Die Luba leben im Südosten der Demokratischen Republik Kongo, in der Provinz Shaba. Archäologische Funde belegen eine kulturelle Kontinuität von über 1500 Jahren. Der Fernhandel mit Salz, Eisen, Kupfer, Palmöl und Fisch brachte Wohlstand und eine politische Konsolidierung. Das Königtum der Luba entstand am Ende des 16. Jahrhunderts und beeinflusste die gesamte südäquatoriale Region. Im 19. Jahrhundert schwächten Sklavenhändler aus Angola und von der ostafrikanischen Küste die politische und kulturelle Bedeutung des Königtums Luba, weshalb es 1900 von der belgischen Kolonialverwaltung in zwei Einheiten aufgeteilt wurde. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden ihre Werke bei westlichen Sammlern geschätzt. Die Luba sind bekannt für Stühle bzw. Karyatidenhocker, mboko (Divinationsschalen), geschnitzte Bogenhalte und lukasa (Erinnerungsbretter), vergeistigte Darstellung der Sakralität der gesellschaftlichen und kosmischen Ordnung des Königtums in Form eines Menschen.
Angola: Chokwe
Die Chokwe leben im Südwesten der Demokratischen Republik Kongo und im Nordwesten Angolas. Ihre politische Macht zeigten die Chokwe in der Kunst, in der soziale Attribute besonders hervorgestrichen wurde. Sie sind für Masken, Tänze, figurale Skulpturen, Sandzeichnungen und Wandmalereien bekannt.
Nützliche Links
The University of Iowa: Art and Life in Africa
Ausstellung im Metropolitan Museum, New York: Heroic Africans. Legendary Leaders, Iconic Sculptures
National Commission for Museums and Monuments, Nigeria: Kingdom of Ife
Romuald Hazoumé: http://www.zeit.de/2006/46/Der_wahre_Picasso/komplettansicht
Afrikanische Kunst: Bilder
- Eingang zur Afrika-Ausstellung des Ethnologischen Museums in Berlin (Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)
- Kota, Reliquiarfigur (Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)
- Ateu Atsa (um 1840–1910, Bangwa / Kameruner Grasland), Königsporträt (Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)
- Ife (Nigeria), Frauenkopf, 12.–15. Jhdt, Terrakotta, Höhe: 19 cm (Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)
- Afrikanische Masken (Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)
- Reliquiarfigur bwiti, Gabun oder Republik, Kongo, Kota oder Kélé, 19. Jh., Holz, Kupfer, Messing, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, © SMB, Ethnologisches Museum, Martin Franken
- Weibliche Figur, Königreich Benin, 17. oder 18. Jh., Messing, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, © SMB, Ethnologisches Museum, Martin Franken
- Mangaaka, Kongo, Yombe, 19. Jh, Holz, Eisen, Porzellan, Farbpigmente, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, © SMB, Ethnologisches Museum, Claudia Obrocki
- Gedenkfigur des Königs Fosia, Ateu Atsa, Kamerun, Bangwa, 19. Jh., Holz, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, © SMB, Ethnologisches Museum, Claudia Obrocki
- Chibinda Ilunga, Angola Chokwe, 19. Jh., Holz, Baumwollgewebe, Haare, Pflanzenfasern, Glasperle, Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, © SMB, Ethnologisches Museum, Claudia Obrocki
- Insgesamt umfassen die Sammlungen aller Kulturen der Welt etwa 500.000 Objekte. Siehe Ausst.-Kat., S. 18. In Anzahl und Bedeutung wird die Berliner Sammlung afrikanischer Objekte einzig mit dem British Museum in London verglichen. Siehe: Isabel Dean, Die Musealisierung des Anderen: Stereotype in der Ausstellung „Kunst aus Afrika“, 2010, S. 71.
- Diese Präsentation nahm eine „erfolgreichen Umweg über Brasilien“, wo sie in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Rio de Janeiro und dem Centro Cultural Banco do Brasil 2003/04 für riesiges Interesse sorgte und zwei Preise brasilianischer Kunstkritikervereinigungen gewann.
- Zitiert nach Ausst.-Kat., S. 19.
- Zitiert nach Ausst.-Kat., S. 19.
- Vgl. Herbert M. Cole, Icons. Ideals and Power in the Art of Africa, 1989.
- Das Grasland ist eine Region in Kamerun, in dem zahlreiche unabhängige Königreiche nebeneinander bestehen. Während der Kolonialzeit versuchte man die nördlichen Reiche unter dem Begriff „Tikar“ und die südlichen unter dem der „Bamileke“ zusammenzufassen. Zudem leben im Osten die Bamum, deren Masken zu den bekanntesten Kunstprodukten Kameruns zählen. Die Könige ließen ihre Macht und die Legitimation ihres Status mit Hilfe von Porträts darstellen. Kontrolliert wurde der gottgleiche Herrscher durch Geheimbünde und auch die Königinmutter.
- So die ihm gewidmete Ausstellung im National Museum for African Arts in Washington.
- Bernhard Gardi, Kunst in Kamerun. Waldland und Grasland. Ausgewählte Stücke aus den Sammlungen des Museums für Völkerkunde Basel und der Basler Mission (Ausst.-Kat. Museum für Völkerkunde und Schweizerisches Museum für Volkskunde Basel), Basel 1994, S. 27.