„Im Schnitt eines Lucio Fontanas steckt eine Salatgurke / Pinker Wackelpudding auf der zweithöchsten Erhebung einer Bronzeskulptur von Henry Moore / Der Künstler aus Marmelade auf ein Butterbrot gestrichen“. Dergleichen rezitieren drei Performer auf Podesten anlässlich der Eröffnung der aktuellen Ausstellung im Lehmbruck Museum als Wortskulpturen. Und sofort ist klar, wer hier am Werk ist: Erwin Wurm, der sich selbst als Befreier der Kunst von ihrer historischen Instrumentalisierung feiert.
Eine Gemeinschaftsausstellung des Lehmbruck Museums mit dem MKM Museum Küppersmühle
Deutschland | Duisburg: Lehmbruck Museum
7.7. – 29.10.2017
Deutschland | Duisburg: MKM Museum Küppersmühle
7.7. – 3.9.2017
In zwei Häusern der Stadt Duisburg – man fühlt sich an die Situation dieses Jahr in Wien erinnert – wird das „Wurmiversum“ in Form einer gemeinsamen Überblicksschau vorgestellt. „Der Künstler hat uns überzeugt, ihm das ganze Museum zur Verfügung zur Stellen“, scherzt Söke Dinkla, Direktorin des Lehmbruck Museums. „Das männliche Prinzip“ sei der thematische Schwerpunkt der Ausstellung in ihrem Haus. Und schon ist man mit den ersten Klischees konfrontiert. Der Ausstellung zufolge bedeutet dies nämlich: schnelle, teure Autos, kopflose Männer in großen Anzügen und harter Alkohol. Direkt beim Eingang erwartet den Besucher der „aufgeblasene“ oder auch gern als „adipös“ bezeichnete rote Porsche Carrera. In der Ausstellung selbst ist eine Serie von Prototypen zu sehen, kleine, Anzug-tragende Männerskulpturen, welche durch einen Schnitt zerteilt und neu zusammengesetzt wurden. Einer davon – „Halber Big Suit“ – wurde groß, das heißt als sechs Meter hoher Aluminiumguss, umgesetzt. Anstelle der zweiten Körperhälfte steht nun ein Bein im 90 Grad Winkel ab.
Das komplette Obergeschoss ist mit einer Wurm-Tapete ausgekleidet: Campari-trinkend, Kurier-Zeitungsrolle-trötend, als Wurm-Spinne, als Wurm-Schlange, in Walk-like-an-Egyptian-Pose und als Dreiköpfiger. Sie prägen das Ambiente für die Drinking Sculptures. Als Requisiten hat Wurm Möbel der 70er Jahre präpariert. Drehtüren werden zu Schiebetüren und die Aufstellrichtung ist bei so manchem Stück verkehrt. In den Möbeln „versteckt“ befindet sich unterschiedlicher harter Alkohol. Über eine Handlungsanweisung wird der Besucher dazu aufgefordert, sich zu betrinken: „Die Skulptur ist realisiert, wenn der Akteur betrunken ist.“ Indem die einzelnen Versatzstücke Namen bekannter – der Überlieferung nach dem Alkohol zugewandter – Künstler wie Martin Kippenberger (→ Martin Kippenberger: XYZ), Francis Picabia (→ Francis Picabia: Unser Kopf ist rund) oder Jackson Pollock tragen, wird dem Kunstbesucher eine Reihe Interpretationsmöglichkeiten geliefert: Man wird erinnert an den Künstler-Mythos, Rausch und Exzess als Inspirationsquelle zu verwenden. Die Arbeiten Erwin Wurms können auch provokativ als Persiflage auf die Vernissage-Routine gelesen werden, Betonung auf können, denn Wurm lässt seine Arbeiten für jegliche Interpretation offen.
Im letzten Raum präsentiert der Künstler seine aktuellsten Arbeiten, in dem er Österreich auf der Biennale vertritt (→ Brigitte Kowanz & Erwin Wurm | Biennale 2017). Die intensive Auseinandersetzung mit seinem Heimatland sei es auch, die ihn zu diesen beiden Arbeiten „Land der Berge“ und „Vaterland“ inspiriert habe. Ersteres ist eine Serie von 55 Tonbergen oder eher Tonklumpen, welche in Bronze gegossen wurden. Diverse Objekten wie Gummiringe, Bleistifte, Hammer oder ein Farbtopf verschmelzen mit den Klumpen. Zentral dahinter „Vaterland“, eine Serie von 36 gerahmten braunen Schüttbildern aus Kaffee. „Ein möglicher Verweis auf die Wiener Kaffeehaustradition und die Farbgebung kann auch politisch interpretiert werden“, wie Kuratorin Ronja Friedrichs anmerkt. Ganz schön tiefgründig, was Erwin Wurm bei seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Land Österreich eingefallen ist: Berge und Kaffee.
In der 15 Gehminuten entfernten Küppersmühle hat Wurm schon großflächig seine Fäden gesponnen – in Form eines 90 Meter langen, raumhohen, froschgrünen Pullovers, der über mehrere Aussparungen für den Kopf und Ärmel als solcher zu erkennen ist. Über fünf Räume zieht sich der Pullover, sodass er nur im Abschreiten der Räume als Ganzes erfahrbar wird. Generell widmet sich der Teil der Ausstellung in der Küppersmühle speziell den textilen Arbeiten: Pullover, die verkehrt herum angezogen werden, lange Unterhosen, die zu Mülleimern umfunktioniert werden, kopflose Kastenmänner im Anzug, der rote Sozialistenpullover, ebenso die blau-gelben Leinwände, welche Erwin Pröll als Sonnenkönig portraitieren, etc. pp.
Und weil es nicht anders sein kann: Erwin Wurms populäre One Minute Sculptures. Tennisbälle, Bücher bekannter Philosophen, leere Plastikflaschen, Vintage-Stühle werden als Versatzstücke, oder im Sinne George Brechts als „Aktions-Objekte“ angeboten. Der Künstler gibt die Handlungsanleitung in Form einer Zeichnung bzw. in wenigen Worten anbei. Wesentlich für die Realisierung der Skulptur ist das Innehalten für zumindest 20 Sekunden. In dieser Zeit soll es zu einem Perspektivenwechsel kommen, die Besucherin und der Besucher werden selbst zum Kunstobjekt und erfahren, wie es sich anfühlt und was es bedeutet, beobachtet, beurteilt und interpretiert zu werden. Die Haltung gilt es allerdings nicht zu verwechseln mit dem Joseph Beuys’schen „Jeder Mensch ist ein Künstler“ – der kreative Moment des Besuchers ist durch die Handlungsanweisung ausgeschalten. Der Akteur ist bloßes Material in den Augen des Künstlers.
Zwei fotografische Ganzkörperportraits „Me / Me Fat“ dokumentieren ein skulpturales Selbstprojekt des Künstlers aus der Periode 1994 bis 1997. Festgehalten wird der Zu-und Abnehmprozess, der für Wurm eine bildhauerische Qualität hat, in dem Künstlerbuch „Erwin Wurm von Konfektionsgröße 50 zu 54 in acht Tagen“, welche die ungesunden Mahlzeiten und den bewussten Bewegungsentzug des Künstlers dokumentarisch festhalten. Man fühlt sich kurz an den Film „Super Size Me“ (2004) erinnert. In einer weiteren Fotoserie „Instructions for Idleness“ (2001), welche aus Selbstporträts des Künstlers besteht, illustriert Wurm Ratschläge wie „stay in your pajamas all day“, „don’t work“ oder „don’t even close your mouth while eating“.
Die unterschiedlichen Interpretationen seiner Arbeiten interessieren Wurm selbst nicht, er propagiert die absolute Zweck- und Sinnlosigkeit seiner Kunst. Nur so könne die Kunst von ihrer Jahrtausende langen Instrumentalisierung befreit werden. In der konkreten Umsetzung dieser Zielsetzung tut sich allerdings ein Missverständnis auf. Wurm präsentiert dem Kunstpublikum in seinen Arbeiten einfache visuelle Codes, die es gelernt hat zu verstehen und zu deuten und führt sie damit aber in die Irre. Weil es ihm eben genau nicht um die Entschlüsselung und Ausdeutung dieser Symbole geht, sondern um die Befreiung von jeglichen Assoziationsketten und Bedeutung.
Im April 2016 meinte Wurm in einem Interview mit der Bild-Zeitung, dass Österreich sein Nährboden sei. „Ich brauche das Skurrile. Der Österreicher ist fähig mit seinem Charme eine richtige Sauerei zu servieren, ohne dass der andere weiß: Wie war das jetzt gemeint?“ Und genau so ist es mit seiner Kunst. Es ist ein intellektuelles Spiel, das er mit seinem Publikum treibt und das sich selbst in seinem Spiel gefällt. Die Fragen, welche seinem Skulpturbegriff zugrunde liegen, sind: „Was macht den Menschen in unserer Gesellschaft heute aus? Was sind seine Schwächen, Fehler und Manien?“ Die Antwort darauf lautet: Die Eitelkeit ist die größte Schwäche der Menschen. „Des Kaisers neue Kleider“ ist auch im 21. Jahrhundert noch aktuell - mit Erwin Wurm als charmanten, witzreichen Weber, wie sein 90-Meter langer Pullover augenscheinlich zeigt. Dergleichen kann nämlich nur von denen verstanden werden, die das Wesen seiner Kunst wahrhaftig begriffen haben.
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