Mit dem so genannten „nonhuman turn“ richtet sich unsere Aufmerksamkeit zunehmend auf andere Lebensformen als die menschliche. Die neue Popularität von Zierpflanzen im privaten, im urbanen und im digitalen Raum scheint nur ein Nebeneffekt davon zu sein.
Die Ausstellung „Grüne Moderne. Die neue Sicht auf Pflanzen“ führt uns zurück ins frühe 20. Jahrhundert und wie die Künste Pflanzen betrachteten — nicht die Natur im großen Maßstab, sondern einzelne Pflanzen. Beim Lesen von Walter Benjamins Text „Neues von Blumen“ aus dem Jahr 1928 werden wir Zeuge vom Aufkommen visueller Innovationen:
Deutschland | Köln: Museum Ludwig
17.9.2022 – 22.1.2023
#gruenemoderne
„Ob wir das Wachsen einer Pflanze mit dem Zeitraffer beschleunigen oder ihre Gestalt in vierzigfacher Vergrößerung zeigen – in beiden Fällen zischt an Stellen des Daseins, von denen wir es am wenigsten dachten, ein Geysir neuer Bilderwelten auf.“
„Die Grüne Moderne“ im Museum Ludwig zeigt Aspekte des visuellen Nachdenkens über Pflanzen vor dem Hintergrund botanischer Erkenntnisse während der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Kunstwerke werden botanisch und gesellschaftshistorisch rekontextualisiert, um die neue Sicht auf Pflanzen in einer Zeit technischen, gesellschaftlichen Wandels schärfer zu konturieren. Nicht nur Benjamin faszinierten die Fotografien von Pflanzen unter dem Mikroskop oder Aufnahmen im Zeitraffer. Die Kinos waren voll als „Das Blumenwunder“ das Pflanzendasein ganz neu vor Augen führte. Dabei lagen dem „Wunder“ Zeitraffer-Laboraufnahmen von Experimenten mit dem ersten künstlichen Dünger zugrunde.
Fotografische Vergrößerungen von Blättern, Knospen, Stielen abstrahierten die Pflanze bis zur Unkenntlichkeit und wurden in Buchform populär, wie Karl Blossfeldts „Urformen der Kunst“. Auch in Malerei, Grafik und Skulptur der Weimarer Republik grünte es. Schließlich eröffnete die neue Architektur mit ihren größeren Fenstern ganz neue Möglichkeiten für so genannte „Zimmergärten“. Kakteenfenster kamen in Mode, während die „Kakteenjagd“ in Amerika Raubbau an der Natur betrieb. Dekorative Pflanzen eroberten die Stadt. Und während man in historischen Dokumenten meist Männer sieht, die Kakteen jagen, war es den Frauen überlassen, sich um die „exotischen“ Pflanzen zu kümmern. Aber Flora, das zeigt der Blick in Modemagazine, war eben noch im 20. Jahrhundert weiblich konnotiert. Die Rezeption von Carl von Linnés binärer Geschlechterdifferenz der Pflanzenwelt zeigt exemplarisch, dass über Pflanzen nachzudenken immer auch heißt, über das Menschsein nachzudenken.
So sachlich eine Topfpflanze im Bild auf den ersten Blick also vielleicht aussehen mag – sie ist Teil eines Diskurses, der mitten hineinstößt in die großen Themen der Moderne: Exotismen und Emanzipation, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung, Beschleunigung und Entschleunigung.
Mit ihrem Lied vom kleinen grünen Kaktus besangen die Comedian Harmonists ein Gewächs, das zu Anfang des 20. Jahrhunderts außerordentlich populär war. „Gejagt“ wurden die Kakteen in den beiden Amerikas, um für den deutschen Markt weitergezüchtet und verkauft zu werden. Wie ein Großwildjäger ließ sich der Pflanzensammler Curt Backeberg in weißer Kleidung und mit Lasso im Arm neben einem meterhohen Kaktus porträtieren. Insofern waren die Zimmergärten, die gepflegt, besungen, fotografiert und gemalt wurden, koloniale Zimmergärten. Wer modern sein wollte, umgab sich zuhause mit Kakteen, Gummibäumen und anderen Pflanzen, die im Freien nur in wärmeren Klimazonen wuchsen, aber dank Kohleheizung und großer Fenster im privaten Innenraum zur Geltung gebracht werden konnten. Aenne Biermann fotografierte die Kakteen ihrer eigenen Sammlung, Albert Renger-Patzsch sprach Empfehlungen zur Aufnahme von Kakteen für Hobby-Fotograf:innen aus, die Kunsthistorikerin und Sammlerin Rosa Schapire ließ sich von Karl Schmidt-Rottluff ein „Kakteenheim“ gestalten. In Interieur-Zeitschriften präsentierte man derweil Stahlrohrmöbel ganz selbstverständlich neben Kakteen.
Im Blumenkleid zitierte auch die Neue Frau nach 1918 noch Flora, die Göttin der Blüte. In einer Zeit zunehmender „Geschlechterunordnung“, in der kurze Haare nicht länger die sexuelle Identität einer Frau markierten und Magnus Hirschfeld geschlechtsangleichende Operationen vornahm, blieb die Blume in der Mode präsent: August Sanders rauchende Garçonne Anneli Strohal trägt Blumen auf ihrem Kleid, so wie Lili Elbe schon vor ihren Operationen. Und Marlene Dietrich lässt dem Knopfloch ihres dunklen Anzugs eine überdimensionierte Blüte entspringen, einem Augenzwinkern gleich, denn die Angst vor der „Vermännlichung“ der modernen Frau war immer wieder formuliert worden. Die Aneignung von Blüten als passives Lockorgan im Dienste der Fortpflanzung findet sich in wohl rituellster Ausformung in Hochzeitsbildern, im Haar und in den Händen der Bräute. Auch unter der Kleidung, nämlich als Tattoo, entfaltete sich Florales, wie ein Blick auf die Tätowierkunst Christian Warlichs aus den 1920er Jahren zeigt.
Der Fotograf Karl Blossfeldt interessierte sich nicht für Pflanzen, deren Namen und Verwendung. Was ihn interessierte, war ihre Form, die er für die Fotografie – manchmal bis zur Unkenntlichkeit – zurechtstutzte, damit Kunstgewerbler:innen sie als Vorlage für ihre Entwürfe nutzen konnten. Auch in der professionellen Floristik diente die Pflanze als „Baustoff“. Andere, wie der Künstler Karl Schmidt-Rottluff, verwendeten Blumen wie den giftigen Rittersporn für eine kontrastreiche Farbigkeit im Bild.
Nicht nur den Philosophen Walter Benjamin faszinierten die Fotografien von Pflanzen unter dem Mikroskop oder Aufnahmen im Zeitraffer. Die Kinos waren voll, als 1926 Das Blumenwunder das Pflanzendasein ganz neu vor Augen führte. Dabei lagen dem „Wunder“ Zeitraffer-Laboraufnahmen von Experimenten mit dem ersten künstlichen Dünger zugrunde, der helfen sollte, die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Dass die Pflanze lebt, sich bewegt, einen Puls habe und ermüden könne, beschrieb der Physiker Jagadish Chandra Bose in seinem populären Buch Die Pflanzenschrift. Zur gleichen Zeit ließ der Biosoph Ernst Fuhrmann Pflanzen dramatisch beleuchtet und inszeniert für seinen Fotoband „Die Pflanze als Lebewesen“ ablichten. Die Grenzen zwischen den Lebensformen waren fluider geworden und so wundert es nicht, dass in Film und Literatur der Weimarer Republik auch Horrorfantasien von Pflanzen zu verzeichnen sind, etwa zur fleischfressenden Pflanze, deren Anerkennung in der Botanik erst mit Charles Darwin gelungen war.
Die heutige Popularität von Pflanzen ist sicherlich beeinflusst von einem Bewusstsein unseres Verbundenseins und unserer Abhängigkeit mit und von ihnen. Das vergegenwärtigt uns die Klimakrise nochmals deutlich. Grüne Moderne. Die neue Sicht auf Pflanzen wird daher Möglichkeiten nachhaltigen Ausstellungsmachens erkunden und zeigen. Es wird keine physischen Leihgaben in der Ausstellung geben und der Katalog wird online publiziert. Die Ausstellungsarchitektur wird aus recycelten Elementen bestehen und eine Kooperation mit dem Museumsrestaurant wird die pflanzenbasierte Speisekarte erweitern, unter anderem mit Kürbissen, die auf der Dachterrasse des Museums wachsen, als Teil der Strategie, das Museum Ludwig zu begrünen.
Kuratiert von Miriam Szwast, beraten von Suzanne Pierre.
Quelle: Museum Ludwig
Hans Arp, Max Baur, Arthur Benda, Aenne Biermann, Karl Blossfeldt, Otto Dix, Alfred Eisenstaedt, Hugo Erfurth, Max Ernst, Otto Feldmann, Ernst Fuhrmann, Albert und Richard Theodor Gottheil, Erich Heckel, Heinrich Hoerle, Ernst Ludwig Kirchner, Werner Mantz, Franz Pichler jr., Anton Räderscheidt, Albert Renger-Patzsch, Ludwig Ernst Ronig, August Sander, Karl Schenker, Karl Schmidt-Rottluff, Richard Seewald, Friedrich Seidenstücker, Franz Wilhelm Seiwert, Renée Sintenis, Carl Strüwe
Außerdem: Marta Astfalck-Vietz, Jagadish Chandra Bose, Comedian Harmonists, Lili Elbe, Wilhelm Murnau, Max Reichmann, Christian Warlich u.a.