Zum ersten Mal in ihrer 20-jährigen Geschichte widmet die Neue Galerie in New York dem österreichischen Expressionisten Egon Schiele (1890–1918) eine Einzelausstellung. Nachdem die Schau zu Gustav Klimts Landschaftsmalerei Anfang 2024 lyrische Kompositionen aus dem Salzkammergut in die USA brachte, zeigen Schieles Landschaften und Naturdarstellungen hauptsächlich kleinstädtische Motive: Tulln an der Donau, Krumau an der Moldau (heute Český Krumlov), die Felder von Neulengbach oder auch die Adria bei Triest lassen einen melancholischen Blick auf ländliche Regionen zu. Im Herbst 2024 zeigt Christian Bauer, Kurator des Egon Schiele Museum in Tulln, die Modernität Schieles, indem er den Blick des Malers auf die Natur untersucht.1
USA | New York: Neue Galerie
17.10.2024 – 13.1.2025
„Ich bin durch Klimt gegangen bis März. Heute glaub ich bin ich der ganz andere.“2
Die Neue Galerie nimmt diesen Ausspruch des jungen Künstlers ernst, denn, um in die Schiele-Ausstellung zu kommen, muss man Gustav Klimt und Carl Moll – zwei Hauptvertreter der Wiener Moderne – gehen. Schiele und Gustav Klimt werden in der österreichischen Kunstgeschichte gleichermaßen als Lehrer und Schüler wie auch als Antagonisten dargestellt. Als Schiele im Alter von 16 Jahren an der Akademie der bildenden Künste aufgenommen wurde, befand sich der eine Generation ältere Klimt bereits am Höhepunkt seines Ruhms: Er hatte u.a. gemeinsam mit Carl Moll die Wiener Secession 1897 mitbegründet und zwei Jahre als Präsident geleitet; eine Goldene Medaille auf der Pariser Weltausstellung von 1900 erhalten; die Damen der Gesellschaft standen Schlange, um sich von ihm porträtieren zu lassen; seine Sommerfrische verbrachte er seit 1900 am Attersee in Oberösterreich, dessen Umgebung er in seinen Gemälden ein Denkmal setzte. Es verwundert nicht, dass sich Schiele Klimt als Vorbild wählte, während er in seinem Akademielehrer, dem Historisten Christian Griepenkerl, einzig einen Techniker erkennen konnte.
Ein erstes erhaltenes Skizzenbuch Schieles aus dem Sommer 1906 offenbart, welch Talent der junge Mann hatte: Ein heranbrausender Zug legt sich in die Kurve, daneben ein schnell skizzierter Baum gekonnt aquarelliert. Ansichten von Krems und erste Baumstudien, gefolgt von skizzenhaften Aquarellen und Pastellzeichnungen der Landschaft rund um Tulln sind um noch ungelenke Skizzen nach antiken Skulpturen ergänzt. Mit Arbeiten wie diesen muss sich der 16-jährige an der Kunstgewerbeschule beworben haben, die ihn flugs ermutigte, sich an der Akademie einzuschreiben. Von seinem dortigen Lehrer, wie oben bereits angedeutet, findet sich in Schieles frühem Werk nichts. Die in New York ausgestellten Ölskizzen und Landschaftsstudien aus den Jahren 1907/08 belegen, wie sich Schiele mit dem Impressionismus und Jugendstil auseinandersetzte – und spätestens 1908 mit den „Hafen von Triest“ (1908) sich letzterer Bahn brach.
Krumau – die tote Stadt
Krumau (heute: Český Krumlov), der Geburtsort von Schieles Mutter, thematisierte er nachweislich erstmals im Jahr 1906. Dort hin „floh“ der Maler, wenn ihm Wien „zu eng“ wurde und seine Künstlerfreunde ihm den frühen Erfolg neideten. Nach Krumau nahm er aber auch seine „Lieblingsmenschen“ mit: Anton Peschka, Studienfreund und späterer Schwager, Erin Osen, Schauspieler, und Wally Neuzil, Modell und geschäftstüchtige Lebenspartnerin. Wie Christian Bauer in seinen letzten Publikationen darlegte, nahm Schiele aktiv am gesellschaftlichen Leben der böhmischen Stadt teil. So beteiligte er sich sogar an Flugexperimenten, wie Peschka in einer emphatischen Nachricht an Schieles Schwester Gerti berichtete.3
Schieles bis 1911 jährliche Aufenthalte in Krumau führten zu einer Serie von Städtebildern, die er unter dem Titel „Tote Stadt“ zusammenführte. Mit „Stadt am blauen Fluss“ (1911, Leopold Museum) setzt das expressionistisch-symbolistische Werk des Wieners ein. Dicht drängen sich die Häuser an einem Flussufer, als Vorbild wählte Schiele die durch Krumau mäandrierende Moldau. Neben den St. Pöltner und Wiener Leihgaben kann die New Yorker Schiele-Schau auch mit in Europa selten zu sehenden Werken aus amerikanischen Sammlungen aufwarten.
Schiele nahm gern die Vogelperspektive ein, um den Blick über Häuserreihen und Straßenzüge zu führen. Rasch entscheidet er sich seinen Kompositionen an einem orthogonalen Raster anzulehnen, was er erst ab etwa 1915 durch in die Tiefe führende Kreissegmente oder Diagonalen ergänzte. Dynamische Strichführung („Wiese, Kirche und Häuser“, 1912) und Linienkompositionen („Die kleine Stadt I (Tote Stadt VI)“, 1912; „Flusslandschaft mit zwei Bäumen“, 1913) existieren anfangs noch nebeneinander, bevor letztere den Sieg davon trug („Einzelne Häuser (Häuser mit Bergen)“, 1915). Inhaltlich verband Schiele Tod und Leben, Vergänglichkeit und Beständigkeit in den gealterten Strukturen der Stadt.
Auch wenn Schiele in seinem Werk Figur und Landschaft strikt voneinander trennte, wie in der Hängung unterstrichen wird, so offenbart die Gegenüberstellung doch die Verbindungslinien zwischen den Themenkreisen vom Formalen bis zum Inhalt. Denn Christian Bauer stellt den Natur- und Städtebildern, kunsthistorisch gehören beide zur Gattung Landschaftsmalerei, Figurenbilder gegenüber: Zentral flankieren das „Porträt des Malers Karl Zakovšek“ (1910) und das „Porträt von Gerti Schiele“ (1909), zwei Frühwerke auf weißem Grund, das symbolistische Werk „Mann und Frau I (Liebend I)“ (1914). Ein Auszug aus dem Schiele-Gedicht „Künstler“ von 1910 stimmt das Publikum in das Thema ein. Im Ganzen lautet es: „Die höchste Empfindung ist Religion und Kunst. Natur ist Zweck –, aber dort ist Gott, und ich empfinde ihn stark, sehr stark, am stärksten.“4 Die mystisch-religiöse Naturauffassung Schieles findet in der Verbindung von Frau und Blumen bei Gerti einen Widerhall, genauso wie die Liebenden in ihrer nahezu monochromen Farbgebung, dem ornamentalen Auffassen der Formen an pflanzliche oder landschaftliche Strukturen erinnern. Mensch, Natur, Berge oder Gebäude – alles unterwarf Schiele den Gesetzmäßigkeiten seiner Natur- und Kunstwahrnehmung, seinem stark stilisierenden Stil. Dabei lehrte ihn die Topografie der Stadt Krumau den Blick von oben als vermeintlich „natürliche“, „alltägliche“ wie gleichwohl distanzierende Perspektive.
Zu den Hauptwerken der Ausstellung gehört „Stadt im Grünen (Die Altstadt III)“, von einem Aussichtspunkt aus dargestellt. Obwohl der genaue Ort dieser Szene unklar ist, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine fantasievolle Komposition, die auf Schieles Studium von Krumau und seiner Umgebung basiert. Hier ist die Stadt zwischen dichten, grünen Baumgruppen eingeklemmt. Untypischerweise hat Schiele sogar die farbenfrohen Straßen mit Figuren bevölkert, die in die Details des täglichen Lebens vertieft sind. Krumau, eine malerische mittelalterliche Stadt mit markanten ineinandergreifenden Gebäuden und historischen Bauten, faszinierte ihn.
Gelegentlich wechselte Schiele seine Linse von der Makro- zur Mikroansicht und richtete seine Aufmerksamkeit auf einzelne Pflanzen und Bäume. Sonnenblumen gehörten zu seinen Lieblingsmotiven. Er malte sie in allen Lebensstadien – in voller Blüte bis hin zu braun und verwelkt. Es ist leicht vorstellbar, dass er diesen Blumen anthropomorphe Eigenschaften verleihen wollte. Schiele ließ sich möglicherweise vom Beispiel Vincent van Gogh inspirieren, dessen Werke zu Schieles Lebzeiten in Wien ausgestellt wurden, unter anderem in den Jahren 1906 und 1909.
„Die Natur“, so schreibt Christian Bauer in seinem Katalogessay, „war ohne Zweifel die große Liebe in Egon Schieles Leben“5. Auch wenn der Expressionist für seine figürlichen Darstellungen weltberühmt wurde, so nehmen Landschaften und Städtebilder einen wichtigen Teil seines malerischen Gesamtwerks ein. Sich den Landschaften Schieles zu widmet, bedeutet, sich vor allem mit dem Frühwerk und dann den „späten“ Bildern des im Alter von nur 28 Jahren verstorbenen Künstlers zu beschäftigen. Auch wenn auf den ersten Blick bereits auffällt, dass er menschliche Figuren aus den Landschaften „heraushielt“, so stehen die Amalgame von Häusern oder Pflanzen doch immer stellvertretend für den Menschen. Schieles schriftliche Äußerungen zu Landschaften sind umfangreich und konzentrieren sich auf das subjektive Empfinden, die individuelle Sinneswahrnehmung, und sie vermitteln eine Vielzahl von Eindrücken.6 Daraus ergeben sich, so Bauer, erhebliche Überschneidungen mit den Selbstporträts des Künstlers,7 wie in der Darstellung einer verblühten „Sonnenblume I“ (1908, Niederösterreichisches Landesmuseum) und den dicht nebeneinanderstehenden „Sonnenblumen“ (1911) entnommen werden kann: Die hochaufgerichtete Pflanzen mit den hängendem Kopf als Metapher für den Menschen zu verwenden, kam bereits Vincent van Gogh und Gustav Klimt in den Sinn. Während diese beiden jedoch (zumeist) strahlende Exemplare für ihre Darstellungen nutzten, wandte sich Schiele den verblühenden Exemplaren zu. Vergänglichkeit weht durch Schieles Landschaften, Städtebilder und Pflanzenstudien. Das Verblassen interessierte ihn mehr als das blühende Leben:
„Ich weinte oft mit halb geöffneten Augen, wenn der Herbst kam.“
Dennoch sollte man diese poetischen Worte und die stimmungsvollen Herbstlandschaften nicht als autobiografische Äußerungen des Künstlers missverstehen. Sie führen bis zum heutigen Tag dazu, in ihm einen von Weltschmerz und Wehmut gezeichneten, jungen Mann zu sehen. Schiele war in den wenigen Jahren, die ihm vergönnt waren, als Ausstellungskünstler höchst erfolgreich. So endet die Schau in New York auch mit einem von ihm selbst modellierten Selbstbildnis und einem Entwurf für das Plakat der Gruppenausstellung in der Wiener Secession Anfang 1918. Schiele profilierte sich 1917/18 als emsiger Ausstellungsorganisator und Netzwerker, der zunehmend international wahrgenommen wurde, auch wenn die Welt gerade im „Großen Krieg“ versank. Als Schiele am 31. Oktober 1918 starb, war allen klar, dass mit ihm Wien 1900 zu Ende gegangen war.
Kuratiert von Dr. Christian Bauer, Kurator am Egon Schiele Museum Tulln, und ehemals Grndungsdirektor der Niederösterreichischen Landesgalerie in Krems
William Loccisano gestaltete die Ausstellung und den Katalog.