Nicolas de Staël
Wer war Nicolas de Staël?
Nicolas de Staël (Sankt Petersburg 5.1.1914–16.3.1955 Antibes) war ein französischer Maler russisch-baltischer Herkunft der Abstraktion (→ Abstrakte Kunst). Er war ein Vertreter der informellen Malerei, fand jedoch bald zu einem eigenen, stets unzeitgemäßen Stil (→ Abstrakter Expressionismus | Informel). De Staël ist für seine Verwendung eines dicken Impasto und seine hochabstrakte Landschaftsmalerei bekannt. Er arbeitete auch mit Collage, Illustration und Textilien.
Nicolas de Staëls arbeitete zwischen 1940 und 1955 15 Jahre als Künstler. Dennoch schuf er mehr als 1.000 Werke in dieser kurzen Zeit.
Kindheit
Nicolas de Staël wurde als Nikolai Vladimirovich Stael von Holstein (russisch: Николай Владимирович Шталь фон Гольштейн) am 5. Januar 1914 in St. Petersburg geboren. Seine Eltern waren der russische Generalleutnant, Baron Vladimir Stael von Holstein (ein Mitglied der Familie Staël von Holstein und der letzter Kommandant der Peter-und-Paul-Festung), und seine zweite Frau, Lubov Vladimirovna Berednikova (seine erste Frau war Olga Sakhanskaya). Sein Großvater war Leiter der zweiten Kavalleriedivision des Zaren, bevor er General wurde. Die Familie von de Staël musste 1919 wegen der Russischen Revolution nach Polen emigrieren; sowohl sein Vater als auch seine Stiefmutter starben im polnischen Exil in Ostrów. Der verwaiste Nicolas de Staël wurde mit seiner älteren Schwester Marina nach Brüssel geschickt, um bei der russischen Familie Friceros zu leben (1922).
Ausbildung
Nicolas de Staël studierte Dekoration und Design an der Académie Royale des Beaux-Arts in Brüssel und Architektur an der Académie de St. Gilles (1932). Bereits im Alter von 20 Jahren erhielt er erste Auszeichnungen.
Werke
Das Frühwerk de Staëls, das auf den Zeitraum von 1933 bis 1941 zu datieren ist und noch deutlich unter dem Eindruck von Künstlern wie El Greco, Pablo Picasso und Paul Cézanne stand, ist in weiten Teilen dem Zerstörungswillen des Künstlers zum Opfer gefallen und daher nur noch sehr lückenhaft rekonstruierbar. Im Jahr 1936 hatte er seine erste Ausstellung byzantinischer Ikonen und Aquarelle in der Galerie Dietrich et Cie, Brüssel.
Nach Reisen in die Niederlande, Frankreich (Paris, 1934), Spanien und einige Male nach Marokko, wo er 1938 die junge Malerin Jeannine Guillon kennenlernte, ließ er sich mit ihr und ihrem kleinen Sohn Antek 1938 in Paris nieder. Bereits 1939 lernte der Künstler die berühmte Galeristin Jeanne Bucher kennen, die sich für sein Werk interessierte. 1939/40 meldete sich de Staël zur Fremdenlegion in Tunesien, 1941 wurde er demobilisiert.
Hinwendung zur Abstraktion
1941 schloss er sich Jeannine Guillou in Nizza an und begann, einige Gemälde zu verkaufen und Kontakte zu geflüchteten Künstlern in der Region zu knüpfen: Hans Arp, Sonia Delaunay-Terk und Robert Delaunay, Alberto Magnelli, Christine Boumeester und ihr Mann Henri Goetz, Félix Aublet traf. Unter ihrem Einfluss entwickelt sich seine Malerei von der Figuration zur Abstraktion. Abstrakte Kunst galt zu dieser Zeit in kunstakademischen Kreisen noch weitgehend als gegenstandslos und sollte erst in den darauffolgenden Jahren den Status eines der bedeutenden, zeitgenössischen Ausdrucksmodi erlangen.
Im Folgejahr wurde die Tochter von Jeannine und Nicolas de Staël, Anne, geboren. Zur wachsenden Familie gehörte auch Jeannines neunjähriger Sohn Antoine. Noch während der Nazi-Besatzung kehrte de Staël mit Jeannine 1943 nach Paris zurück, wo er den Maler César Domela traf. Die Kriegsjahre waren äußerst schwierig: seltene Verkäufe, Entbehrungen, häufige Werkstattwechsel und vor allem der Tod seiner Lebensgefährtin Jeannine Guillou im Februar 1946.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden de Staëls Bilder in mehreren Gruppenausstellungen aufgenommen, und 1944 hatte er seine erste Einzelausstellung in der „Galerie l'Esquisse“. Im April 1945 hatte er eine Einzelausstellung in der Galerie Jeanne Bucher und im Mai 1945 wurden seine Bilder in den ersten Salon de Mai aufgenommen. De Staëls Werk wurde in diesem Jahr auch in den Salon d'Automne aufgenommen und bei einer Gruppenausstellung mit Wassily Kandinsky und César Domela in der „Galerie Jeanne Bucher“ gezeigt. 1944 lernte er in Paris Georges Braque kennen und freundete sich mit ihm an, und 1945 brachten ihm seine Ausstellungen großen Kritikererfolg ein. Doch die Zeiten waren schwierig, und die Erfolge kamen zu spät, denn Jeannine starb im Februar 1946 an einer durch Unterernährung verursachten Krankheit.
„Ich werde Ihnen immer unendlich dankbar sein, dass Sie dieses Klima schaffen konnten, in dem Braques Rhetorik umso besser ans Licht kommt, weil er sich der großen Brillanz verweigert hat, indem seine Bilder im Blitzlicht natürlich den Weg von Sophokles zum vertraulichen Ton von Baudelaire finden, ohne zu beharren und die große Stimme zu bewahren. Es ist einzigartig.“ (Nicolas de Staël über das Werk von Georges Braque in einem Brief an den amerikanischen Sammler David Cooper)
De Staël lernte Françoise Chapouton, eine Lehrerin seines Adoptivsohnes Antek, im Frühjahr 1946 kennen, und sie heirateten im Mai. In den Folgejahren wurden die gemeinsamen Kinder Laurence (April 1947), im April 1948 der Sohn Jerôme und schließlich 1954, als er bereits von seiner Familie getrennt lebte, der Sohn Gustave geboren.
Im Oktober 1946 schloss Nicolas de Staël dank seiner Freundschaft mit dem Künstler André Lanskoy, den er 1944 kennengelernt hatte, einen Vertrag mit Louis Carré. Dieser erklärte sich bereit, alle von ihm geschaffenen Gemälde zu kaufen. Im Januar 1947 zog die Familie de Staël dank der gestiegenen Bekanntheit und des gestiegenen Umsatzes in ein größeres Atelier. In diesem Jahr freundete er sich mit seinem Nachbarn, dem amerikanischen Privat-Kunsthändler Theodore Schempp, an. De Staëls neues Atelier in Paris lag in der Nähe von jenem Georges Braques; die beiden Maler wurden gute Freunde. Eine weitere Freundschaft verband de Staël mit dem deutschen Künstler Johnny Friedlaender.
Internationaler Erfolg
Nicolas de Staëls Bilder begannen weltweit Aufmerksamkeit zu erregen. 1950 hatte er eine Einzelausstellung in der „Galerie Jacques Dubourg“ in Paris, und Schempp führte die Gemälde von de Staël mit einer Privatausstellung in seiner Wohnung an der Upper East Side in New York ein. Er verkaufte mehrere Bilder an bedeutende Sammler, darunter Duncan Phillips von der Phillips Collection. De Staël hatte England in den frühen 1950er Jahren beachtlichen Erfolg in den Vereinigten Staaten und. Leo Castelli, der 1950 eine Gruppenausstellung in der „Sidney Janis Gallery“ in New York City organisierte, lud den Pariser Maler ein, daran teilzunehmen. Dem folgten 1952 Einzelausstellungen de Staëls in London, Montevideo und Paris.
Im März 1953 hatte Nicolas de Staël seine erste offizielle Einzelausstellung bei „M. Knoedler & Co.“ in New York City. Die Ausstellung war sowohl ein kommerzieller als auch ein künstlerischer Erfolg. 1953 widmete ihm die Phillips Gallery in Washington DC (heute: The Phillips Collection, Washington DC) eine Ausstellung, die zwei weitere Bilder erwarb. Bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahr 1953 besuchten de Staël und Francoise das MoMA, die Barnes Foundation in Merion, Pennsylvania, und verschiedene andere wichtige Institutionen in den USA.
Synthese von Abstraktion und Figuration
„Ich stelle abstrakte Malerei nicht gegen figurative Malerei. Ein Gemälde sollte sowohl abstrakt als auch figurativ sein. Abstrakt als Wand, figurativ als Darstellung eines Raums.“ (Nicolas de Staël, 1952)
Anfang der 1950er Jahre, insbesondere ab 1952, vollzog sich bei Nicolaes de Staël ein allmählicher Wandel von abstrakter hin zu figurativer Kunst, der in einer Synthese beider Stile mündete. Damit brach er abermals mit dem künstlerischen Zeitgeist, der sich zwischenzeitlich weitgehend auf abstrakte, ungegenständliche Kunst ausgerichtet hatte. Anlässlich seiner ersten Ausstellung in England präsentierte er Anfang 1952 die ersten Bilder seiner Rückkehr zur Figuration, nachdem er sich einige Monate zuvor geweigert hatte, sich in der von ihm so genannten „le gang de l'abstraction avant [die avantgardistische Abstraktionsbande]“ aufgenommen zu werden. Von nun an präsentiert Nicolas de Staël immer mehr figurative Werke, insbesondere in der „Galerie Jacques Dubourg“ sowie im „Salon de Mai“ in Paris, wo er seine größten Formate zeigt, darunter 1952 die Serie „Parc des Princes“.
Nicolas de Staël versuchte in vielen seiner Werke Abstraktion mit Gegenständlichkeit zu vereinen, womit er bei vielen anderen Malern (vor allem Vertretern der abstrakten Malerei) auf Ablehnung stieß. De Staëls oft sehr großformatige Bilder (z. B. „Le Concert [Das Konzert]“, 350 × 600 cm) sind durch kräftige und großflächig aufgetragene Farben gekennzeichnet. Ein weiteres Bild aus dieser Zeit ist sein stehender Akt „Nu debout“ aus dem Jahr 1953 (Sammlung Nathan, Zürich).
Nicolas de Stäel befasste sich in dieser Zeit zunehmend auch mit Druckgrafik und Illustration und kooperierte mit mehreren Dichtern, u. a. mit René Char und Pierre Lecuire. Im Jahr 1951 beauftragte René Char den Künstler mit der Illustration seines Buches „Poèmes“. Gemeinsam mit Lecuire brachte der Maler im Jahr 1953 das Buch „Voir. Nicolas de Staël“ heraus, das, nebst einiger weniger verstreuter Zeitungsartikel, als erste umfangreichere textliche Auseinandersetzung mit dem Werk de Staëls gilt und auch heute noch als kunsthistorisch bedeutsames Zeugnis anzusehen ist – nicht zuletzt aufgrund der persönlichen editorischen Beteiligung de Staëls.
Nicolas de Staël im Midi und in den USA
1953 bezog Nicolas de Staël, der im Jahr zuvor das Midi und sein Licht entdeckt hatte, sein erstes provenzalisches Atelier in Lagnes bei Avignon. In dieser Zeit ging er auch nach Amerika, um die Hängung seiner Werke während seiner ersten Einzelausstellung in den Vereinigten Staaten in der „Knoedler Gallery“, New York, zu überwachen. Es wurde von amerikanischen Sammlern sehr positiv aufgenommen.
Innerhalb seiner letzten drei Lebensjahre war Nicolas de Staël von einer außerordentlichen Produktivität ergriffen und schuf in dieser Zeit anteilig nahezu Dreiviertel seines gesamten, heute noch erhaltenen Œuvres. Auf großes Interesse stieß sein Werk insbesondere im Amerika und New York der 1950er Jahre in seiner Rolle als junge, aufstrebende Kunstmetropole neben dem eher klassizistisch-konservativ ausgerichteten Paris, zögerlicher dann auch in Frankreich, wo de Staël bis zu seinem Tod allerdings nur einschlägigen Fachkreisen ein Begriff war.
Nach seiner Rückkehr nach Paris traf de Staël den New Yorker Kunsthändler Paul Rosenberg, der Nicolaes de Staël einen Exklusivvertrag anbot. De Staël unterschrieb bei Paul Rosenberg, weil dieser Franzose war und ein wichtiger New Yorker Kunsthändler, der viele kubistische Maler zeigte, die Nicolas de Staël bewunderte. Ende 1953 war die Nachfrage nach de Staëls Gemälden so groß, dass Paul Rosenberg seine Preise erhöhte und immer mehr Gemälde anforderte. Die Nachfrage nach seiner geplanten Ausstellung im Frühjahr 1954 war so groß, dass Rosenberg weitere fünfzehn Gemälde anforderte. Wieder einmal war diese Ausstellung sowohl kommerziell als auch kritisch erfolgreich. Im April 1954 wurde de Staëls viertes Kind Gustave geboren. In diesem Frühjahr hatte er eine erfolgreiche Ausstellung in Paris in der Galerie von Jacques Dubourg. Seine neuen Gemälde markieren die Abkehr von der Abstraktion und die Rückkehr zur Figuration, zum Stillleben und zur Landschaft.
Tod
Im Herbst 1954 zog er mit seiner Familie nach Antibes. Kurz darauf verließ Nicolaes de Staël seine Familie und zog sich nach einem aufgrund vieler internationaler Ausstellungen und damit verbundener Reisen sehr anstrengenden Jahr nach Antibes zurück, wo er am Meer Ruhe finden wollte. Er litt unter Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Depressionen. Nach erfolglosen Versuchen, eine tiefe identitäre Schaffenskrise zu überwinden, und nach einem enttäuschenden Treffen mit dem herabsetzenden Kunstkritiker Douglas Cooper nahm sich der 41-jährige Maler am 16. März 1955, wie aus Abschiedsbriefen hervorgeht, von künstlerischen Selbstzweifeln und schweren Depressionen geplagt, durch einen Sprung vom Balkon seines Ateliers im elften Stock das Leben. Er hinterließ sein größtes Gemälde „Le Concert“ (3,5 x 6 Meter) unvollendet.
„Ich habe nicht die Kraft, meine Bilder fertigzustellen.“ (Nicolaes de Staëls Abschiedsworte)
Nicolas de Staël ist auf dem Friedhof von Montrouge begraben.
Nachruhm
Nicolas de Staël war posthum mit Werken auf der „documenta II“ (1959) und der „documenta III“ (1964) in Kassel vertreten. Die „documenta II“, kuratiert von Arnold Bode und Werner Haftmann, präsentierte Arbeiten des Abstrakten Expressionismus und der informellen Malerei als Ausdruck einer universellen Weltsprache; Nicolas de Staël wurde - neben Willi Baumeister, Wols und Jackson Pollock – ein monografisches Kapitel gewidmet. Es waren 24 Werke de Staëls zu sehen.