Otto Freundlich (10.7.1878–9.3.1943) entdeckte früh die Abstrakte Kunst, Gründungsmitglied der Novembergruppe (1918) und gehörte zu den verfemten Künstlern des NS-Staats. Zwischen 1908 und 1914 lebte Freundlich in Paris und schloss sich der Avantgarde im Bateau Lavoir an. Als Maler und Bildhauer sowie Autor kunsttheoretisch-philosophischer Schriften verfocht er die Idee, dass Kunst eine universelle Sprache wäre. Die abstrakten Kompositionen Freundlichs bestehen aus farbigen Facetten, die das Ideal eines geeinten sozialen Gefüges widerspiegeln.
Deutschland | Köln: Museum Ludwig
18.2. – 14.5.2017
Schweiz | Basel: Kunstmuseum Basel
10.6. – 10.9.2017
Das wohl berühmteste Werk Otto Freundlichs existiert nicht mehr. Die Plastik „Der Große Kopf“ (1912), die Max Sauerland für das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg bereits 1930 erworben hatte, zierte das Cover des Katalogs der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München 1938. Der Maler und Bildhauer aus Pommern hatte die 139 Zentimeter hohe Skulptur 1912 in Paris geschaffen, um den „geistigen Neubeginn“ vor dem Ersten Weltkrieg zu beschwören. Bereits seit etwa 1910 hatte er sich mit Kopfskulpturen und Zeichnungen mit diesem Thema beschäftigt, wie die Ausstellung in Köln erstmals nachweist.
Für August Sander war Otto Freundlich noch der Prototyp des „Malers und Bildhauers“ (um 1925). Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht ergriffen und alle unliebsamen Künstler als „entartet“ brandmarkten, lebte Freundlich seit nahezu zehn Jahren wieder in Paris. Sein Werk wurde aus den deutschen Museen beschlagnahmt, der jüdische Künstler diffamiert. „Der Große Kopf“ wurde auf der Ausstellung zentral präsentiert. Als er während der Tournee verschwand, stellten die Organisatoren einfach eine plumpe Kopie aus. Bis heute ist die Plastik verschollen.
Otto Freundlich lebte seit 1908 in der Stadt an der Seine und verkehrte in Künstlerkreisen des Montmartre (→ Schirn analysiert den Montmartre). Er lebte neben Pablo Picasso, Georges Braque, Amedeo Modigliani, Kees van Dongen und Juan Gris im berühmt-berüchtigten Bateau-Lavoir (dt. Waschboot). Kein Wunder also, dass sich nahezu alle Stile des frühen 20. Jahrhunderts in seinem Werk nachweisen lassen: Expressionismus, Fauvismus, Kubismus, Orphismus, Dadaismus, Suprematismus, De Stijl, Bauhaus, Konstruktivismus, mit den Kölner Progressiven und den Abstrakten setzte er sich auf überlegte Weise auseinander.1931 trat Otto Freundlich der Künstlergruppe Abstraction-Création bei.
Ein Schlüsselerlebnis wurden die farbigen Glasfenster der Kathedrale von Chartres, wo Otto Freundlich 1914 für ein paar Monate ein Atelier im Nordturm mietete. Viele seiner Werke sind aus kleinen farbigen Segmenten aufgebaut und weisen eine strenge Tektonik auf. Vor allem im Spätwerk tauchen auch Mischformen aus gebogenen und geraden Linien auf, die an gotische Spitzbögen erinnern. Die enge Verbindung des Künstlers zur angewandten Kunst zeigt sich in dessen Entwürfe für Mosaike, Teppiche und Glasmalereien. Dahinter steht das Konzept der Wiederbelebung der mittelalterlichen Zünfte. Die farbintensive, abstrakte Kunst sollte – so Otto Freundlich – die plastische Auffassung von Kunst ablösen. Freundlichs Kunstauffassung war aber nicht gänzlich rückwärtsgewandt, sondern zeichnet sich auch durch dessen Auseinandersetzung mit Carl Einsteins Raumkrümmung aus.
Für Kuratorin Julia Friedrich ist die Überwindung der Gegenständlichkeit durch Otto Freundlich nicht nur ein malereiimmanenter Diskurs, sondern sie streicht die soziale Dimension des Verlassens der Gegenständlichkeit hervor. Für Freundlich, so hält sie fest, war alle dingliche Wahrnehmung von Besitzdenken durchdrungen und damit überholt: „das Objekt als Gegenpol des Individuums wird verschwinden; also auch das Objekt-sein eines Menschen für den andern“. Nach dem Ersten Weltkrieg kämpfte der Künstler für den Kommunismus, da dieser seiner Meinung nach alle Grenzen auflösen würde. Den Zusammenklang der Farben in seinen Bildern sah der Maler in Paris und Köln stets in einem Zusammenhang mit dem großen Ganzen: „zwischen Welt und Kosmos, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mein und Dein, zwischen allen Dingen, die wir sehen“.
Kuratorin: Julia Friedrich (Museum Ludwig)
Am 10. Juli 1878 wurde Otto Freundlich in Stolp (Pommern/D) geboren. Er hatte jüdische Vorfahren.
1902 Freundlich inskribierte Kunstgeschichte und hörte u. a. bei Heinrich Wölfflin, Musiktheorie und Philosophie in München und Berlin
Er veröffentlichte erste Aufsätze in Zeitschriften.
1906/07 Studienreise nach Florenz. Hier entdeckte er Malerei und Skulptur als seine Leidenschaften.
1907/08 Privater Unterricht in Berlin bei Lothar von Kunowski und Lovis Corinth.
1908 Umzug nach Paris, wo er im Bateau-Lavoir lebte. Zu seinen Nachbarn gehörten Pablo Picasso, Georges Braque.
1911 Otto Freundlich gestaltete erste abstrakte Kompositionen.
1912 Plastik „Großer Kopf (Der Neue Mensch)“ (verschollen).
1914 Freundlich mietete sich für ein paar Monate ein Atelier im Nordturm der Kathedrale von Chartres. Die farbigen Glasfenster der berühmten Kirche wurden zu einem Schlüsselerlebnis für den Künstler.
1918 Gründungsmitglied der Novembergruppe als „Vereinigung der radikalen bildenden Künstler“. Ihr wichtigstes Ziel war die „engste Vermischung von Volk und Kunst“, um die neue demokratische Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches mitzugestalten. Teilnahme an der „Kunstausstellung Berlin“.
1919 Mosaik „Geburt des Menschen“. Otto Freundlich organisierte die „Erste Kölner Dada-Ausstellung“ gemeinsam mit Max Ernst und Johannes Theodor Baargeld.
1924 Neuerlicher Umzug nach Paris.
1929 Freundlich schuf seine erste Monumentalskulptur, „Ascension“.
1930 Die deutsche Künstlerin Jeanne (Hannah) Kosnick-Kloss wurde Freundlichs Lebensgefährtin. Max Sauerlandt erwarb die Plastik „Der große Kopf“ für das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg.
1931 Beitritt zur Gruppe Abstraction-Création.
1937 „Der große Kopf“ wurde es während der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt und in der gleichnamigen Ausstellung in München gezeigt. Ein verzerrtes Foto des Werks wurde auf dem Titelblatt des Ausstellungskataloges montiert.
1938 Otto Freundlichs „Großer Kopf“ erschien auf dem Titelblatt des Ausstellungsführers „Entartete Kunst“. Robert und Sonia Delaunay, Alfred Döblin, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso und viele andere unterzeichneten eine Petition zum Ankauf eines Werks von Freundlich durch den französischen Staat. Der Maler und Bildhauer schrieb „Der bildhafte Raum“.
1939 Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 3. September wurde Otto Freundlich für fast ein Jahr in Frankreich interniert.
1940 Mit Hilfe von Pablo Picasso konnte die Freilassung erwirkt werden (Ende Juni). Otto Freundlich floh in das Dorf Saint-Paul-de-Fenouillet in den Pyrenäen, das im Vichy-Regime lag.
1943 Französische Kollaborateure verrieten Otto Freundlich. Er wurde am 23. Februar des Jahres verhaftet und deportiert. Am 9. März 1943 wurde Otto Freundlich im KZ Lublin-Majdanek oder Sobibor ermordet.
Mit Beiträgen von Julia Friedrich, Joachim Heusinger von Waldegg, Geneviève Debien, Christophe Duvivier, Nina Schallenberg, Lena Schrage, Denise Vernerey, Christiane Wanken, Mandy Wignanek und Adolf Muschg
Hardcover
352 Seiten, 250 Farbabb.
Prestel Verlag