Als das Leopold Museum Tracey Emin (*1963) einlud, eine Soloshow in Wien auszurichten, entschied sich die britische Künstlerin spontan, Werke von Egon Schiele (1890–1918) zu integrieren. Für den Dialog mit einer Installation, Zeichnungen, Neon- und Soundarbeiten, großformatigen Stickbildern und kleineren Bronzeskulpturen wählte sie ein Gemälde, 14 Zeichnungen und Gedichte des österreichischen Expressionisten. Akte, Selbstbefragungen und das Gefühl von Einsamkeit bestimmen die Schau!
Österreich | Wien: Leopold Museum
24.4. - 14.9.2015
Tracey Emin hat sich für ein poetisches Gespräch mit dem Wiener Expressionisten entschieden, das die Gemeinsamkeiten hervorhebt. Im ersten Raum wächst eine fragil wirkende Hochschaubahn aus der Wand: „It’s not the Way I want to Die“ (2007) ist das Produkt eines (Alb-)Traumes, der Emin in ihrer Kindheit verfolgte. In Margate, einem Seeort mit Luna-Park namens „Dreamland“, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, träumte Tracey Emin schon als Kind, dass sie mit einem Wagen plötzlich auf der Hochschaubahn stehen blieb und sie sich selbst rettete, indem sie einen Phallus herunterkletterte. Die Hochschaubahn, Symbol für Auf und Ab im Leben, ist aus alten Brettern eines Hauses zusammengenagelt. Sie wirkt zerbrechlich, ihre beste Zeit ist schon lange vorbei. Die Fragmentierung und die irreale Position, das aus der Wand Herauskommen und wieder in dieser Verschwinden, lässt sie zu einem geheimnisvollen Objekt werden. Der Titel, der generell bei Emins Arbeiten essentiell aber nicht immer auflösbar ist, führt die subjektive Sicht der Künstlerin ein. Dem Satz „It’s not the Way I want to Die“ kann sich zweifellos jede und jeder anschließen, spielt die Hochschaubahn doch mit der Angst des Fallens, der Geschwindigkeit, des Kontrollverlusts, der Abhängigkeit von unsichtbaren Kräften und der Technik. Die „Rettung“ der Tracey Emin erfolgt in ihrem Traum aus sich selbst heraus und dennoch nur mit Hilfe des männlichen Glieds. „You Never Should have Loved Me The Way you did“ (2014) leuchtet in Neonschrift von der gegenüberliegenden Wand. Schwer, hier nicht als Emins Vergewaltigung als Dreizehnjährige zu denken, die sie in ihrer Autobiografie „Strangeland“ (2005) so beiläufig und lakonisch beschrieb. Ihr Werk, so analysiert die Künstlerin im Katalog selbst, wäre ein kathartischer Prozess, ein ständiger Dialog mit sich selbst.1
Dieser Dialog kann, genauso wie der künstlerische Prozess allgemein, nur in Einsamkeit erfolgen, weshalb Tracey Emin die Neon-Arbeit „More Solitude“ (2014) entwarf. Das in der Handschrift der Künstlerin geformte Lichtband taucht erst in der Mitte des Rundgangs auf und wird von einer Sound-Installation begleitet, in der Erinnerungen und Gefühle die Hauptrollen spielen. Das Persönliche bestimmt das Schriftbild des Lichtes wie bei einer Zeichnung, die technische Umsetzung erinnert an die Neonreklame aus Margate. In der Ausstellung sind noch weitere Neon-Schriftzüge und Texte der Britin verarbeitet, in denen Worte und Gedanken, die sie berührten oder nachdenklich stimmten. Im Grunde handeln sie alle von Emins privatesten Gefühlen.
Ihrer Einsamkeit stellt Tracey Emin zudem die Gedichte des jungen Schiele gegenüber. Diese sind expressiv-symbolistisch, von einem ähnlich romantischen Künstlerbild durchdrungen. Die Handschrift, das Schrift-Bild spielt bei beiden eine große Rolle: Doch was ist Stilisierung, was der Blick auf das „Wesen“, die „echte“ Persönlichkeit? Oder ist doch nur alles Verkleidung und Spiel? Zumal Egon Schiele seine Gedichte deutlich anders signiert als seine Zeichnungen und Gemälde!
Vereinzelung, Einsamkeit, Verlangen, Nacktheit, Angst sind sicherlich Begriffe, die auch im Zusammenhang mit Egon Schieles Landschaftsgemälden zu nennen sin. „Berg am Fluss“2 (1910) gehört zu den frühen Auseinandersetzungen des knapp zwanzigjährigen Künstlers mit Landschaft und Farbstimmung als Symbole für ausgesetztes, vielleicht auch leidvolles Leben. Gleichwohl setzt es der Achterbahn mit ihrer männlichen Konnotation eine symbolische weibliche Brust entgegen, wie Ko-Kurator Diethard Leopold meinte. In nahezu jedem Raum finden sich daher ein bis zwei Arbeiten des jungen Schiele, den die Britin erstmals in den 1980er Jahren über Bücher kennengelernt hat. Bis heute faszinieren Emin die ungeschönte Darstellungen menschlicher Körper, unkonventionellen Bilder von Erotik und Sexualität, das Zeichentalent des jung verstorbenen Künstlers (→ Egon Schiele. Gezeichnete Bilder).
Das Verhältnis zum männlichen Geschlecht ist dann auch eines der zentralen Themen in Tracey Emins Werk – ob in Stickereien, die auf ihren Zeichnungen basieren und von Mitarbeiter_innen umgesetzt wurden, ob in Bronzeskulpturen oder -reliefs, ob in dem aus rund 300 Monotypien bestehenden Animationsfilm „Diejenigen, die Liebe erleiden“ (2009), der nach Vorbild von pornografischen Aufnahmen der 1970er Jahre eine masturbierende Frau zeigt. Immer geht es um Emin selbst, die stellvertretend einsam, auch wenn sie manchmal nicht alleine Bildsujet ist. Ihre Auseinandersetzung mit dem eigenen, alternden Körper und dem Ich setzt die existentiellen Fragen nach dem Sein und der Vergänglichkeit desselben in Gang.
Die am meisten aufrüttelnden Arbeiten der Ausstellung sind m. E. die beiden Bronzeskulpturen „Jeder Teil von mir fühlt dich“ (2014) und „Ohne Gewissen“ (2014). Am Ende des Ausstellungsparcours lagern die fragmentierten, verdrehten Frauenkörper auf einfachen Holztischen. Sie bestehen aus Beinen, Hüften mit weiblichem Geschlecht. „Jeder Teil von mir fühlt dich“ besitzt auch noch einen Oberkörper. Köpfe und Arme fehlen. Die verstümmelten Körper sehen aus, als wären sie durch den Fleischwolf gedreht worden. Tracey Emin ging es wohl auch um die Frage von Fragmentierung der Körper, worauf die Gegenüberstellung mit Schieles „Selbstbildnis als Akt (Studie zur „Sema-Mappe“)“3 (1912) sowie „Torso auf blauem Tuch“4 (1910) hindeutet. Die Traditionslinie ließe sich hierfür bis zu Auguste Rodin ziehen, doch sind die Partialobjekte der Surrealisten der Gefühlslage Emins näher. Ihre Arbeiten lösen Assoziationen von Verstörung, Schmerz und Mitleid aus.
Tracey Emins Versuch, sich selbst zu finden, steht über der ganzen Ausstellung genauso wie über ihrem gesamten Werk. Ob das Werk wirklich so autobiografisch zu lesen ist, muss zwar kritisch hinterfragt werden, dennoch bezieht die Künstlerin einen Gutteil ihrer Strahlkraft aus der Suggestion von Privatheit und Intimität. Der Titel der Ausstellung - „Where I want to go“ - bleibt indes rätselhaft und ist wohl als melancholische Frage zu verstehen.
Am 3. Juli 1963 wurde Tracey Emin zehn Minuten nach ihrem Zwillingsbruder Paul in Croydon, einer Londoner Vorstadt, als uneheliche Tochter der Britin Cashin und eines zypriotischen Türken geboren.
1966 Umzug ins Hotel International in Margate.
1976 Emin wurde mit 13 Jahren vergewaltigt und verließ die Schule für zwei Jahre.
1978 Legte die Abschlussprüfung ab.
1980 Modedesign-Studium am Medway College of Design in Rochester. Begann mit Textilien zu experimentieren.
1982 Abbruch des Studiums, nachdem sie den Maler, Dichter und Musiker Billy Childish kennengelernt hatte, der sie zu einer künstlerischen Laufbahn ermutigte.
1983–1986 Besuch des Maidstone College of Art, Druckereiklasse. Abschluss mit Auszeichnung.
1986–1990 Malerei-Studium am Royal College of Art in London.
1990 „Akt des emotionalen Selbstmords“ und Aufgabe der Malerei, zerstörte ihre Werke außer den Zeichnungen.
1990–1992 Zeitweises Studium am Morley College, wo sie Spinoza und Nietzsche entdeckte.
1992 Lernte Sarah Lucas kennen, die sie wieder zum Besuch von Ausstellungen überreden konnte.
1993 „The Shop“ gemeinsam mit Lucas eröffnet, wo sie selbst gemachte Objekte verkauften. Erste Einzelpräsentation bei Jay Joplin unter dem Titel „Tracey Emin: My Major Retrospective 1963–1993“.
1994 Veröffentlichung von „Exploration of the Soul“ (handgeschrieben, 200 Exemplare limitiert), Lesetour durch die USA gemeinsam mit ihrem Freund Carl Freedman.
1995 In der Ausstellung „Minky Manky“ präsentierte sie „Everyone I Have Ever Slept With 1963–95“, ein Zelt und eine Liste von über 100 Personen.
1999 Nominierung für den Turner Preis, wo sie „My Bed“ ausstellte. Nach einer unglücklichen Trennung wäre Tracey Emin in Verzweiflung gestürzt und habe aus Trauer vier Tage in diesem Bett verbracht, erzählte sie.
2005 Tracey Emin veröffentlichte ihre Autobiografie „Strangeland“.
2007 Vertrat Großbritannien auf der 52. Biennale. Ernennung zum „Royal Academician“, Ehrendoktorat am Royal College of Art,
2011 Professur für Zeichnung an der Royal Academy.
2012 Von Queen Elizabeth II. zum „Commander of the Most Excellent Order of the British Empire“ geschlagen.
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