Mit 31 Jahren übersiedelte Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) nach Berlin. Die Jahre zwischen 1911 und 1917 lebte er in der Zweimillionen-Metropole, die Sommermonate verbrachte er auf der Ostseeinsel Fehmarn. Wenn der Mitbegründer der Künstlergruppe „Die Brücke“ thematisch bereits etablierte Wege ging – Straßenszenen, Porträts, Zirkus, Tanz, Varieté, Akte im Atelier und in der Natur waren in der Dresdner Zeit bereits ausgeprägt – so änderte er in Berlin und Fehmarn seinen Malstil. Zwischen 1912 und 1917 verwendete Kirchner gedeckte Farbtöne und spitze Formen. Hier das frenetisch-nervöse Großstadtleben, da die Erholung in ländlicher Abgeschiedenheit; hier die Misere und Entfremdung des Großstädters, da das harmonische Leben in Einheit mit der Natur. So werden und wurden Ernst Ludwig Kirchners Bilder aus den Berliner Jahren gerne gedeutet. Über diese apokalyptisch-paradiesische Lesart hinaus zeigt das Kunsthaus Zürich den Kirchner der Jahre 1911 bis 1918.
Schweiz / Zürich: Kunsthaus Zürich
10.2. – 7.5.2017
Das enge Verhältnis der beiden Orte Berlin und Fehmarn im Werk von Ernst Ludwig Kirchner zeigt sich faktisch an den Bildträgern: 13 Prozent der Leinwände hat Kirchner doppelseitig bemalt; ob aus Mangel an Materialien, finanziellen Mitteln, Lagerfläche oder anderen Gründen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Handelt es sich hierbei um Vorder- und Rückseiten, oder sind beide Seiten gleichwertig? Sechs dieser doppelseitig bemalten Leinwände zeigen auf der einen Seite eine Berliner Straßenszene, auf der anderen ein Fehmarn-Motiv, allerdings selten mit derselben Ausrichtung: „Zwei Frauen auf der Straße“ und „Zwei Badende in Wellen“, zwei Seiten von ein- und derselben Leinwand, werden im Kunsthaus Zürich entsprechend präsentiert.
Die scheinbar „natürliche“ Gegenüberstellung der Berliner Bilder mit jenen des anti-urbanen Rückzugsortes auf der Insel Fehmarn ist so einfach nicht, wie Kuratorin Sandra Gianfreda in ihrer Einleitung darlegt. Sie schließt sich den Deutungen von Charles W. Haxthausen sowie ihrer Co-Kuratorin Magdalena M. Moeller an, die in den „Straßenbildern“ Kirchners keine Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft sehen. Die „Ästhetisierung der Großstadt“ folgt der Begeisterung des Künstlers für die italienischen Futuristen und deren Konzept von Bewegung als Zeichen von Modernität. Beide Orte – Berlin und Fehmarn – repräsentierten für Kirchner bei all ihrer Unterschiedlichkeit ein Leben außerhalb der bürgerlichen Konventionen: in der Residenzstadt die Varietés, der Zirkus, die Cafés, die Menschenmassen in den Straßen – an der Ostsee die Freikörperkultur, die Freiheit in Sonne, Meer und Strand. Die direkteste Art, diesem Bedürfnis nachzugeben, zeigen die selbst eingerichteten Wohnateliers von Ernst Ludwig Kirchner. Zeit seines Lebens gestaltete er Möbel, Textilien und expressionistische Skulpturen selbst bzw. mischte sie mit originalen Stücken aus Afrika und Ozeanien. Fotografien von nackten, auch dunkelhäutigen Menschen, aber auch Kirchners Aktdarstellungen bezeugen die Befreiung des Körpers, gleichermaßen stehen sie aber auch für den Bruch mit bürgerlichen Moralvorstellungen wie eine ungehemmte Sexualität.
Zwischen Ende Oktober 1911 und 1917 lebte und arbeitete Ernst Ludwig Kirchner in Berlin (→ Ernst Ludwig Kirchner: Biografie). Max Pechstein war schon 1908 aus wirtschaftlichen Gründen in die Residenzstadt übersiedelt und hatte in der Zwischenzeit als Mitbegründer der „Neuen Secession“ (1910) und deren Präsident einen Namen gemacht. Die Zeit schien günstig, um in der Zwei-Millionen-Metropole die Karriere weiterzutreiben, „Die Brücke“ und ihre Kunst bekannt und sich mit der Avantgarde der Stadt vertraut zu machen. Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff zogen ebenfalls 1911 nach Berlin. Mit Pechstein gründete Kirchner unmittelbar nach seiner Ankunft das MUIM- Institut (Moderner Unterricht in Malerei). Einerseits wollten die beiden Maler ihre revolutionäre Kunstauffassung an angehende Künstler vermitteln, andererseits sollte ihnen der Unterricht ein regelmäßiges Einkommen sichern. Im Dezember 1912 mussten sie sich jedoch eingestehen, dass sie mit ihrem Plan gescheitert waren. Kirchner und seine Malerkollegen befanden sich in der Krise: Wenig später zerbrach die „Brücke“ und auch die langjährige Beziehung mit der Dresdener Modistin Doris Große, die seit 1906 eines seiner wichtigsten Modelle gewesen war.
In Berlin gehörte Ernst Ludwig Kirchner zu den gesellschaftlichen und künstlerischen Außenseitern, er bildete mit seinen Freundinnen und Freunden eine anarchische Künstlerboheme. Ihre Suche nach dem Neuen in der Kunst spielte sich kaum beachtet vom wilhelminischen Establishment ab. Der Kaiser und seine wichtigsten Berater nahmen die jungen Künstler kaum zur Kenntnis oder verurteilten sie. Kirchners Bekanntenkreis bestand anfangs aus den MUIM-Schülern Hans Gewecke und Werner Gothein sowie den beiden Tänzerinnen Gerda und Erna Schilling, die zu seinen beiden wichtigsten Modellen wurden. In den folgenden Jahren umgab sich Kirchner vor allem mit Dichtern und Intellektuellen, die im Neuen Club und in dessen Veranstaltungsreihe des Neopathetischen Cabarets sowie in der Galerie Der Sturm verkehrten. Herwarth Walden, den Kirchner über Max Pechstein kennenlernte, publizierte von April 1911 bis März 1912 Holzschnitte Kirchners. In der gleichnamigen Galerie traf er die internationale Avantgarde wie die italienischen Futuristen. Mit dem praktizierenden Psychiater und Schriftsteller Alfred Döblin verband den Maler eine künstlerische Freundschaft. So rezipierte Kirchner Döblins Forderungen nach „Entselbstung“, „Entäußerung“, „Depersonation“ des Autors: „Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden. Oder der Fanatismus der Entäußerung: ich bin nicht ich, sondern die Straße, die Laternen, dies und dies Ereignis, weiter nichts.“ Sein Eintauchen in die Stadt und das Aufsaugen ihrer Bewegungen amalgamierte Kirchner in seinen berühmten Straßenbildern von Berlin.
Die meisten seiner Berliner Bildthemen hatte Ernst Ludwig Kirchner bereits in seinen Dresdener Werken im Kern angelegt: Straßen, Plätze, Cafés, Varietés, Zirkus und die Gesellschaft für Kokotten finden sich genauso wie die weiblichen Akte am Strand von Fehmarn in den zwischen 1909 und 1911 an den Moritzburger Teichen entstandenen Badeszenen. Der Stilwandel im Œuvre von Ernst Ludwig Kirchner zeigt sich ab Sommer 1912 in Fehmarn: spitze Winkel, rasche Pinselstriche, Schraffuren, gedämpfte Farbtöne. In den ab Herbst entstandenen Bildern setzte er „Innenbilder“ der bewegten Menschenmenge auf Berlin Straßen um.
„Es gilt als Bild, was man von einem Punkt mit einem Blick übersehen kann. Das ist eine große Beschränkung. Ich mache es so. Ich bewege mich und sammle die aufeinander folgenden Bilder in mir zu einem Innenbild. Dieses male ich.“1 (Ernst Ludwig Kirchner, um 1926)
Zu den betriebsamsten Stellen im Berlin der Vorkriegszeit gehörten der Potsdamer Platz (belebtester Verkehrsknotenpunkt Europas) und die Friedrichstraße. An diesen Orten zogen zahlreiche, höchst elegant gekleidete Damen die Blicke auf sich. Häufig war die Unterscheidung zwischen Bürgerin und Kokotte nicht eindeutig zu treffen, denn Bordelle und Prostitution waren in Berlin verboten. Die käuflichen Damen mussten entsprechend diskret auf ihre Suche nach Freiern gehen. Auf unzähligen Streifzügen durch die Stadt hielt Kirchner Damen und Flaneure in ihren langen Mänteln mit raschen Bleistift- und Federstrichen in seinen Skizzenbüchern fest. In Druckgrafik und Malerei gelang Kirchner zu einer doppeldeutigen Visualisierung seiner Erlebnisse. So wie auf den Straßen von Berlin kaum eine Gesellschaftsdame von einer Kokotte, ein Varietéstar von einer sich prostituierenden Mutter zu unterscheiden war, so sind auch die Frauen in Kirchners Werken nicht eindeutig zuordenbar.
„[…] besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt. Aus ihr kommt das gesteigerte Lebensgefühl, das der Ursprung des künstlerischen Werkes ist.“2 (Ernst Ludwig Kirchner)
Insgesamt gibt es acht, in den Jahren 1914 und 1915 entstandene Gemälde, in denen sich Kirchner mit „Straßenszenen“ beschäftigte3 Ursprünglich hatte keines der Werke einen Titel, der auf Prostituierte oder Kokotten hindeutete, auch wenn in mindestens fünf der Arbeiten Kokotten gemeint sein dürften: „Fünf Frauen auf der Straße“, „Friedrichstraße, Berlin“, „Potsdamer Platz, Berlin“, „Zwei Frauen auf der Straße“ und das später überarbeitete Gemälde „Straße mit roter Kokotte“. Zudem verschleierte der Künstler den teils offensichtlichen Inhalt, indem er von „Damen“ sprach. Erst die Betitelung von zehn der 24 grafischen Blätter von Straßenszenen durch Gustav Schiefler in den Zwanzigerjahren brachte diese Deutung ein. Seit den 1980er Jahren hat sich die Identifikation der Damen als Kokotten allgemein durchgesetzt, auch wenn, wie Lucius Grisebach sich eingestand, die „modisch gekleidete[n] Frauen, die die Aufmerksamkeit der Männer auf sich ziehen, wahrscheinlich als Kokotten gemeint [sind], doch fehlt jegliche eindeutige Wertung dieser Rolle“4.
„Meine Malerei ist eine Malerei der Bewegung. Am Bahnhof geboren zeichnete ich schon früh die Locomotiven allmälig kam ich auf die Linie das Zeichen der Bewegung und aus der Linienkomposition auf ihre Flächenmalerei. Ich bereicherte sie um neue Formen, die Form, die man sieht, wenn man selbst in Bewegung ist« [Hervorhebung im Original]“5 (Ernst Ludwig Kirchner in einem Skizzenbuch, Ende 1920er)
Elektrische Straßenbahnen, Autos, Pferdeomnibusse und Droschken dürften für Kirchner nicht nur visuelle Fakten oder als Ikonen der Moderne betrachtet worden sein, sondern als Signifikanten der Bewegung. Mit Schraffuren, Bewegungseffekten, Kraftlinien und kontrastierenden Achsen bzw. Bewegungsbahnen übertrug der deutsche Expressionist seine Begeisterung für alles Bewegte in bildnerische Mittel. Indem er verschiedene Blickpunkte zu multiplen Ansichten miteinander kombinierte, verstärkte er den Eindruck eines wandernden Blicks. Bei Kirchners Straßenbildern handelt es sich also nicht um Momentaufnahmen, sondern um die Synthese von Eindrücken. Dieser fiel auch schon mal ein ganzer Straßenzug zum Opfer, wenn es die Komposition erforderte (siehe „Potsdamer Platz, Berlin“, wo Kirchner die Köthener Straße eliminierte). In den Druckgrafiken steigerte er die „Polyphonie der Bewegungen“ (Charles Werner Haxthausen) durch den Einsatz von Schraffurbündeln.
In den vier Sommern 1908, 1912, 1913 und 1914 verbrachte Ernst Ludwig Kirchner insgesamt etwa sechs Monate auf der Ostseeinsel Fehmarn. Diese Zeitspanne steht in keiner Relation zur Fülle der damit verbundenen Werke: In rund 120 Gemälden, 550 Aquarellen, Pastellen, Zeichnungen und Skizzen, 60 Radierungen, Holzschnitten und Lithografien sowie einigen Skulpturen und Fotografien verarbeitete Kirchner seine Eindrücke. Das Leitmotiv der Fehmarn-Bilder ist der Akt in freier Natur, so wie Kirchner es schon an den Moritzburger Teichen erprobt hatte. Vermutlich hatte ihn das Geschwisterpaar Frisch 1908 auf die Idee gebracht, nach Fehmarn zu reisen. Die Ostseeinsel liegt zwischen der Kieler und der Mecklenburger Bucht und war erst seit 1905 bequem per Bahn und Fähre zu erreichen. Ernst Ludwig Kirchner suchte offenbar die Einsamkeit und Unberührtheit der Natur, denn die Insel war noch kein beliebtes Reiseziel.
Im zweiten Sommer von 1912 begeisterte sich Ernst Ludwig Kirchner für die „Exotik“ der Insel. Danach malte Kirchner auf Fehmarn fast ausschließlich auf die gebogene Uferzone und das Meer. Hinter dem Leuchtturm auf Staberhuk, wo Kirchner zusammen mit Erna wohnte, fällt das Gelände steil ab zu einem weiten Strand mit großen Granitfindlingen. Der Maler mietete sich mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling im Haus des Leuchtturmwärters Lüthmann und dessen zehnköpfiger Familie ein. Im folgenden Jahr baute Kirchner eine Grashütte, in die er sich zurückziehen konnte. Gelegentlich besuchten Künstlerfreunde das Paar und dienten sogleich als Modelle für den Künstler. Anstelle der Landschaft traten nun Figuren in das Zentrum seines Interesses. Er bereitete in schnell hingeworfenen Skizzen Bilder zum Verhältnis von Körper und Umgebung vor. Aneinandergereiht wirken die Zeichnungen wie filmische Sequenzen.
„Denken Sie sich wir haben noch eine Hütte gebaut am Strand mit einem feudalen Eingang. Sie würden natürlich sagen gotisch. Es ist wunderschön darin zu sitzen. Ich habe sie so gebaut, dass man über einen rosa Stein hinweg das Meer sehen kann. Wenn nun Badende mit ihren langen Senkrechten den Strand herauf kommen und im Spitzbogen des Einganges erscheinen, und dahinter die beiden schwarzen Keile der Steine an unserer Badestelle. Wie prachtvoll würden Sie sich darin ausnehmen.“6 (Ernst Ludwig Kirchner in einem Brief an Hans Gewecke, 24.9.1913)
Im Jahr 1913 klärten sich seine Kompositionen, und Kirchner verwendete wenige gedämpfte Farben. Immer wieder stellte er Erna als Akt in der Natur dar. Hierbei verschmelzen die Figuren in Kirchners Bildern immer mehr mit der Landschaft. Auch eigene Skulpturen, die der Maler auf der Ostseeinsel gemacht hatte, baute er in diese Naturidyllen ein. Geschnitzte Akte wie „Rückschauende“ beruhen auf Kirchners Studium der flächenbezogenen Kunst Afrikas, Indiens oder Ozeaniens. Er integrierte sie in seine Arbeit, da er sich zwar Lösungen für die eigene Malerei erhoffte.
„Er fühlt in ihnen eine Parallele seines eigenen Strebens aber auch das, dass seine eigene Form etwas ganz anderes war und sein musste als die dieser Exoten […] dass der Weg zu einem neuen modernen nur durch ein reines naives Naturstudium ohne Stilbrille führte.“7 (Ernst Ludwig Kirchner, Tagebuch, März/April 1925)
Ernst Ludwig Kirchner wurde auf Fehmarn vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 überrascht. Da die Ostseeinsel zum gesperrten Gebiet erklärt wurde, musste der Maler und seine Gefährtin nach Berlin zurückkehren. Um seinen Insel-Traum mitnehmen zu können, entwarf er Textilien, die Erna stickte. Mit den Stoffen kleidete er eine der beiden Mansardennischen seines Wohnateliers an der Körnerstraße 45 aus. Kirchner meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, da er meinte, sich so die Waffengattung aussuchen zu können. Kirchners Einsatz ab Juli 1915 beim Feldartillerieregiment Nr. 75 ließen ihn psychisch und physisch zusammenbrechen. Bereits im September 1915 war Kirchner völlig aus der Bahn geworfen. Dennoch schuf er jährlich 20 bis 30 Gemälde verschiedener Motive, zahlreiche Holzschnitte, darunter wichtige Porträts, sowie die Zyklen „Schlemihl“ (1915), „Absalom“ (Sommer 1918) und „Triumph der Liebe“ (1918), aber auch 1916/17 die Folge der einzigartigen Rohrfederzeichnungen, zu denen das aufrüttelnde „Selbstbildnis im Morphiumrausch“ (1917) gehört.
Alkohol- und Morphiummissbrauch sowie Panikattacken Von Dezember 1915 bis Juli 1916 versuchte sich Ernst Ludwig Kirchner mehrfach im Sanatorium Kohnstamm in Königstein im Taunus zu regenerieren. Um vom Kriegsdienst beurlaubt zu werden, musste er Ende 1916/Anfang 1917 ins Nervensanatorium Dr. Edel in Berlin. Es folgten im Januar ein Aufenthalt in Davos und im Mai 1917 die Übersiedlung dorthin, von September 1917 bis Juli 1918 war er zur Heilung im Sanatorium von Dr. Ludwig Binswanger in Kreuzlingen: Alkohol, Schlafmittel, Morphium hatten gesundheitliche Probleme zur Folge. Kirchner klagte wieder und wieder über Lähmungen an Händen und Beinen. Dennoch arbeitete er während des Ersten Weltkriegs unermüdlich. Wie Otto Dix und Max Beckmann arbeitete er aus der Krise heraus, doch nur Paul Klee konnte während des Ersten Weltkriegs ein ähnlich umfangreiches Werk schaffen (→ Paul Klee. Bilder aus dem Ersten Weltkrieg).
„Ich bin vollständig unfähig, infolge der Lähmung der Hände und Füße selbst irgend etwas zu tun. Dabei sehe ich so viel Interessantes und tausend Bilder die ich malen könnte und doch nicht kann, und das macht mich sehr unglücklich.“8 (Ernst Ludwig Kirchner in einem Brief an Carl Hagemann, 14.10.1917)
Ernst Ludwig Kirchner schuf den „Schlemihl-Zyklus“ im Dezember 1915. Er besteht aus sechs Farbholzschnitten und einem Titelblatt nach Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1813). Der glücklose Schlemihl hatte dem Teufel seinen Schatten verkauft und dafür die Furcht der Menschen auf sich gezogen. Ernst Ludwig Kirchner sah in Peter Schlemihl ein alter ego seiner eigenen verletzten und gebrandmarkten Seele. Er verglich seine freiwillige Meldung zum Kriegsdienst mit dem Verkauf des Schattens an den Teufel. Der Zyklus erzählt vom verfolgten Künstler in der Moderne und er handelt zugleich vom Schicksal des Künstlers Kirchner, der durch die bedrohliche Nähe des Kriegs die Orientierung verliert.9 gleichzeitig zog Ernst Ludwig Kirchner mit dem „Schlemihl-Zyklus“ eine Summe seines expressionistischen Werks.
„Er bemüht sich, mit seinen Füßen in die Fußstapfen des Schattens zu kommen, in dem Wahn, dadurch wieder er selbst zu werden. Analog dem Seelenvorgang eines Militärentlassenen.“10 (Ernst Ludwig Kirchner in einem Brief an Gustav Schiefler, 28.7.1919)
Zu Beginn seines Aufenthaltes am Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen im Herbst 1917 begann Kirchner, sich mit der „Apokalypse“ (1917 Studien, Umsetzung von zwei Holzschnitten Jahreswechsel 1918/19) auseinanderzusetzen. Die zwölf circa 6 × 8 Zentimeter kleinen Entwürfe für die Holzschnitt-Folge zeichnete er wohl aus Materialnot auf die Rückseiten von Zigarettenpackungspapier. Kirchner klebte aquarellierten Bleistift- und Tuschfeder-Zeichnungen in ein Album ein. Seit 1985 befindet es sich im Archiv des Getty Research Institute in Los Angeles, wurden aber erst 2014 wiederentdeckt. Das Kunsthaus Zürich zeigt diese Entwürfe zum ersten Mal im Kontext einer musealen Kirchner-Ausstellung. Die „Aufzeichnungen von inneren Bildern“ (Günther Gercken) fanden in nur zwei, nunmehr fein durchmodellierten Holzschnitten eine Realisation.
Nach mehreren Sanatoriumsaufenthalten in Königstein im Taunus und in Berlin reiste Kirchner auf Anraten seines Jenaer Kunstfreundes Eberhard Grisebach Anfang 1917 zum ersten Mal nach Davos. Nach Unterbrechungen seiner Kuren in Berlin und Kreuzlingen sollte er sich schließlich 1918, zusammen mit Erna, für den Rest seines Lebens in Davos Frauenkirch niederlassen. Hier fand Kirchner nach einer langwierigen Genesung zurück zu seiner Arbeit. In den Werken, die nach seinem Umzug nach Davos entstanden, zeichnet sich erneut eine Wendung in seinem visuellen Ausdruck ab. Anfangs beschäftigte er sich mit Porträts von Personen, die sich um ihn kümmerten, sowie einer Anzahl von Selbstbildnissen. Bald floss auch Kirchners Umgebung in seine Bilder ein: Berglandschaften, ihre Bewohner sowie deren Tiere im Alltag. Ende 1917 erwarb Karl Ernst Osthaus das Gemälde „Rhätische Bahn im Schnee“ (1917, Sammlung Deutsche Bank) für das Folkwang Museum. Kirchners erster Museumsankauf.
Zürcher Kunstgesellschaft/Kunsthaus Zürich (Hg.)
mit Beiträgen von Sandra Gianfreda, Charles Werner Haxthausen, Karin Schick, Uwe M. Schneede, Günther Gercken, Martina Pfister
272 Seiten
ISBN 978-3-7774-2728-7
Hirmer Verlag
Charles Werner Haxthausen, Bewegungsbilder: Zu Kirchners Berliner Straßenszenen, S. 20
Karin Schick, »Glück im Winkel«. Kirchner auf Fehmarn, S. 32
Sandra Gianfreda, Selbstgeschaffenes Naturidyll in der Großstadt – Kirchners Wohnateliers in Berlin, S. 46
Uwe M. Schneede, In der Krise, gegen die Krise. Ernst Ludwig Kirchner in Zeiten des Ersten Weltkriegs, S. 64
Günther Gercken, Ernst Ludwig Kirchners Skizzen und Holzschnitte zur Apokalypse, S. 74–.
Martina Pfister, Kurztexte im Katalog
Sandra Gianfreda, Biografie Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), S. 250–258.