Am 5. August 1473 datierte der 21-jährige Leonardo da Vinci (1452–1519) diese berühmte Landschaftszeichnung aus den Uffizien. Sie zeigt das Arno-Tal, jener Flusslauf, an dem Leonardo in Vinci zur Welt gekommen war. Das Dorf Vinci befindet sich im unteren Arno-Tal, nördlich von Empoli. Leonardo wurde am 15. April 1452 auf einem Bauernhof in Anchiano geboren. Bis heute prägen sanfte Hügel, Weinberge und Olivenhaine die Umgebung am Fuße des Monte Albano, und es scheint sich der Maler wenig von der Landschaft seiner Kindheit für seine späteren Gemälde abgeschaut zu haben.
Leonardo zeigt das Arno-Tal von einem erhöhten Standpunkt aus. Hinter einem Felsvorsprung sprudelt der Fluss breit hervor und ergießt sich in ein ausuferndes Tal. Links und rechts steigen Felswände hoch, auf der linken Seite hielt Leonardo das Montelupo Schloss auf einem Felssporn fest. Im Hintergrund erstreckt sich eine wässrige Landschaft, so wie sie der Maler Leonardo später auch gerne als Hintergrund seiner Gemälde verwendete. Kursorische Formen, schräge Schraffen und hellere Farbigkeit deuten links in diesem Naturausschnitt Tiefenzug an. Die Beschriftung am rechten oberen Rand ist in Spiegelschrift gehalten: „Am Tag von Santa Maria della Neve / am 5. August 1473“ Carmen C. Brambach vermutet, dass der Beruf von Leonardos Vater, der ein Notar war, dessen Vorliebe für genaue Dokumentation gefördert hätte.1
Die früheste erhaltene Federzeichnung des Linkshänders Leonardo dokumentiert dessen außergewöhnliche Begabung, genau hinzusehen und sich von der Natur leiten zu lassen. Wie in seinem „Malereitraktat“ später immer wieder gefordert, suchte er in ihr eine Lehrmeisterin. In Romanik und Gotik war es undenkbar, eine Landschaft ohne Figuren und/oder Symbolik darzustellen. Mögliche „Vorläufer“ sind in der reichen Miniaturmalerei, vor allem Stundenbüchern mit Jahreszeitendarstellungen, zu finden. In Florenz wurde im frühen 15. Jahrhundert zunehmend auf die Bedeutung der Erfahrung (Empirie) für wissenschaftliche und künstlerische Innovationen endeckt, was zur Entwicklung u.a. der mathematisch konstruierten Zentralperspektive führte (→ Renaissance). Leonardo beschäftigte sich in dieser Landschaftszeichnung mit der intellektuell spannenden Frage, wie der Sehsinn die Regelhaftigkeit der Tradition. Papier war in der Werkstatt von Andrea del Verrocchio dem Kopieren von Vorbildern in Form von vielszenigen Musterblättern, komplexen Draperiestudien oder dem Entwickeln von Kompositionen in Form von Kartons vorbehalten. Dass sich der Maler in Ausbildung für einen neuartigen Zugang entschied und dieses Blatt auch erhalten blieb, ist ein Wunder, und hat mit der Arbeitsweise des Künstlers zu tun. Insgesamt sind mehr als 4.000 Zeichnungen, Skizzen und Notizblätter von Leonardo erhalten (im Vergleich dazu: Albrecht Dürer etwa 1.000, Pieter Bruegel der Ältere knapp 60 Zeichnungen). Schönheit und technische Virtuosität wie auch der frühe Ruhm des Erfinders und Denkers (mehr als Malers) ließen die fragilen Werke jahrhundertelang wertvoll erscheinen.
Leonardo da Vinci datierte diese Landschaftszeichnung, als ob er direkt vor dem Motiv gesessen und es festgehalten hätte. Und damit löste eine bis heute andauernde Diskussion aus, ob es sich um die erste Plein-air-Landschaft der europäischen Kunstgeschichte handeln könnte. Während einige Forscher davon ausgehen, dass das Montelupo Schloss auf der linken Seite wirklich so aussah, und daraus auf die Wahrhaftigkeit der Landschaftswiedergabe schließen, glauben andere, dass es sich um eine Phantasielandschaft handle. Vor allem räumliche Unstimmigkeiten könnten diese Argumentation noch stützen. In seinen Gemälden – der „Mona Lisa“, der „Felsgrottenmadonna” oder „Madonna mit der Garnspindel“ – nutzte der Begründer der italienischen Hochrenaissance diese Haltung jedenfalls nicht. Die Landschaften in der Malerei sind erfundene Kompositionen, für die er jedoch höchst naturalistische Komponenten zusammenführte.