Carmen Herrera (1915–2022), Pionierin der geometrischen Abstraktion und lange verkannte Künstlerin mit kubanisch-amerikanischen Wurzeln, wird in einer umfangreichen Retrospektive im K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt. 2004 präsentierte die New Yorker Galerie Latincollector Carmen Herrera erstmals im Rahmen der Gruppenausstellung „Concrete Realities: Carmen Herrera, Fanny Sanín and Mira Schendel“. Die Aufmerksamkeit für ihre Werke wuchs derart, dass im Folgejahr der Künstlerin eine Einzelausstellung gewidmet wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Carmen Herrera bereits 89 Jahre alt und hatte schon acht Jahre keinen Pinsel mehr angerührt. Vom ungeahnten Erfolg beflügelt, begann Carmen Herrera 2006 wieder zu malen und tut dies bis zum heutigen Tage im beachtlichen Alter von 102 Jahren. Heute beziehen sich sowohl Modemacher als auch Grafiker gleichermaßen auf ihre Werke.
Deutschland | Düsseldorf: K20 Grabbeplatz,
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
2.12.2017 – 8.4.2018
1915 als jüngstes von sieben Kindern in eine wohlhabende Intellektuellenfamilie in Havanna geboren, ist Carmen Herrera von Kindheit an mit Kunst und Literatur konfrontiert. Ihr Vater gründete die Zeitung El Mundo, ihre Mutter war eine frühe Feministin. Im Alter von 14 Jahren wurde Herrera für zwei Semester an die Marymount School nach Paris geschickt, um dort Französisch zu lernen. Am Ende des Schuljahres reiste sie mit ihrer Mutter und Schwester nach Italien und Deutschland. Zurück in Havanna nahm sie ab 1931 Unterricht in Bildhauerei und Malerei und hatte erste Ausstellungsbeteiligungen. Ihre Schulausbildung schloss sie – verzögert durch die politischen Unruhen in Kuba – 1938 ab. Im gleichen Jahr schrieb sie sich an der Universidad de Habana für Architektur ein. Das Millimeterpapier, das sie heute noch für die Vorzeichnungen ihrer Gemälde verwendet, bleibt eine lebenslange Reminiszenz an jene Zeit.
1939 heiratete Carmen Herrera den Amerikaner Jesse Loewenthal, den sie auf einem Genesungsaufenthalt des ehemaligen Broadway-Schauspielers, der an der renommierten New Yorker Stuyvesant High School unterrichtete, in Havanna kennengelernt hatte. Loewenthal unterstützte Carmen Herrera zeitlebens in ihren künstlerischen Unternehmungen, nicht nur finanziell, sondern auch technisch: Er bespannte die Keilrahmen für sie. Nach der Hochzeit zog das Paar nach New York, wo beide in Intellektuellenkreisen verkehrten. Sie freundeten sich unter anderem mit Barnett Newman an, der auch künstlerisch Einfluss auf Herrera ausübte. Obwohl sie in New York gute Kontakte zur abstrakten Szene pflegte, drängte Herrera nach der Auswanderung nach Paris. Damit begann ein „Teufelskreis“, der Carmen Herrera für eine erfolgreiche Karriere in der Kunstwelt stets zur falschen Zeit am falschen Ort sein ließ.
Kuratorin Susanne Meyer-Büser sieht speziell in den Pariser Jahren zwischen 1948 und 1954 die Schlüsselphase für die künstlerische Entwicklung und Radikalisierung der Formensprache von Carmen Herrera. Enerviert darüber, wie man ihr als Frau und Latina mit marginalen Englischkenntnissen in New Yorker Kunstkreisen begegnete, übersiedelte sie mit ihrem Mann in das liberale Paris, genauer gesagt in das angesagte Künstlerviertel Montparnasse. Herrera wurde auf den 1946 gegründeten und von Auguste Herbin geführten Salon des Réalités Nouvelles aufmerksam, in dem auch Sonia Delaunay und Nelly van Doesburg verkehrten (→ Sonia Delaunay. Malerei, Design und Mode). 1951 trat sie dieser Vereinigung von Vertreterinnen und Vertretern der geometrischen Abstraktion bei (→ Abstrakte Kunst). In Auseinandersetzung mit den Pariser Künstlern – wie Pablo Picasso, Fernand Léger, Victor Vasarely und Hans Arp – aber auch den Amerikanern Robert Rauschenberg, Ellsworth Kelly und Sam Francis entwickelte Herrera über abstrakte Farb- und Formenexperimente ihre eigene geometrisch-minimalistische Ausdrucksweise. Meyer-Büser sieht in der „Habana“-Serie von 1950/51, welche stilistisch dem Tachismus verpflichtetet ist, „einen Schlussstrich unter ihrer Zeit als kubanische Künstlerin und Neustart in eine neue abstrakte Zukunft.“
Ein persönlicher Durchbruch gelang Herrera anhand der drei Gemälde, „Black and White“, „Verticals“ und „Untitled“ aus dem Jahr 1952, welche komplett in Schwarz und Weiß gehalten sind. Eine technische Neuerung war die Verwendung von Acrylfarbe und Klebestreifen, die sie in Folge zur Hard Edge-Malerei führen sollte. Ein anderes Novum war, dass sie den Rahmen ebenfalls bemalte und somit der gerahmten Leinwand eine dreidimensionale, sprich skulpturale Qualität zusprach, was Mitte der 60er Jahre in ihren objekthaften „Estructura“-Arbeiten münden sollte. Ein Vergleich zu Arbeiten Viktor Vasarelys drängt sich geradezu auf. Vasarely hatte Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre ähnliche Werke in Paris geschaffen – ob Carmen Herrera tatsächlich als Vorreiterin oder womöglich sogar direkte Influencerin dieser Werke zu sehen ist, oder ob es sich dabei um eine klassische „Wer kam zuerst? Das Huhn oder das Ei?“-Situation handelt, ist nur insofern relevant, als dass der eine – männliche – Op-Art Künstler zur Ikone seiner Zeit wurde, während Herrera nie Gelegenheit hatte, jene Arbeiten öffentlich zu zeigen, da man Künstlerinnen schlichtweg vom Kunstmarkt ausgrenzte.
Die permanente Ungerechtigkeit, dass Galerien sich nicht für die Kunst von Frauen interessierten, hielt auch nach ihrer finanziell begründeten Rückkehr nach New York 1954 an. Ein Galerien-Mythos der zudem durch New York kursierte und bis heute anhält, lautet: „Green paintings don’t sell.“ Als trotzige Reaktion auf die Ausgrenzung schuf Carmen Herrera ab 1959 und bis in die 70er Jahre hinein ihre wichtigste, da radikalste Serie „Blanco i verde“. Insgesamt umfasst die Serie fünfzehn Leinwandarbeiten, von welchen acht in der Ausstellung in Düsseldorf zu sehen sind. Die Serie ist charakterisiert durch die radikale Reduktion auf die Farben Weiß und Grün und die Verwendung von spitzen, dreieckigen Formen, die an Perspektivzeichnungen erinnern. Es geht Herrera dabei um das Gleichgewicht von Farbe und Komposition, gleichzeitig lehnt sie jegliche Deutung im Sinne von Yin-Yang, Männlich-Weiblich, Aktiv-Passiv oder sexualisierte Interpretationen ab.
Etwas schwierig für die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung ist die Kontextualisierung der Malerin, da ausschließlich Arbeiten von Carmen Herrera in chronologischer Abfolge zu sehen sind. Eine 25-minütige Dokumentation des IKS-Instituts für Kunstdokumentation soll über dieses Manko hinwegtrösten, doch erscheinen einige Vergleiche – wie etwa mit Paul Klee oder Hans Hartung – weit hergeholt und unerheblich für das Verständnis der frühen Arbeiten der Künstlerin. Zudem verwirrt der Film mit aktuellen Stadtaufnahmen von Paris und Fassaden Pariser Galerien, anstatt konkrete Informationen zu Aufenthaltsorten der Künstlerin, bzw. Kontakte zu oder Korrespondenzen mit anderen Künstlerinnen oder Künstlern jener Zeit aufzuzeigen.
Geradezu auratisch sehenswert ist wiederum die Schlussszene, in der man die 102-jährige Herrera wortlos am Zeichenbrett in ihrem kleinen Atelier in New York sieht, wo sie bis heute lebt und arbeitet – unterstützt von einem kunstfernen Assistenten, der ihr bloß bei der technischen Umsetzung der Arbeiten hilft. Den Farbauftrag macht sie mithilfe einer Farbrolle selbst, wie an aktuelle Arbeit wie „Verde de noche“ von 2017 in der Ausstellung erkennbar wird.
Die Wiederentdeckung weiblicher künstlerischer Positionen des 20. Jahrhunderts liegt aus mehrerlei Gründen im Trend. Einmal abgesehen von dem mit Abstand wichtigsten Motiv der Wiedergutmachung der weitgehenden Ausblendung der weiblichen Künstlerschaft aus der Kunstgeschichtsschreibung. Eine andere Triebfeder stellt der Kunstmarkt dar: Kunstsammlerinnen und -sammler wollen Neues sehen und kaufen, aber kein Risiko eingehen mit jungen Künstler:innen. Die Arbeiten von Wiederentdeckungen sind – zumindest im Moment der Entdeckung – noch vergleichsweise günstig zu erstehen und durch kunsthistorische Absicherung eine beinahe risikofreie Investition. Etwas nobler sehen es die Kunsthistoriker_innen und Kurator_innen, die sich selbst auf ständiger Schatzsuche begreifen.
Das K20 folgt schon seit Jahren diesem Trend der Wiederentdeckung weiblicher künstlerischer Positionen und arbeitet kontinuierlich an der Beseitigung dieses Desiderats. Die Schau „Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde“ (2011/12) bildete dafür einen Startschuss. 2018 folgt in Düsseldorf Annie Albers.
Die Ausstellung „Carmen Herrera. Lines of Sight“ wurde 2016 im Whitney Museum of American Art konzipiert und konzentrierte sich dort auf den Werkkorpus bis Ende der 70er Jahre. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen hat das Ausstellungkonzept ebenso wie die Anzahl der gezeigten Arbeiten um die aktuellen Gemälde erweitert und gibt damit einen Überblick über das gesamte Œuvre der beeindruckenden Künstlerin.
Kuratiert von Susanne Meyer-Büser
Susanne Gaensheimer, Susanne Meyer-Büser (Hg.)
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 2017/18
24 x 29 cm, 256 S., mit 196 farbigen Abb., 20 s/w Abb.
ISBN 978-3-86832-419-8
Wienand Verlag, Köln