Wie starb Vincent van Gogh?
Vincent van Gogh starb am 29. Juli 1890 kurz nach ein Uhr nachts im Gasthof Ravoux in Auvers-sur-Oise. Der holländische Maler hatte sich am Nachmittag des 27. Juli 1890 eine Schussverletzung im Oberbauch zugezogen; die Kugel steckte noch und konnte nicht entfernt werden. Rund 30 Stunden nach seiner Verletzung verstarb er an einer Sepsis. Vincent van Gogh wurde nur 37 Jahre alt.
Tathergang
Am Nachmittag des 27. Juli 1890, ein Sonntag, verließ Vincent van Gogh den Gasthof Ravoux, um zu malen. Wohin sich der Künstler wandte, ist nicht geklärt. Die Van Gogh Forschung stimmt darin überein, dass sich Vincent van Gogh auf einem Feld eine Kugel in den Oberbauch schoss. Nach Sonnenuntergang schleppte er sich schwer verwundet und blutend zum Gasthof Ravoux zurück. Die Wirtsleute Ravoux und ihre Gäste saßen vor der Pension und sahen Vincent, wie er in der Dämmerung wortlos in seine Unterkunft ging. Ein Gast erinnerte sich später, dass sich der Maler den Bauch gehalten und gehinkt hatte. Erst als Gustave Ravoux Stöhnen aus Vincents Zimmer im ersten Stock hörte, stieg er zur Dachkammer hinauf. Er fand den Maler vor Schmerzen gekrümmt im Bett liegend vor. Auf die Frage, was er hätte, antwortete Vincent van Gogh:
„Je me suiu blessé [Ich habe mich verletzt].“
Der herbeigerufene Arzt Dr. Mazery stellte fest, dass ein kleines Kaliber in Vincents van Goghs Bauch steckte, denn die Wunde unter Vincents Rippen hatte „ungefähr die Größe einer großen Erbse“ und blutete kaum. Um das kleine, dunkelrote Einschussloch hatte sich ein purpurroter Fleck gebildet. Der Schusskanal war ungewöhnlich schräg. Er glaubte die Kugel in der hinteren Bauchhöhle zu lokalisieren und stellte fest, dass sie weder Organe noch wichtige Blutgefäße verletzt hatte. Da die Kugel nicht wieder ausgetreten war, ging der Arzt davon aus, dass sie aus größerer Entfernung auf den Künstler abgeschossen worden war.
Van Goghs Arzt und offizieller Vormund, Dr. Paul Gachet, kam später dazu, da er mit seinem Sohn beim Angeln war und erst von Passanten von dem Ereignis informiert worden war. Obwohl er das Schlimmste befürchtete, traf er den Maler Pfeife rauchend im Bett an. Vincent verlangte, dass ihm die Kugel aus dem Bauch geschnitten würde. Doch die Ärzte trauten sich nicht, das Geschoss zu entfernen, da es in der Nähe der Wirbelsäule feststeckte. Die beiden Ärzte legten einen Verband an und hofften, dass keine Komplikationen eintreten würden.
Theo in Auvers
Dr. Gachet schrieb Theo van Gogh einen Brief, in dem er ihn darüber informierte, dass Vincent „sich eine Verletzung zugefügt“ hatte. Er empfahl dem Bruder, nach Auvers zu kommen. Vincent weigerte sich jedoch die Adresse Theos bekanntzugeben. Deshalb sandte Dr. Gachet den jungen holländischen Maler Hirschig nach Paris, damit dieser den Brief eigenhändig in die Galerie brachte. Daher erfuhr der Bruder erst am nächsten Tag, was passiert war, und fuhr sofort nach Auvers. Theo traf am 28. Juli gegen Mittag in Auvers ein. Theo van Gogh fand Vincent in besserer Verfassung, als er erwartet hatte: Vincent rauchte im Bett Pfeife, saß dabei aufrecht und freute sich, Theo zu sehen, wie er seiner in Holland weilenden Frau Jo berichtete:
„Er ist in besserer Verfassung, als ich erwartet hätte, obwohl er wirklich sehr krank ist. […] Der arme Kerl, es wurde ihm nicht gerade viel Glück zuteil und er hegt keine Illusionen mehr. Er war einsam, und manchmal war es mehr, als er ertragen konnte. […] Es stand schon einmal so schlimm um ihn, und die Ärzte waren überrascht über seine kräftige Konstitution.“
Tod und Begräbnis
Zwei Tage nach dem Schuss, am 29. Juli 1890 kurz nach ein Uhr nachts, verstarb Vincent van Gogh an den Folgen einer Sepsis.
Am nächsten Morgen erledigte Theo den Papierkram im Rathaus und organisierte die Beerdigung am nächsten Tag. Eine Druckerei fertigte innerhalb von wenigen Stunden die Todesanzeige und die Einladungen zur Beerdigung. Diese schickte Theo nach Paris – und legte die Abfahrtszeiten der Züge bei. Einen Gastraum richtete er als Aussegnungshalle nach holländischer Art mit Laub- und Blumenschmuck ein. Der Sarg mit dem Künstler wurde auf dem Billardtisch aufgebahrt. An den Wänden prangten einige Gemälde van Goghs: das Porträt von Adeline Ravoux, das Rathaus von Auvers, das einsame Weizenfeld, Daubignys Garten (→ Vincent van Gogh und Daubigny). Der Sarg war mit einem weißen Tuch abgedeckt, davor standen Vincents Atelierstaffelei, Palette und Hocker. Der Gemeindepfarrer wollte den Trauergottesdienst nicht in der Kirche von Auvers abhalten (weil Vincent ein Protestant war oder doch wegen des Selbstmord-Verdachts?). Auch die Grabstätte befand sich möglichst weit weg von der Kirche auf dem spärlich belegten neuen Friedhof des Dorfes. Theo nannte sie „einen sonnigen Fleck inmitten der Weizenfelder“.
Schon am nächsten Tag gegen drei Uhr nachmittags wurde der Maler unter sengender Sonne begraben. Unter den Teilnehmer:innen waren Andries Bonger, Père Tanguy, Emile Bernard und Charles Laval (anstelle von Paul Gauguin). Vincents Malutensilien standen neben seinem Sarg, der mit einem schlichten weißen Tuch bedeckt war. Sein Zimmer war mit gelben Blumen geschmückt und viele seiner Bilder aufgehängt. Doktor Gachet brachte einen riesigen Strauß Sonnenblumen mit.
Theo van Gogh erhielt knapp 50 Kondolenzschreiben, deren prominente Absender – darunter Camille Pissarro, Eugène Carrière, Henri Rouart, Henri de Toulouse-Lautrec, Dr. Paul-Ferdinand Gachet – van Goghs intensive Vernetzung im Kreise der französischen Avantgarde und Wertschätzung seitens seiner Künstlerkollegen bezeugen. So zählte sich u.a. auch Claude Monet zu den Bewunderern des Holländers.
War es Selbstmord?
Im Jahr 1912 berichtete der Maler Anton Hirschig, van Gogh hätte gestanden:
„Holt mir den Arzt. […] Ich habe mir auf dem Feld einen eine Verletzung zugefügt. […] Ich habe dort einen Revolverschuss auf mich abgegeben.“1
Auf die Frage eines Polizisten, ob er Selbstmord begehen hätte wollen, antwortete Vincent van Gogh:
„Ja, ich denke schon.“
Dennoch sollte niemand beschuldigt werden, da er sich nach eigener Aussage selbst das Leben nehmen wollte. Vor allem Adeline Ravoux wurde Jahre später zur Kronzeugin des Geschehens:
„Am Nachmittag gab Vincent an dem Hohlweg, der an der Schlossmauer vorbeiführt – so verstand es mein Vater –, einen Schuss auf sich ab und verlor das Bewusstsein. Irgendwann am Abend, als es kühler wurde, wachte er auf. Auf allen vieren suchte er nach der Pistole, um die Sache zu Ende zu bringen, aber er konnte sie nicht finden. Dann rappelte er sich auf und stieg den Abhang hinunter zu unserem Haus.“
Dass Vincent van Gogh bereits seit Mitte der 1870er Jahre im Tod eine Erlösung sah, ist hinlänglich bekannt und seine depressiven Verstimmungen gingen vielfach in seinen Briefverkehrt mit Theo ein.
Die kurze Ermittlung der Polizei lässt viele Fragen offen. Darunter, wo die Staffelei und die Malsachen van Goghs verblieben waren. Oder auch, was in den Stunden zwischen Vincents Mittagsmahl und der Rückkehr des Verletzten genau geschehen wäre. Auch die Waffe wurde nicht gefunden, konnte der Maler auch nicht erklären, wie er in Besitz der Waffe gekommen war und warum er auf sich geschossen hatte.
War es Mord bzw. ein Unfall?
Die Autoren Steven Naifeh und Gregory White Smith möchten beweisen, dass es sich nicht um einen Selbstmord, sondern um Mord bzw. einen Unfall mit Todesfolge handelte.2 Die Wunde wies keine Schmauchspuren auf. Ein Zeuge hörte einen weiteren Schuss in einem Bauernhof in der Rue Boucher. Außerdem sind weder die Staffelei noch die Waffe aufgefunden worden. Steven Naifeh und Gregory White Smith gehen – auch mit Hinweis auf die untenstehenden Zeugenaussagen – davon aus, dass es sich um einen Unfall mit Todesfolge gehandelt haben könnte und die Brüder Secrétan für Vincent van Goghs Tod verantwortlich waren.
Die polizeiliche Untersuchung am Tag nach Vincents Verletzung brachte ans Licht, dass eine Waffe in Auvers fehlte, jene des 16-jährigen René Secrétan und seines um zwei Jahre älteren Bruders Gaston. Die Brüder waren Söhne eines reichen Apothekers in Auvers, der am Ufer der Oise eine Villa besaß. Die beiden Halbstarken hatten den Maler nachweislich drangsaliert. Ein Jahr zuvor hatte Buffalo Bill in Paris einen Wild-West-Boom in Frankreich ausgelöst. René Secrétan verbrachte den Sommer 1890 im Cowboy-Kostüm und schoss auf Vögel. Auffallend ist: Er und sein Bruder wurden nach dem Vorfall von ihrem Vater weggeschickt. Erst nach der Veröffentlichung des Films „Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft“ mit dem kraftstrotzenden Kirk Douglas trat René Secrétan mit seinen Erinnerungen an die Öffentlichkeit. 1956 und 1957 beschrieb er Victor Doiteau ausführlich die körperliche Verfassung und das Verhalten des Malers, das sich gänzlich anders darstellte als in den hinlänglich bekannten Quellen: Vincent van Gogh hat ausgesehen „wie ein Landstreicher mit Schuhen an den Füßen“3. René Secrétan gab schlussendlich an, dass Vincent ihnen den Revolver gestohlen hätte, mit dem er sich das Leben genommen hatte.
In den 1930ern besuchte John Rewald Auvers, um die noch lebenden Zeitzeug:innen zu interviewen. Er hatte gehört, dass „junge Burschen“ den Maler versehentlich erschossen hätten. Ein Bauer fand erst 1960 eine kleinkalibrige Pistole auf einem Feld, welche van Goghs Verletzungen erklären könnte.
Madame Liberge erzählte Ende der 1960er Jahre eine andere Version der Geschichte, die sie von ihrem Vater gehört hatte:
„Ich weiß nicht, warum die Leute nicht die Wahrheit sagen. Es war nicht dort oben, über dem Friedhof […] Van Gogh verließ den Gasthof Ravoux in Richtung des Weilers Chaponval. In der Rue Boucher ging er in den kleinen Hof eines Bauerngehöfts, wo er sich hinter einem Misthaufen versteckte. Dort tat er, was ein paar Stunden später zu seinem Tod führte.“4
Nachruhm
Vincent van Goghs Bruder Theo richtete mit Unterstützung von Émile Bernard im September 1890 noch eine Gedenkausstellung in seiner Wohnung (8, Cité Pigalle) aus. Der Kunsthändler trauerte in fast manischer Art um seinen Bruder und überwarf sich deshalb mit seinem Arbeitgeber.
Am 12. Oktober 1890 erlitt Theo einen Zusammenbruch und wurde in ein Pariser Krankenhaus eingeliefert. Zwei Tage später verlegte man ihn in die private Nervenheilanstalt von Dr. Antoine Blanche, einem Schüler von Jean-Martin Charcot, in Passy. Theo van Gogh litt an der Syphilis, die sich in dieser Phase als Lähmungserscheinung manifestierte. Er war ein körperliches und geistiges Wrack, konnte an manchen Tagen nicht mehr gehen. Die Ärzte stellten ihn mit Chloroform ruhig, da er Tobsuchtsanfälle hatte. Freunde und Familie besuchten Theo.
Nach einem Monat Aufenthalt ließ Jo ihren Mann in die Nervenheilanstalt von Utrecht verlegen, wo der charismatische, junge Psychologe Frederik van Eeden u.a. mit Hypnose arbeitete. Am 18. November kam Theo in einem äußerst schlechten Zustand an, denn die Syphilis hatte sich bereits im Gehirn auszubreiten begonnen. Der ehemalige Kunsthändler war verwirrt, inkontinent und konnte kaum gehen. In den folgenden zwei Monaten war Theo van Gogh an einigen Tagen wahnhaft, im Delirium oder benommen von Medikamenten. Er durfte seine Gummizelle nicht mehr verlassen und führte wirre Monologe, gefolgt von fröhlicher Ausgelassenheit und trübsinnigem Dösen. Wann Theo van Gogh starb, ist nicht genau überliefert. In einem Bericht ist vom 25. Januar 1891 zu lesen, während in den Krankenhausakten steht, dass sein Leichnam am 24. Januar bereits weggebracht wurde. Er wurde in aller Stille auf dem öffentlichen Friedhof in Utrecht bestattet. Erst 1914 ließ Jo Theo umbetten und neben Vincent van Gogh in Auvers ruhen. Beide Brüder liegen seither Seite an Seite auf dem Friedhof von Auvers begraben.
- Haruo Arikawa, Jan van Crimpen u.a., Vincent van Gogh: International Symposium, Tokio 1988, S. 86.
- Siehe: Steven Naifeh und Gregory White Smith, Van Gogh: sein Leben, Frankfurt a. M. 2012.
- Victor Doitreau, Deux ‚copains‘ de Van Gogh, inconnus: Les frères Gaston et René Secrétan, Vincent, tel qu’ils l’ont vu, in: Aesculape, Bd. 40 (März 1957), S. 38–62, hier S. 57.
- Marc Edo Tralbaut, Vincent van Gogh, New York 1969, S. 326.