Mit der sogenannten Blauen Periode (1901–1905) gelang Pablo Picasso erstmals, einen eigenständigen Stil zu entwickeln und sich vom Akademismus wie auch den Einflüssen der Avantgarde aus Barcelona und Paris zu lösen. Gegen Ende 1904 belebte Pablo Picasso seine Farbskala wieder, weshalb diese Phase als Rosa Periode bezeichnet wird, dennoch blieb etwas von der melancholischen Stimmung in den Gemälden erhalten (→ Pablo Picasso: Rosa Periode).
Frankreich | Paris: Musée d’Orsay
18.9.2018 – 6.1.2019
Schweiz | Riehen b. Basel: Fondation Beyeler
Februar – Juni 2019
Pablo Picasso besuchte Paris 1901, im Alter von 19 Jahren, zum ersten Mal und blieb länger in der Stadt. Mit einer ersten Ausstellung bei Ambroise Vollard im Sommer 1901 hatte er veritablen Erfolg. In Paris setzte er sich in den folgenden Jahren mit Gemälden von Paul Cézanne, Edgar Degas und vor allem Henri de Toulouse-Lautrec auseinander (→ Pablo Picasso und Henri de Toulouse-Lautrec). Der frühreife Maler schulte sich an Malweise und Themenwahl seiner älteren Kollegen und wandte sich in seinen Bildern den Außenseitern der Gesellschaft zu: Bettler, Blinde, einsame Menschen, Absinthtrinker und Obdachlose, aber auch Mütter und deren Kinder. Da die Gemälde, passend zu den sie schildernden Themen Einsamkeit und Elend, Kummer und Kälte, Melancholie und Schwermut in kühle, bläulich-grüne Töne gehalten sind, wird diese Phase als die Blaue Periode bezeichnet. Gerade einmal 20-jährig entwickelte der Spanier zum ersten Mal einen eigenen Stil und setzte sich über die Tradition und sein eigenes spätimpressionistisches Frühwerk hinweg. Knapp über 100 Werke sind der Blauen Periode zuzurechnen.
Auslöser für diese Veränderung im Werk des noch suchenden Malers dürfte der Selbstmord von Carlos Casagemas (1881–1901) gewesen sein, obwohl sich die stilistische Veränderung erst einige Monate nach dessen Freitod manifestierte. Picasso übersiedelte im Januar 1901 nach Madrid. Nur wenig später erfuhr er, dass sich sein Freund am 17. Februar aus enttäuschter Liebe zu der Tänzerin Germaine Gargallo im Café de la Rotonde in Paris erschossen hatte. Kurz bevor er sich selbst richtete, hatte er noch erfolglos versucht, seine ehemalige Freundin Germaine zu erschießen.
In „Evokation - Das Begräbnis Casagemas“ (Paris 1901, Musée d’art moderne, Petit Palais, Paris) verarbeitete er den Selbstmord seines Freundes – gleichzeitig aber auch stilistische Einflüsse der Modernisten in Barcelona: Emil Fontbonas Archaismus, Isidre Nonells „Zigeunerinnen“-Bilder. Die blauen Farbtöne, die überlängte Figur und die Reduktion der Details zeigen den Einfluss der Avantgardisten der Jahrhundertwende auf den Spanier – aber auch von El Greco, der um 1900 wiederentdeckt wurde. „Dass meine Figuren in der Blauen Periode sich alle in die Länge strecken, liegt wahrscheinlich an seinem Einfluss“, bekannt der Maler später. Aber auch der katalanische Maler Isidre Nonell wurde zum entscheidenden Vorbild Picassos in dieser Zeit. Nonells Gestalten vor blauem und ockerfarbenem Hintergrund hinterließen offensichtlich tiefen Eindruck.
In Madrid arbeitete Pablo Picasso an der neuen Kunstzeitschrift „Arte Joven [Junge Kunst]“ mit. Im März 1901 erschien das erste von fünf Heften, herausgegeben von dem katalanischen Schriftsteller Francisco de Assis Soler, die Picasso als Mitherausgeber mit Illustrationen versah und diese mit „Picasso“ signierte. Nachdem die Kunstzeitschrift aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden musste, kehrte Pablo Picasso nach Barcelona zurück. Hier bezog er wieder das Atelier, das er zuvor gemeinsam mit Casagemas angemietet hatte.
Bereits 1901 fand Pablo Picasso in Ambroise Vollard einen umtriebigen Kunsthändler, der ihm eine Ausstellung in der Galerie, 6 Rue Laffite, widmete (24.6.1901). Er hielt sich daher ab Mai 1901 erneut in Paris auf und wohnte bei seinem ersten Kunsthändler Pere Mañach. Neben Vollard bemühte sich auch noch die Galeristin Berthe Weill um den aufstrebenden Maler aus Spanien. Die Werke wurden trotz ihrer deutlich düsteren Stimmung von Galeristen und Kritikern positiv aufgenommen.
Kurz danach malte Pablo Picasso, der in der Zwischenzeit eine Affäre mit der von Casagemas verehrten Gabrielle angefangen hatte, fünf Bilder, die den Tod seines Freundes zum Thema haben. Offensichtlich verarbeitete Picasso auf diese Weise seine Schuldgefühle. Hier zeigen sich die Stilqualitäten der Blauen Periode zum ersten Mal in den weich fließenden Konturen und der dominierenden blauen Tonalität. Erstere, die „Arabeske“, wird als Einfluss von Henri de Toulouse-Lautrec gedeutet, dessen Vorbildwirkung 1900 maßgeblich zur eigenständigen Entwicklung Picassos und seiner Loslösung vom Akademismus beitrug.
Im Oktober 1902 kehrte Picasso zum dritten Mal nach Paris zurück und wohnte erst in Hotels, hiernach bei dem Dichter Max Jacob, der als Gehilfe in einem Modegeschäft arbeiten musste. Im Winter heizten die Freunde mit Picassos Zeichnungen den Raum, weil Geld für Heizmaterial fehlte, aus demselben Grund benutzte Picasso Leuchtpetroleum statt Öl zum Malen und sparte an Bindemitteln.
„Er [Picasso] hält die Kunst für eine Emanation von Trauer und Schmerz (und darin sind wir uns einig). Er meint, die Trauer eigne sich zur Meditation, und der Schmerz liege dem Leben zugrunde. Wir befinden uns in einem Alter, in dem alles noch vor einem liegt: in dieser Periode der Ungewissheit, die ein jeder unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Misere betrachtet. Und weil unser Leben durch eine Periode des Schmerzes, der Trauer und der Misere hindurchgeht, bildet es, mit all seinen Qualen, die wesentliche Grundlage für die Theorie des künstlerischen Ausdrucks. Zugleich verfechten wir hartnäckig – denn die Idee stammt von Picasso – die These, dass der echte Künstler ein völliger Ignorant sein müsse; denn das Wissen behindere, trübe die Sehkraft und hemme die Ausdrucksfähigkeit, da dadurch die Ursprünglichkeit verloren gehe […]. In den Werken der Primitiven, die wir in den Museen betrachten, meinen wir unsere Theorie bestätigt zu finden; zeugen sie doch von einer Unschuld, die durch nicht Künstliches befleckt wird. Wir fordern, der Künstler solle aufrichtig sein, aber geben nicht zu, dass es Aufrichtigkeit außerhalb einer Darstellung des Schmerzes geben könne, denn Picassos Bilder aus dem Jahre 1901 scheinen uns das zu verraten.“1 (Jaime Sabartés über Picassos Kunsttheorie)
Als Hauptwerk der Blauen Periode gilt „La Vie [Das Leben]“ (Cleveland Museum of Art), das im Mai 1903 in Barcelona entstand, und in dem der abgebildete Mann die Gesichtszüge des Freundes Carlos Casagemas trägt. Röntgenbilder zeigen, dass sich unter dem Gemälde das Frühwerk „Letzte Augenblicke [Les derniers moments]“ (1899/1900) befindet, das Picasso in seiner ersten Ausstellung im „Els Quatre Gats“ im Februar 1900 präsentiert hatte. Von dort wurde es in den Spanischen Pavillon der Weltausstellung in Paris geschickt, womit der damals 19-jährige einen ersten internationalen Auftritt hatte.
Das fast zwei Meter hohe Bild (196,5 x 123,2 cm), das sich heute im Cleveland Museum of Art befindet, zeigt ein Porträt des verstorbenen Freundes. An seinen bleichen Körper schmiegt sich eine junge Frau, vielleicht Germaine, in die er (vermutlich) unglücklich verliebt war – und die wenig später die Geliebte Pablo Picassos wurde. Ihnen gegenüber steht eine Mutter mit schlafendem Kind im Arm. An der Wand hinter und damit auch zwischen den Figurengruppen hängen zwei monochrome Bilder. Sie zeigen kauernde Figuren, zu zweit oder alleine. Sie erinnern an Paul Gauguins von peruanischen Mumien inspirierte hockende Gestalten.
Picasso entwickelte „Das Leben“ aus einer größeren Anzahl von Zeichnungen zum Motiv der Umarmung und Begegnung eines Paares. Das rätselhafte Bild ist kaum zu deuten, vereint es doch unterschiedlichste Motive: Künstler und Modell im Atelier, Liebespaar in Konfrontation mit einer Mutter, Symbolik von Leben und Tod.
„Ich habe ihm [dem Bild, Anm. AM] diesen Titel nicht gegeben. Ich wollte keine Symbole malen. Ich habe einfach das gemalt, was vor meinen Augen aufstieg. Ich überlasse es andern, darin einen versteckten Sinn zu finden. Meiner Ansicht nach spricht das Bild durch sich selbst. Wozu etwas Vollendetes noch erklären? Ein Maler kennt nur eine Sprache, sonst …“2 (Pablo Picasso )
Im Jahr 1903 arbeitete Picasso sehr produktiv in Barcelona, kehrte jedoch wieder nach Paris zurück, wo er ab April 1904 bis zum Oktober 1909 im Bateau-Lavoir wohnte. Dieses war ein verwahrlostes Haus mit zahlreichen Künstlerateliers auf dem Montmartre. Dort hatten schon der mit Picasso befreundete spanische Bildhauer Paco Durrio und der Maler Kees van Dongen Unterkunft gefunden. Später kamen unter anderem Max Jacob, Juan Gris und Otto Freundlich hinzu.
Picasso schloss mit dem Dichter Guillaume Apollinaire Freundschaft und lernte 1904 Fernand Olivier kennen, die von 1905 bis 1912 seine Begleiterin und Muse wurde. Fernande war eine aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende geschiedene Frau, die sich für die Malerei der Impressionisten begeisterte. Über die Begegnung mit Picasso berichtet sie in ihren Erinnerungen „Picasso et ses amis“ 1933:
„Er hatte nichts Verführerisches, wenn man ihn nicht kannte. Allerdings, sein seltsam eindringlicher Blick erzwang die Aufmerksamkeit […] dieses innere Feuer, das man in ihm spürte, verliehen ihm eine Art Magnetismus, dem ich nicht widerstand. Und als er mich kennenzulernen wünschte, wollte ich es auch.“ (Fernand Olivier)
Mit der „Sitzenden Frau“ schuf er auch seine erste Skulptur. Fernande Olivier bildete er unter anderem in dem Ölgemälde La Toilette im Jahr 1906 ab oder 1909 in Bronze gegossen als „Tête de femme“. Die Unterkunft im Bateau-Lavoir war kärglich. Picassos Kunsthändler Kahnweiler erinnerte sich an das eiskalte und zugige Atelier im Winter und berichtete, dass im Sommer, „wenn es zu heiß war, Picasso bei geöffneten Türen völlig nackt im Korridor mit nur einem Tuch um die Lenden arbeitete“.