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Max Beckmann. Figuren im Exil Flucht und Exil im Werk des deutschen Malers

Max Beckmann, Cabins [Kajüten], Detail, 1948, Öl/Lw, 139,5 x 190 cm (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf)

Max Beckmann, Cabins [Kajüten], Detail, 1948, Öl/Lw, 139,5 x 190 cm (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf)

Die Ausstellung „Max Beckmann. Figuren im Exil“ im Museo Nacional Thyssen-Bornemisza umfasst 52 Werke – Gemälde, Skulpturen und Lithografien – ist die erste Präsentation des deutschen Malers seit 20 Jahren in Spanien. Max Beckmann (1884–1950) ist berühmt für seinen höchst individuellen Stil, der gleichzeitig realistisch in der Ausdrucksweise und symbolisch aufgeladen in der Thematik ist. Beckmann reagierte auf die Gesellschaft seiner Zeit, was in den Hauptwerken der Schau besonders deutlich wird: „Die Barke“ (1926), „Gesellschaft, Paris“ (1931), „Selbstporträt mit Horn“ (1938), „Stadt. Nacht in der Stadt” (1950) und „Die Argonauten” (1949/50), jenes Triptychon das Max Beckmann an seinem Sterbetag in New York fertiggestellt hat.

Die Ausstellung präsentiert Werk und Leben von Max Beckmann als zweigeteilt: Der erste Abschnitt ist seinem Leben in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. Hier ermalte sich Beckmann öffentliche Anerkennung, die abrupt mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 endete. Beckmann wurde von seiner Professur an der Frankfurter Städelschule entlassen und durfte nicht mehr öffentlich ausstellen.

Daraufhin emigrierte der Maler zuerst nach Amsterdam (1937–1947) und weiter in die USA (1947–1950). Beckmann ließ sich in New York nieder, wo er im relativ jungen Alter von 66 Jahren an einem Herzinfarkt starb. „Max Beckmann. Figuren im Exil“ versammelt Arbeiten, in denen Exil – auch in wörtlichem Sinne sein eigenes Exil – und Figur im Zentrum stehen. Die Figur hatte zeitlebens größte Bedeutung für Max Beckmann, stand sie doch in seinem Werk und Denken für die conditio humana, die Existenz des modernen Menschen. Daraus resultierten allegorische, großformatige Gemälde und Triptychen, denen er die meiste Zeit und größte Aufmerksamkeit schenkte. Darüber hinaus beschäftigte er sich noch erfolgreich mit den Gernes Porträt, Landschaft und Stillleben (→ Max Beckmann. Die Stillleben). Sein gesamtes Leben hindurch widmete er sich diesen traditionsreichen Gattungen, in denen sich ebenso manchmal allegorische Referenzen finden.

Thematisch lassen sich vier Metaphern für den Komplex Exil im Werk von Max Beckmann nachweisen: Masken, Elektrisches Babylon, der lange Abschied und das Meer. Masken stehen für den Verlust der Identität, die mit Flucht und Exil einherging. Das Elektrische Babylon zeigt die moderne Großstadt als Ort des Exils. Der lange Abschied blickt auf die Parallelen zwischen Exil und Tod; und das Meer steht als Metapher für Unendlichkeit, Verführung und Entfremdung.

 

Max Beckmann – ein deutscher Maler

Die Überzeugung, dass die Kunst in Deutschland einen eigenständigen Charakter hätte, mit der sie sich von der Kunst Frankreichs oder Italiens tiefgreifend unterschied, war in der Generation von Max Beckmann weit verbreitet. Nicht die ideale Schönheit, sondern die „Emotion des Lebens“ interessierte die Künstler der Weimarer Republik. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte den sozialen Wandel und den wirtschaftlichen Höhenflug Deutschlands kurzfristig ins Taumeln gebracht. Gesellschaftlicher Umbruch, Industrialisierung und Technisierung des modernen Großstadtlebens wurden in den 1920er Jahren mit neuer Energie fortgeführt. Dennoch blieb von dem verlorenen Krieg ein Bewusstsein der Krise zurück. Max Beckmann glaubte an die Pflicht des Künstlers, den Menschen ein Bild ihres Schicksals vor Augen zu führen.

 

Beckmanns moderner Traditionalismus

In der Kunst hatte der Expressionismus den Naturalismus und Impressionismus längst als zeitgemäße Ausdrucksform verdrängt. Max Beckmann reagierte noch vor dem Ersten Weltkrieg auf die Ausdrucksmöglichkeiten der Klassischen Moderne mit einem höchst eklektizistischen Stil. Neben Max Liebermann und Lovis Corinth standen auch noch Ferdinand Hodler, Paul Cézanne, Lesser Ury Pate seiner frühesten, impressionistischen Werke. Dennoch entwickelte er eine kritische Distanz zur Avantgarde der frühen 1910er Jahre, wie in einer Auseinandersetzung mit Franz Marc gipfelte. In seinen Tagebüchern und Briefen polemisierte der Berliner gegen Henri Matisse und Paul Gauguin, denen er einen dekorativen Flächenstil vorwarf.1 Auch noch 1927 forderte er „eine aktive Rolle des Künstlers“ als „Staatsformer“.2 So lehnte er als etabliertes Mitglied der Berliner Secession den jungen Expressionismus ab, obwohl er sich mit den „Brücke“-Künstlern ab 1912 das Thema Straßenbild teilte. Für Beckmann gab es keine „neue Malerei”, die auf theoretischen Prinzipien, kollektiver Arbeit und einer Kunstdoktrin beruhte, sondern nur verschiedene Persönlichkeiten. Dem entsprach sein Wunsch, sich in die große Tradition der europäischen Malerei einzufügen – anstatt diese über den Haufen zu werfen oder gar den Louvre anzuzünden, wie die Futuristen forderten. Für ihn waren malerischen Sinnlichkeit, konkrete Objektivität und die greifbare Realität aller abgebildeten Objekte die wesentlichen Qualitätskriterien für gute Kunst. Zeit seines Lebens schloss sich Max Beckmann niemals einer Strömung an, ja verweigerte auch eine Beteiligung an der Neuen Sachlichkeit. Die Folge davon war der Individualist Beckmann, dem früh eine „merkwürdig isolierte”3 Position innerhalb der deutschen Kunstproduktion zugeschrieben wurde.

Schon 1913 hatte er eine erste Einzelausstellung bei Paul Cassirer, die ihn als bedeutenden Maler seiner Generation etablierte. Im folgenden Jahr wandte er sich erstmals den Straßenszenen Berlins zu, durch die er den metropolitanen Charakter der Stadt zum Ausdruck bringen wollte (siehe: „Die Straße“, 1914, Berlinische Galerie → Kunst in Wien und Berlin (1900-1935)). Im Gegensatz zu den Künstlern des Futurismus und Expressionismus fokussierte Max Beckmann auf andere Qualitäten. Seine Bilder wirken gleichsam objektiver, als ob man die Straße durch die Augen des die Bewegung bezeugenden Malers beobachtete. Er integrierte sich als Selbstporträt und betonte auch in den folgenden Jahren immer wieder seine Augenzeugenschaft.

Die folgenden Jahre waren durch den Großen Krieg geprägt. Wie viele deutsche Künstler meldete sich Max Beckmann als Freiwilliger, weniger aufgrund eines Patriotismus als einer Suche nach einer lebensverändernden Erfahrung. Als Sanitäter erlebte er Entmenschlichung, Leid und Tod persönlich mit, was einen körperlichen und seelischen Zusammenbruch auslöste. Nach seiner Genesung kehrte Beckmann nicht mehr zu seiner Familie nach Berlin zurück (→ Max Beckmann und Berlin), sondern zog nach Frankfurt, wo er zwischen 1915 und 1933 wohnte. Daraus entwickelte sich u. a. der Topos der Verwandlung Beckmanns im Krieg. Curt Glaser vermutete die Auseinandersetzung mit den Werken von Edvard Munch (1863─1944) und Erich Heckel (1883─1970) als Grund für die Wandlung. Vielleicht war es aber Beckmanns sinkender Stern im Berlin der Vorkriegsjahre, der Beckmann dazu ermunterte, seine Kunst völlig zu verändern.

 

Schwarz-weiße Grafik und der Kampf zwischen Gut und Böse

Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs beförderte in Max Beckmann die Überzeugung, dass er seine Kunst für den tragischen Kampf des einzelnen gegen das Böse einsetzen wollte. Dies drückte er zwischen 1915 und 1923 in grafischen Blättern aus. Das Schwarz-weiß der Kaltnadelradierung zog ihn in diesen Jahren des Umbruchs deutlich mehr an als die Malerei, entstanden doch nur 30 Bilder in dieser Phase. Dem Expressionismus entlehnte er Deformation und Hässlichkeit, um die psychologische Wirkung der Grafiken zu vertiefen. Desgleichen bewundert er den „Isenheimer Altar” von Matthias Grünewald mit dessen protoexpressiven Schmerzmetaphern. Weitere Vorbilder der 20er Jahre waren Pieter Bruegel der Ältere, Henri Rousseau, Vincent van Gogh, Paul Cézanne und William Hogarth. Vor allem der englische Moralist des 18. Jahrhunderts nahm Beckmanns Auseinandersetzung mit dem Menschen und den Verlockungen der Stadt vorweg. Beckmanns Figuren wirken manieristisch verformt, der Bildraum unterliegt ebenfalls einer dramatischen Verkürzung, wie in dem anfangs unverkäuflichen Portfolio „Die Hölle“ (1919) deutlich erkennbar ist. Von den Expressionisten entlehnte er den direkten, harschen Strich, mit dem er die Tragikomödie des Lebens analysierte.

 

Moderate Moderne

Max Beckmann wurde für seine realistischen Bilder rasch als zeitgemäßer Maler bekannt, der sich den beißenden Kommentaren der Veristen (Grosz, Dix) enthielt. Dennoch erzählen seine Werke von einer brüchigen Gesellschaft, in der sich der Künstler selbst entweder mit Champagnerglas oder als Clown sah: „Selbstporträt mit einem Glas Champagner“ (1919), „Selbstporträt als ein Clown“ (1921) oder „Doppelporträt. Karneval“ (1925, Museum Kunstpalast, Düsseldorf). Beckmanns Ruhm wuchs während der Weimarer Republik weiter an. Genauer: Anfangs standen Kritik und Publikum seinen Bildern unverständig bis feindselig gegenüber. Erst 1925 in der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ trat er als einer der führenden Maler Deutschlands hervor. Im gleichen Jahre heiratete er Mathilde von Kaulbach, genannt Quappi, die Tochter der Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach. Das „Doppelporträt“ (1923, Städel Museum) wie auch die Stillleben der 20er Jahre zeugen vom bürgerlichen Ambiente, mit dem sich Beckmann umgab. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wandte sich Max Beckmann, ausgestattet mit öffentlicher Anerkennung und finanzieller Sicherheit, Paris zu, wo er in Pablo Picasso den einzigen ernstzunehmenden Rivalen erkannte.

Beckmann konstatierte in dieser Zeit, dass er die Malerei deshalb so liebte, weil sie ihn zur Objektivität zwänge. „Ich hasse nichts mehr als Sentimentalität“, schrieb er bereits 1918. Indem er eine sachliche Herangehensweise und die Betonung der Volumina einforderte, nahm er Prinzipien der Neuen Sachlichkeit vorweg. Wenn auch viele ihn in der Position der führenden Malerpersönlichkeit dieser Stilrichtung sahen, lehnte Beckmann selbst jegliche Verbindung dazu ab. „Die Barke” (1926), „Karneval in Paris (1930) und „Gesellschaft, Paris“ (1931) weisen Max Beckmann als Maler des modernen Lebens aus, der sich zu Kabarett, Zirkus und Karneval hingezogen fühlte, und darin die Dekadenz der Zwanziger Jahre einfing.

„Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankommt, ist die Idealität, die sich hinter der scheinbaren Realität befindet. Ich suche aus der gegebenen Gegenwart die Brücke zum Unsichtbaren: ähnlich wie ein berühmter Kabbalist es einmal gesagt hat: Willst du das Unsichtbare fassen dringe so tief du kannst ein – in das Sichtbare.“ (Max Beckmann, 1930)

 

 

Berliner Jahre (1933–1937)

Die bedeutendste Innovation in Beckmanns Berliner Jahren zwischen 1933 und 1937 war die Etablierung des Triptychons. Wie auch andere deutsche Maler der Zwischenkriegszeit beschäftigte sich Beckmann mit Kunst des Spätmittelalters und der Renaissance und wollte deren Expressivität (→ Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500) in die Kunst des 20. Jahrhunderts hinübertragen. Hatte sich der Maler in seinem Frühwerk mit großformatigen, vom Salon des 19. Jahrhunderts beeinflussten Formaten etabliert, so ersetzte er diese in den 1930ern durch das dreiteilige Bild. Nicht nur das Format und seine Haltung zum kreativen Schaffensprozess, sondern auch sein Verhältnis zur Welt, zum Leben und zum Schicksal veränderten sich radikal. Das Sichtbare zu untersuchen, um zum Unsichtbaren vorzustoßen, ließ ihn auch die Allegorie wiederbeleben.

Das Exil ließ Max Beckmann diesen Typus an Gemälden verstärkt verwenden. Zehn Triptychen, eines davon unvollendet, entstanden in den folgenden Jahren. Das Museo Thyssen-Bornemisza zeigt drei Triptychen, darunter „Der Anfang“ (Amsterdam 1946–1949 New York). „Der Anfang“ schildert Kindheitserinnerungen, womit der Künstler seinen Neuanfang verband. Dennoch beziehen die Triptychen ihre zeitgenössische Aktualität in der Unauflösbarkeit der Bildinhalte. Gut und Böse spielen sich gleichzeitig nebeneinander ab. Die Mehrdeutigkeit der Symbole, gespeist aus christlicher Ikonografie, jüdischer Metaphorik sowie griechischer, indischer und nordischer Mythologie, faszinierte den Maler.

 

Flucht vor NS-Verfolgung

Obwohl Beckmann eine klassische Form der Moderne entwickelte, sah er seine Position vom Aufstieg der Nationalsozialisten bedroht. Er war in Frankfurt a. M. eine prominente Persönlichkeit, der für die Moderne stand und mit der jüdischen Elite verkehrte. 1933 verlor er sein Lehramt an der Städel Schule und kehrte auf der Suche nach größerer Anonymität nach Berlin zurück. Gleichzeitig musste er bemerken, wie deutsche Museen seine Gemälde abhängten und er auch immer weniger verdiente.

Am 17. Juli 1937 emigrierte das Ehepaar Beckmann nach Amsterdam, zwei Tage später wurde die Femeausstellung „Entartete Kunst“ in München eröffnet. Beckmann war darin mit zehn Gemälden und zwölf Grafiken vertreten. Ein weiterer Umzug nach Paris wurde unmöglich, da im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach. Nach dem Krieg schloss Max Beckmann eine Rückkehr nach Berlin kategorisch aus und lehnte jedwede Lehrangebote ab. 1947 konnten er und seine Frau in die Vereinigten Staaten ausreisen, wo Beckmann die letzten drei Lebensjahre verbrachte. Hier schöpfte er – angesichts der ungeheuerlichen Größe des Landes und das kosmopolitische Leben in New York – Optimismus und Vitalität. Die Formen seiner Figuren wurden nochmals kühner und die Farben schreiender. Dennoch verlor er niemals das Bewusstsein eines Exils im Geist.

 

Der lange Abschied

Das Exil wird häufig mit dem Tod verglichen. Da Max Beckmann sein Deutschtum vom Anfang seiner Karriere als Künstler hinterfragte, sah er sich in den 20er und 30er Jahren mit dem Aufstieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten dieser Problematik ständig ausgesetzt.

Nachdem sie Berlin verlassen hatten, ließen sich Max und Mathilde Beckmann für zehn Jahre in Amsterdam nieder (1937–1947). Hier tauschten sie Prominenz gegen Anonymität und eine Professur gegen eine ungewisse Zukunft. Das erste großformatige Gemälde, das Max Beckmann in Amsterdam begann, ist mit „Geburt“ (1937) betitelt. Einige Monate später malte er „Tod” (1938, Nationalgalerie Berlin). Wenn auch der Maler sie getrennt voneinander verkaufte, so wirken sie doch aufgrund ihrer formalen Lösungen und Ikonografie wie ein Paar. Darüber hinaus konnte Madrid noch „Tod, Vampir” (1947/48) sowie „Großes Stillleben mit Skulptur und Luftballon mit Windmühle“ (1947) nach Spanien holen.

 

 

Masken

Zu den ersten Effekten des Exils zählt die Infragestellung der Identität der exilierten Person. Mit dem Verlassen der Heimat geben sie auch einen Teil ihrer Identität auf. Max Beckmann visualisierte diese Erfahrung im wandernden Künstler, Zirkusartisten oder dem Kabarettsänger; letztere legen für ihre Auftritte Masken an. Ein weiteres solches Paradigma ist der Karneval. Das „Selbstporträt mit Horn“ (1938), eines von zwei Selbstbildnissen, das Beckmann in den ersten Monaten seines Amsterdamer Exils malte; das Triptychon „Karneval“ (1943) zeigt den Künstler als weißgekleideten Pierrot in der Mitte der zentralen Tafel. Clownerie und Schauspiel symbolisieren in Beckmanns Werk kontinuierlich die absolute Nutzlosigkeit menschlichen Bemühens. „Begin the Beguine“ (1946, Michigan) lässt die festliche Stimmung des Tanzes von einer latenten Gefahr bedrohen. „Maskerade“ (1948) zeigt die gleiche Verbindung des Festlichen mit dem Düsteren, wobei – wie in vielen von Beckmanns Bildern – das modisch gekleidete Paar der Maler und seine zweite Ehefrau Quappi sind. Wenn auch die Jahre in New York relative glückliche für Beckmann waren, so verbindet sich in den Bildern dieser Phase doch das Exil mit dem Verkleiden, das ausgelassen Feiernde mit der Krise der Identität.

 

 

Elektrisches Babylon

Der Großstadt ist der paradigmatische Platz für den Verlust der Identität des modernen Menschen. Dieses Gefühl der Entfremdung wird am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals beschrieben, wenn es auch ältere Vorläufer gibt. Der biblische Vergleich kennt beispielsweise das Exil der Juden in Babylon, das mit seiner Vielzahl an falschen Idolen den Glauben der Israeliten auf die Probe stellte. Das Museo Thyssen-Bornemisza betitelt ein Kapitel der Beckmann-Ausstellung als „Elektrisches Babylon“, was sich auf die moderne Metropole bezieht, in der die Grenze zwischen Tag und Nacht, Natürlichkeit und Künstlichkeit zusammenbricht. Beckmann sah in den Bars, Spielhallen, Tanzsälen und Kabaretts Orte der Verführung und Verderbens, in denen sich der biblische „Verlorene Sohn“ zurechtfinden sollte. Prototyp der modernen Metropole war für Max Beckmann Berlin. Sie war der Schauplatz des Lebens mit seinen Eitelkeiten, Einsamkeiten und Zwängen. Daher zogen ihn besonders der Zirkus, das Varieté, die Bühne und der Jahrmarkt an: „Large Variety Show with Magician and Dancer [Großes Varieté mit Zauberer und Tänzerin]” (1942) ist die spektakulärste Interpretation dieses Themas. Babylon, die Stadt des Exils, ist genauso das Zentrum der Versuchungen, wie Beckmann es im „Verlorenen Sohn“ in einer Serie von Aquarellen 1918 und in dem Gemälde aus dem Jahr 1949 zeigt.

Neben den allegorischen Gemälden schuf Max Beckmann nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten einige Aquarelle, in denen er seinen Alltag verarbeitete, wie „Plaza (Hotel Vestibule)“ und „City. Night in the City” (beide 1950). Man sollte nicht vergessen, dass Beckmanns letzte Jahre höchst erfolgreich verliefen und er sich in den ihm noch verbleibenden drei Jahren in der Neuen Welt verhältnismäßig großer Anerkennung erfreuen durfte.

 

Das Meer

Das Meer ist eines von Max Beckmanns wichtigsten Motiven. Es steht in seinem Werk für Reise und Exil, eine unvorstellbare Größe, in der niemals etwas stillsteht, und ein Medium, in dem die menschliche Existenz ihrem Ende entgegenfließt, sich reinigt und erneuert. Beckmanns räumliche Lieblingsmetapher für geistige Freiheit ist ebenso das Meer. Das Meer kann verführerisch glitzern wie für die „Argonauten” oder auch zum schwarzen Schlund werden wie für Ikarus, den „Fallenden Mann“. Eines von Beckmanns geheimnisvollsten Bildern ist „Transport der Sphingen“ (1945) oder auch „Cabins [Kajüten]“ (1948), in dem ein Boot zu einer ganzen Stadt wird, ergänzen die Bildauswahl. In den späten Bildern tritt Beckmanns tiefer Pessimismus im Schwarz und den engen Bildräumen zutage.

 

 

„Die Argonauten“

Das Triptychon „Die Argonauten“ zählt zu den wichtigsten Werken der Schau im Museo Thyssen-Bornemisza. Max Beckmann arbeitete mehr als ein Jahr an dem Bild und vollendete es am 27. Dezember 1950 – in der Nacht vor seinem Tod. Am gleichen Tag starb er an einem Herzinfarkt. Beckmann entwarf den linken Flügel als erstes und schloss darin an das Sujet „Maler und Modell“ an. Das ursprünglich als unabhängiges Bild entworfene Werk erhielt zwei Erweiterungen, die die „Argonauten“ mit den Künstlern, mit Malern, Musikern und Schriftstellern gleichsetzen. Aus den Allegorien der drei Kunstrichtungen wurde knapp vor Fertigstellung die antike Sage. Mathilde „Quappi“ Beckmann erinnerte sich, dass ihr Mann einen Traum von der griechischen Legende hatte, wenige Tage bevor er das Triptychon abschloss. Zu diesem Zeitpunkt muss er einige klassische Attribute ergänzt haben – wie das Schwert, das das Künstlermodell hält und die Sandalen. „Die Argonauten“ vollenden eine Zyklus Beckmanns, den dieser 45 Jahre zuvor mit „Junge Männer an der See“ begonnen hatte. Mit diesem Bild gelang ihm der Start in eine Künstlerkarriere; es zeigt bereits das Meer als Hintergrund der Komposition und als Sehnsuchtsort der Figuren.

Kuratiert von Tomàs Llorens

 

Max Beckmann. Exil: ausgestellte Bilder (Auswahl)

  • Max Beckmann, Selbstporträt mit Champagnerglas, 1919, Öl/Lw, 65 x 55,5 cm (Dauerleihgabe, Städel Museum, Frankfurt a. M.)
  • Max Beckmann, Doppelporträt, 1923, Öl/Lw, 80,3 x 65 cm (Städel Museum, Frankfurt)
  • Max Beckmann, Stillleben mit Grammophon und Irisen, 1924, Öl/Lw, 114,3 x 55,5 cm (The Lewis Collection)
  • Max Beckmann, Doppelporträt, Carneval, 1925, Öl/Lw, 160 x 104,5 cm (Museum Kunstpalast, Düsseldorf)
  • Max Beckmann, Selbstporträt, 1936, Bronze, 37,5 x 28 x 33 cm (Museum der Bildenden Künste Leipzig, Nachlass Mathilde Q. Beckmann)
  • Max Beckmann, Selbstporträt mit Horn, 1938, Öl/Lw, 110 x 101 cm (Privatsammlung, New York)
  • Max Beckmann, Frau mit Spiegel, 1943, Öl/Lw, 100 x 69,5 cm (Privatsammlung)
  • Max Beckmann, Der Transport der Sphingen, 1945, Öl/Lw, 130,5 x 140,5 cm (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe)
  • Max Beckmann, Begin the Beguine, 1946, Öl/Lw, 178 x 121 cm (Sammlung der University of Michigan, Museum of Art, Ann Arbor)
  • Max Beckmann, Die Mühle, 1947, Öl/Lw, 138 x 128 cm (Portland Art Museum, Oregon, Helen Thurston Ayer Fund)
  • Max Beckmann, Cabins [Kajüten], 1948, Öl/Lw, 139,5 x 190 cm (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf)
  • Max Beckmann, Der verlorene Sohn, 1949, Öl/Lw, 100 x 120 cm (Sprengel Museum, Hannover)
  • Max Beckmann, Triptychon: Die Argonauten, 1949/50, Öl/Lw, 184,1 x 85,1 cm ()links), 205,8 x 122 cm (Mitte), 185,4 x 85 cm (rechts) (National Gallery of Art, Washington D. C. Donation of Mrs. Max Beckmann)
  • Max Beckmann, Fallender Mann, 1950, Öl/Lw, 141 x 88,9 cm (National Gallery of Art, Washington, Gift of Mrs. Max Beckmann)

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  1. Ebenda, S. 81.
  2. Ebenda, S. 78.
  3. Sarah O’Brien-Twohig, Max Beckmann, in: Christos M. Joachimides, Norman Rosenthal, Wieland Schmied (Hg.), Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1905–1985 (Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, 8.2.–27.4.1986; Royal Academy of Arts, London, 11.10.–22.12.1985), München 1986, S. 436.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.