Egon Schiele, Die Umarmung, 1917 (© Belvedere, Wien, Foto Belvedere, Wien, Johannes Stoll)
Die Ausstellung mit rund 130 Werken aus der letzten Schaffensphase Egon Schieles konzentriert sich erstmals auf das künstlerische Schaffen der letzten fünf Lebensjahre des österreichischen Expressionisten. Schiele starb im Herbst 1918 im Alter von nur 28 Jahren an den Folgen der Spanischen Grippe (→ Egon Schiele: Biografie). Davor wandelte er sich von einem Hauptvertreter des Wiener Expressionismus zu einem nahezu realistischen Maler. Die Ausstellung zeigt, wie Schieles Biografie und seine Werkentwicklung in den vier Jahren ab 1914 miteinander verwoben sind. Immerhin prägten seine Eheschließung und sein Kriegseinsatz die Phase zwischen 1915 und 1918 maßgeblich. Erstmals ist Edith Schieles Tagesbuch in der Öffentlichkeit zu sehen. Darin beschreibt die Ehefrau ihren schwierigen Start in die Ehe, überschattet vom Kriegsdienst, sie gibt aber auch einen intimen Einblick in ihre Gefühlslage. Damit erlaubt diese Quelle erstmals Schieles Ehefrau Edith besser zu begreifen.
Österreich | Wien:
Leopold Museum
28.3. – 13.7.2025
Schwerpunkte der Ausstellung im Leopold Museum sind unter anderem die Suche nach dem Ich, die Darstellung von Paaren, die Auseinandersetzung mit dem Porträt seiner Frau Edith, Landschaftsbilder, Arbeiten aus der Militärzeit, Porträts von Freunden und die allgegenwärtige weibliche Figur. Getragen wird die Schau von 20 Ölgemälden, denen knapp über 110 Zeichnungen zur Seite gestellt werden.1 Dies ist repräsentativ für das gesamte Schaffen Schieles, wobei sein Kriegseinsatz die Anzahl der Gemälde verringerte.
Die letzten, zum Teil unvollendeten Arbeiten aus dem Leopold Museum bilden den Abschluss der Ausstellung, der Unmengen an Zeichnungen vorausgeschickt werden.2 Darüber hinaus gibt die Ausstellung „Zeiten des Umbruchs. Schieles letzte Jahre“ einen Einblick in die Erfolge und den künstlerischen Durchbruch Egon Schieles mit der großen Ausstellung in der Wiener Secession im Frühjahr 1918:
„Der große Saal ist Egon Schiele gewidmet, von dem das etwas aufreizende Plakat der Ausstellung herrührt. Mit Schiele tritt uns das störkste und reichste Talent entgegen. Man findet leicht seine künstlerischen Ahnen heraus: es sinf vornehmlich Goya und Hodler. Von Hodler hat er Gebärde, Haltung und Linie in seinen Bildnissen, von Goya Rasse und das Leidenschaftliche seiner Phantasie. Man sagt nicht viel, mwenn man Schlagworte der Schulen anwendet. Expressionismus ist nicht gerade eine Form unserer Zeit allein. Wenn Schiele Genialität besitzt, so liegt sie zumeist in seiner Zeichnung, die aus einem Gesicht, einer Bewegung alles herausholt, was zur Darstellung gedacht werden kann. Es ist ein malender Psychologe, der Augenblickliches, Alltägliches ins Monumentale umzusetzen vermag. So in seinen Porträts. Er malt die Kraft und das Honfällige, das Ausgebrannte in den Seelen wie das Emporblühende. Er ist nüchtern und ekstatisch, ein Realist und Träumer. Er zeichnet Gesichter und Haltungen, die sich unvergesslich einprägen. Ein individueller Kolorist von zarter und erfrischender Art, bleibende Farbe und Zeichnung bei ihm keum zwei innigst verschmolzene Dinge. Vom Kubismus hat er das Konstruktive und Flächige. Er ist wahr bis zur Abscheulichkeit („Liegende Frau“, „Kauerndes Menschenpaar“), aber betrachtet man als letztes sein im Besitz der Münchener Secessionsgalerie sich befindliches Bild „Mann und Mädchen“, dieses wundervolle Gedicht von Phantasie, Zeichnung und Komposition, so scheidet man von ihm mit einer tiefen Verneigung.“3 (Hermann Menkes, Die Jugend in der Secession, 12.3.1918)
Am 28. Juni 1914 wurde Franz Ferdinand, Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie, ermordet, und bereits im August befanden sich große Teile Europas im Krieg. Im November 1914 heiratete Schieles Lieblingsschwester Gertrude „Gerti“ (1894–1981) nach einer stürmischen außerehelichen Beziehung ihren Freund und Schieles ehemaligen Studienkollegen Anton Peschka (1885–1940). Das Paar hatte bereits ein Jahr zuvor eine uneheliche Tochter bekommen, die ebenfalls Gerti genannt wurde. Zur gleichen Zeit trennte sich Schiele von seinem Modell und seiner langjährigen Lebensgefährtin Walburga „Wally“ Neuzil (1884–1917 → Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele), die er für eine bürgerliche Ehe mit dem unscheinbaren, aber wohlerzogenen „Mädchen von nebenan“, Edith Harms (1893–1918), verließ. Kurz vor seinem Einrücken nach Prag bzw. Neuhaus in Böhmen heiratete das Paar am 17. Juni 1915 in der Lutherischen Stadtparrkirche in der Dorotheergasse.4
Die ersten Wochen verbrachte der Künstler zusammen mit tausenden tschechischen Soldaten unter schlechten sanitären Bedingungen in einer Ausstellungshalle. Seine Erschütterung brachte er in Briefen mit sozialen und nationalistischen Ressentiments heftig zum Ausdruck: „ekelhafte Leute lauter Czechen [sic]“5. Nach 14 Tagen schrieb er unter anderem an Josef Hoffmann6; seiner Mutter warf er vor, keinen Kuchen oder Post erhalten zu haben.7
„Einige von den Russen konnten deutsch sprechen und erzählten mir wo sie gefangen wurden und daß sie seit 10 Monaten bereits hier als Riemer u. s. w. zur Arbeit verwendet werden. Ihre Sehnsucht nach den [sic] ewigen Frieden war so groß wie bei mir und die Idee eines aus vereinigten Staaten bestehenden Europas, gefiel ihnen.“8 (Egon Schiele, Eintrag im Kriegstagebuch am 12. März 1916)
Die Auswirkungen des Krieges und die lebensverändernden Umstände seiner Heirat machten Schiele empfänglicher für die äußeren Realitäten des Lebens. Er wurde nach mehreren Stationen als Wachsoldat in Niederösterreich eingesetzt, wo ihm kein Atelier zur Verfügung stand. Das Jahr 1916 ist daher das künstlerisch unproduktivste seines Lebens. Dennoch sollte sich diese Phase als wichtig für seine weitere Entwicklung erweisen, musste der Künstler doch sein Interesse vom eigenen Ich auf sein Gegenüber verlagern; es fehlen Selbstbildnisse in diesen Jahren gänzlich. Erstmals tritt diese neue Haltung in den eindrücklichen Soldatenporträts zutage. Schieles Bildnisse von Gefangenen und Offizieren lesen sich beinahe wie ein bebildertes Adressbuch.9 Nun zeigt Schiele die Köpfe der Porträtierten und schildert in Mimik und Körperlichkeit ihre Hilflosigkeit und die Folgen des Krieges.
„[…] ich finde und weiß, daß das Abzeichnen nach der Natur für mich bedeutungslos ist, weil ich besser Bilder nach Erinnerungen male, als Vision, von der Landschaft. – Hauptsächlich beobachte ich jetzt die körperliche Bewegung von Bergen, Wasser, Bäumen und Blumen. Überall erinnert man sich an ähnliche Bewegungen im menschlichen Körper, an ähnliche Regungen von Freuden und Leiden in den Pflanzen. […] Innigst und mit dem Wesen und Herz empfindet man einen Herbstlichen [sic] Baum im Sommer; diese Wehmut möchte ich malen.“10 (Egon Schiele in einem Brief an Franz Hauer, 25. August 1913)
Als Egon Schiele im Mai 1916 nach Mühling versetzt wurde, das nur drei Stunden von Wien entfernt ist, beschrieb er das dortige Offiziersgefangenenlager äußerst idyllisch: „in reizender Gegend sonnig gelegen […] wie in einen [sic] modernen Badeort“11. Dort wurde der Maler endlich für den Bürodienst eingeteilt, und zwar in der „Provianturkanzlei der k. u. k. Offiziersstation für kriegsgefangene Offiziere“, in der sich 226 russische Kriegsgefangene befanden.12 Er schien sich dort wohl zu fühlen, denn er berichtete „es geht mir gerade nicht schlecht“13. Sein Vorgesetzter Gustav Herrmann (1863–1935) stellte Schiele sogar einen Lagerraum als Atelier zur Verfügung
Im Jahr 1917 entschied sich der Maler bewusst für eine Wende in seiner Kunst. Durch viele Bemühungen seinerseits und von anderen wurde Egon Schiele im Januar nach Wien zurückversetzt, wo man ihn der „k. k. Konsumanstalt für die Gagisten der Armee im Felde“ mit Sitz in der Mariahilferstraße 134 zuteilte. Sein Vorgesetzter Oberleutnant Dr. Hans Rosé (Jurist), den Schiele auch porträtierte, beauftragte Schiele damit, das Hauptmagazin der Konsumanstalt in der Schottenfeldgasse, den Weinkeller in Floridsdorf sowie alle 28 Konsumanstalten zu zeichnen, die in allen Teilen der Monarchie zu finden waren. Mit Oberleutnant Karl Grünwald reiste Schiele nach Tirol. Dies bedeutete für Schiele nicht nur eine willkommene Abwechslung vom Alltag in der Schreibstube, sie brachten ihn auch in neue Gegenden nach Südtirol, wo einige Berglandschaften entstanden. Die Zeichnungen der Lagerhäuser und Büros sollten für eine Festschrift verwendet werden, die jedoch nie erschien.14 Die nicht verwendeten zwölf Blätter schenkte Schiele Hans Rosé, der sie über fünfzig Jahre lang bei sich behielt und bei seiner Emigration nach England mitnahm.
Schieles allegorische Bilder wurden in seinen letzten beiden Jahren universeller und weniger selbstbezogen, seine Porträts einfühlsamer. Diese Hinwendung zu einem humanistischen Menschenbild unterstützte er durch einen realistischeren Stil. Egon Schieles neue Orientierung zeigte sich zunächst in den Zeichnungen von Edith und weitete sich ab 1916 auf andere Motive wie Soldatenporträts aus. Der wachsende Erfolg des Künstlers in seinen letzten beiden Lebensjahren ermöglichte es ihm, seine Tätigkeit als Porträtist zu intensivieren und Großprojekte wie die Ausstattung eines Mausoleums zu planen. Ab Frühjahr 1918 arbeitete Schiele im Heeresmuseum
Kurz vor seinem 28. Geburtstag befand sich Egon Schiele auf dem Höhepunkt seiner Karriere und machte sich intensive Gedanken darüber, wie er die österreichische Kulturszene der Nachkriegszeit wiederbeleben könnte. Doch Edith und Egon Schiele starben Ende Oktober 1918 innerhalb weniger Tage an der Spanischen Grippe - drei Tage später wurde der Waffenstillstand unterschrieben.
„Der Krieg ist aus – und ich muß geh’n. – Meine Gemälde sollen in allen Museen der Welt gezeigt werden!“15
Die Ausstellung im Leopold Museum startet mit Schieles Selbstporträts, die sein monumentales Gemälde „Entschwebung (Die Blinden II)“16 (1915) flankieren. In der Gegenüberstellung seiner frühen, expressionistischen Selbstanalysen, darunter „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“17 (1912) und die farbig gefasste Zeichnung „Selbstdarstellung, grimassierend“18 (1910), mit „Selbstbildnis“19 (1915) und vor allem das realistische und detailraiche „Selbstbildnis in Uniform“20 (1916) legt die These der Kuratorinnen offen: Schiele entwickelte sich von einem Vetreter des Expressionismus, der Hässlichkeit und gesellschaftlicher Analyse in übersteigerten Selbstporträts miteinander verband, zu einem subtilen Beobachter der Realität.
Ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch schrieb er an seine Lieblingsschwester Gerti:
„Wir leben in der gewaltigsten Zeit, die die Welt je gesehen hat – wir haben uns an alle Entbehrungen gewöhnt – hunderttausende von Menschen gehen kläglich zu Grunde – jeder muß sein Schicksal lebend oder sterbend ertragen – wir sind hart geworden und angstlos. – Was vor 1914 war gehört zu einer anderen Welt, – wir werden also immer in die Zukunft schauen, – wer hoffnungslos ist gehört zu den Sterbenden, – wir müssen bereit sein, alles was das Leben bringt zu ertragen.“21 (Egon Schiele in einem Brief an Gertrude Peschka, 23.11.1914)
1915 trennte sich Egon Schiele von seiner Lebensgefährtin Wally Neuzil. Das berühmte Doppelporträt „Selbstbildnis mit Lampionfrüchten“22 und „Bildnis Wally Neuzil“23 enstand 1912, als sich der Künstler im Rahmen der Neulengbach Affäre zu seinem Modell bekannte. Doch diese Beziehung ging Ende 1914/Anfang 1915 zu Ende, als Schiele die Schwestern Harms näher kennenlernte. Der Maler und Zeichner verarbeitete die Trennung in einer langen Reihe von Paardarstellungen. „Tod und Mädchen“ im Belvedere wird als die wichtigste Werk in diesem Kontext angesehen. Da das Belvedere das Gemälde nicht lieh (leihen konnte), behilft sich das Leopold Museum mit einer digital erweiterten Fotografie von 1915, die Egon Schiele vor dem Spiegel in seinem Hietzinger Atelier zeigt und im Hintergrund das Gemälde zeigt.24
„[…] das eine aber ersah ich heute früh daß Du nicht zu den Opfern bereit bist wie ich. – Vielleicht hast Du meine Bemerkung mit W.[ally] auch falsch erfaßt wie es faßt [sic] alle Menschen tun und ich es büßen muß, weil ich nicht die Ausdrucksart habe wie es zweckentsprechend wäre – ich lebte schon zu lange in einer andern Welt und hoffe wieder dorthin zu kommen. – […] und ich möchte die Zeit erleben wo wir uns so lieb haben daß kein Opfer zu groß wäre. – Was darunter ist können Millionen Menschen tun.“25 (Egon Schiele in einem Brief an seine Ehefrau Edith Schiele, Januar 1916)
Die Beziehung zu Edith Harms führte Egon Schiele von der Boheme in die bürgerliche Sphäre zurück. Dass sich der Maler - aber auch seine Ehefrau - wohl romantischer vorstellte, als die Wirklichkeit für ihn vorsah, wird noch zu erzählen sein. Mit dem Großformat „Umarmung (Liebespaar II)“26 (1917) stellte Schiele ebendiese romantische Vision dar. In seinen Zeichnungen hingegen sind die hetero- und homosexuellen Paare sichtbar in Nöten, voneinander abhängig, mit- und ineinander verschlungen oder gelangweilt. Die Zeichnungen aus den Jahren 1914 und 1915 kulminieren in dem Blatt „Sitzendes Paar“27 (1916), die als Egon und Edith Schiele identifiziert werden können.
„[I]ch habe mich immer schon selbst bedauert nie die Liebe anderer Männer […] erwidern zu können. […] doch dann kamst Du, – und alles war anders.“28 (Edith Schiele im Gedanken an Egon Schiele, Tagebuch, 28. Juli 1915)
Erstmals widmet das Leopold Museum der Ehefrau von Egon Schiele eine Betrachtung. Edith Anna Harms wurde am 4. März 1893 in Wien geboren, ihre Schwester Adele war bereits am 14. November 1890 zur Welt gekommen. Ihr Vater Johann Heinrich Harms (1843–1917), ein gelernter Schlosser, stammte aus Norddeutschland. Ediths Mutter hieß Josepha „Josefine“ Harms (geb. Bürzner, 1850–1939) und kam aus Weitersfeld bei Retz in Niederösterreich. Sie brachte aus erster Ehe den Sohn Friedrich „Fritz“ Erdmann in die Ehe mit; dessen Sohn Paul Die Schwestern Harms wachsen wohlbehütet auf; beide lernen nähen und kochen und sprechen Englisch und Französisch.
Josefine Harms erwarb Anfang März 1913 das Gebäude in der Hietzinger Hauptstraße 114 im 13. Wiener Gemeindebezirk; Schieles Atelier war seit Oktober 1912 auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein erster Kontakt dürfte im Januar 1914 erfolgt sein, aber erst im Dezember intensivierte sich die Beziehung, bis im Januar 1915 sich Egon und Edith ihre Liebe gestanden. In dieser Phase nutzte Schiele Wally als Gouvernante, um mit den Schwestern ins Kino zu gehen. Frühe Zeichnungen von Edith zeigen eine modisch gekleidete, junge Frau, die den Konventionen der bürgerlichen Welt völlig entsprach. Offenbar war sie schon anderen Männern aufgefallen, wie der oben zitierte Tagebucheintrag hingegen verrät, dürfte erst Egon ihr Interesse geweckt und ihre Gefühle angesprochen haben.
Da Ediths Eltern strikt gegen eine Verbindung mit einem Künstler waren, ist die Eheschließung dem Kriegsausbruch zuzuschreiben. Am 17. Juni 1915 heiratete das Paar in der protestantischen Lutherkirche im ersten Bezirk. Einziger Zeuge war Ediths Vater Johann; sonst waren keine Verwandten anwesend. Danach verbrachte das Paar die Flitterwochen in Prag, wo Schiele am 21. Juni einrücken musste. Edith blieb allein im Hotel zurück; die junge Frau verzehrte sich nach ihrem Ehemann und fühlte sich völlig alleingelassen. Während Schieles Grundausbildung in Prag und Neuhaus bilden Ediths Briefe die einzigen Dokumente zum emotionalen und körperlichen Zustand des Künstlers. Sie schrieb an ihre Familie in Wien von der Hoffnung, nicht an die Front zu müssen, von der schlechten Behandlung durch das Militär, von Dreck und Verzweiflung. In dieser Phase lag es an ihr, die Moral ihres Mannes hoch zu halten und ihm Mut zuzusprechen; in anderen Phasen sah sich Egon mit der emotionalen Instabilität, vor allem ausgelöst durch Einsamkeit, seiner Ehefrau konfrontiert.
Schiele wurde nach Wien kommandiert und war für einige Wochen in Baumgarten stationiert, unweit seines Hietzinger Ateliers. Dort malte er im August 1915 während eines Krankenaufenthaltes das erste großformatige Ölgemälde von Edith, „Bildnis der Frau des Künstlers, stehend (Bildnis Edith Schiele in gestreiftem Kleid)“ (Kunstmuseum Den Haag), das in der Leopold-Ausstellung als Reproduktion zu sehen ist. Auffallend ist, dass die Ehefrau wie eine Puppe wirkt, während sie in Fotografien als selbstbewusste Person greifbar wird. Die Schiele-Expertin Jane Kallir beschreibt sie als „elegant, nachdenklich, reserviert, unversöhnlich“.29
Neben offiziellen Porträts findet sich Edith auch in erotischen Zeichnungen, obwohl nicht nachgewiesen werden kann, dass sie ihrem Mann wirklich als Aktmodell zur Verfügung stand: Die „Liegende Entblößte (wahrscheinlich Edith Schiele)“30 (1916) diente ihm als Vorlage für die „Liegende Frau“.
Egon Schieles frühe Darstellungen von Familien enthalten keine männliche Figur: „Mutter und Kind“31 (1912). Dahinter steht zweifellos das zeitgenössische Familienbild, aber auch der Tod von Schieles Vater, als diese 15 Jahre alt war. Schieles Verhältnis zur Mutter dürfte schwierig gewesen sein, vor allem da er sich entschloss, Künstler zu werden, und daher nicht zum Einkommen seiner Familien beitragen konnte. Darüber hinaus lernte Schieles jüngere Schwester, Gerti, den Studienkollegen Anton Peschka kennen und lieben. Auch wenn Schiele nicht glauben konnte, dass die beiden vor ihrer Eheschließung bereits Sex haben könnten, wurde er eines besseren belehrt. Gerti schenkte am 23. November 1913 einer unehelichen Tochter das Leben32; das Paar heiratete erst ein Jahr später, als Gerti mit einem Sohn neuerlich hochschwanger war. Zwischen 1913 und 1915 änderter sich Schieles familiäre Umgebung also dramatisch. Künstlerisch reagierte er darauf mit Gemälden wie „Blinde Mutter“33 (1914) und „Junge Mutter“34 (1915) aber auch Zeichnungen von seinem Neffen Anton Peschka Junior. Während der Maler Schiele noch Mutterschaft mit Blindheit und Tod assoziierte, stellte der Zeichner Schiele bereits naturalistische und natürlichere Bilder von Kindern und Müttern mit Kindern her.
Nach seiner Grundausbildung wurde Schiele nicht an die Front geschickt, sondern durfte seinen Kriegseinsatz in verschiedenen Einrichtungen in Niederösterreich und Wien leisten. Damit war der Künstler geschützt, auch wenn er sich im Jahr 1916 kaum einer künstlerischen Produktion widmen konnte. Edith zog mit ihrem Mann von einem Einsatzort zum nächsten (Neuwaldegg, Gänserndorf, Liesing, Mühling/Purgstall). Im Dezember 1915 wurde er ins niederösterreichische Gänserndorf berufen, von wo aus er russische Gefangene nach Wien eskortierte. Die täglichen Begegnungen mit Soldaten, Offizieren und meist russischen Kriegsgefangenen – insbesondere Gespräche mit Letzteren über deren Erlebnisse, Wünsche und Sehnsüchte – prägten Schieles Einstellung und erregten sein Mitgefühl.35 Dies ist die Grundlage für die sensiblen Porträts, die ab November 1915 – Schiele eskortierte zu dieser Zeit Russen zwischen Gänserndorf und dem Nordbahnhof in Wien36 – entstanden. Es sind Krankheit, Hunger, Nachdenklichkeit und Skepsis in den Gesichtsausdrücken der Brustbilder zu finden. Einige der mit Gouache farbig gefassten Zeichnungen waren 1917 auf der Kriegsausstellung im Prater zu sehen. Die Presse schrieb von „tiefste[m] Leben“ und „Menschengestaltungen höchsten Rangs“.37
Erst im Mai 1916, als Schiele ins Offiziers-Kriegsgefangenenlager Mühling bei Wieselburg (Niederösterreich) versetzt und in der Proviantkanzlei beschäftigt. Dort erledigte er vornehmlich Schreibarbeiten. Seine Vorgesetzter Gustav Herrmann (1863–1935) stellte Schiele einen Lagerraum als Atelier zur Verfügung, dennoch ist das Jahr 1916 das unproduktivste in seiner kurzen Karriere. Erst ab Januar 1917, als Schiele in die „k. u. k. Konsum-Anstalt für die Gagisten der Armee im Felde“ auf der Äußeren Mariahilfer Straße und ein Jahr später ins Kriegs-Pressequartier abkommandiert wurde, war er wieder in der Lage, sich künstlerisch zu betätigen. Für die Konsum-Anstalt zeichnete er wohlgefüllte Lagerräume in verschiedenen Teilen der Monarchie, die allerdings nie veröffentlicht wurden. 1917/18 konnte sich Schiele auch mit organisatorischen Fragen wie der Gründung verschiedener Künstlervereinigungen beschäftigen. In seinem Atelier entstanden 1917 und 1918 neben 34 Gemälden noch etwa 745 Papierarbeiten.38
Schieles Vorgesetzte förderten seine künstlerische Betätigung, was in der Ausstellung vor allem durch zwei großformatige Landschaftsbilder belegt werden kann. So stellte ihm Gustav Herrmann (1863–1935) einen Lagerraum als Atelier zur Verfügung. Wenn auch das Jahr 1916 das unproduktivste in Schieles Werk ist, so entstand dort die „Zerfallende Mühle (Bergmühle)“39 (1916), die Schiele bei einem gemeinsamen Spaziergang mit seiner Ehefrau entdeckt hatte. Im Vergleich zur kristallinen Komposition von „Der Häuserbogen II (Inselstadt)“40 (1915) zeigt sich der naturalistischere Zugang Schieles in der „Mühle“. Vielleicht stand sie für ihn nun für die Zerstörung im Ersten Weltkrieg und den Untergang der monarichistischen Gesellschaft. Wie auch immer. Die Gewalt des Wassers und das Spritzen vs. die schiefen Wände könnten das Menschengemachte vor der Ewigkeit der Natur als unbedeutend erscheinen lassen. Wenn auch der Strich der Landschaftszeichnungen nun strikt und direkt wirkt (wie auch in den Figurenbildern), so experimentiert Schiele in dieser Bildgattung weiterhin mit verschiedenen Perspektiven und Bildausschnitten. Schieles Naturliebe und auch seine Auseinandersetzung mit dem Wasser kulminiert in „Wildbach (Wasserfall)“41 von 1918.
Hatte Schiele während der ersten Kriegsjahre keinen Zugang zu professionellen Modellen, so änderte sich dies in den Jahren 1917/18 deutlich. Einmal mehr wandte sich der Künstler dem weiblichen Akt zu - auch wenn das seine Ehefrau Edith gestört haben dürfte. Bleistiftzeichnungen mit farbig subtil gestalteter Deckfarbe beschreiben die spärlich bekleideten Körper von liegenden, hockenden, sitzenden Frauen. Immer wieder nutzte Schiele die Signatur, um die Kompositionen um 90 Grad zu drehen und so die Perspektive gleichsam auf den Kopf zu stellen. Zu den schönsten Beispielen von Schieles reifem Zeichenstil gehört das schon mehrfach in Wien ausgestellte Blatt „Sitzende Frau mit hochgezogenem Knie“42 von 1917. Sie kontrastiert in der Ausstellung die „Liegende Frau“43 aus dem gleichen Jahr, für die vielleicht Edith das Modell war.
Die Porträtzeichnungen aus dieser Phase zeigen das neue Einfühlungsvermögen des Künstlers. So wirkt seine Mutter Maria genauso nachdenklich wie Edith in ihrem gestreiften Kleid. Das hohe künstlerische Vermögen Schieles zeigt sich aber deutlicher noch in den Auslassungen und Leerstellen. Einige Frauenbildnisse, darunter „Die Schauspielerin Marga Boerner“44 (1917) neben unbekannten Damen von 1918, wirken fast zu modisch, um ein Schiele zu sein. Ähnlich verhält es sich auch mit den Männerbildnissen aus diesen Jahren, auch wenn diese weniger einem allgemeinen Schönheitsideal unterliegen.
Das „Porträt Dr. Hugo Koller“45 (1918) wird von drei Porträtzeichnungen des Industriellen begleitet. Neben dem Ehemann der Malerin Broncia Koller-Pinell sind der Philosoph Heinrich Gomperz, die Schriftsteller Franz Blei und Robert Müller, aber auch der Künstlerkollege Johannes Fischer in der Bildauswahl zu finden.
Neben seiner Wiederaufnahme der künstlerischen Produktion gelang Egon Schiele rasch der Anschluss an die Wiener Avantgarde. So publizierte der Buch und Kunsthändler Richard Lányi im Mai 1917 ein Mappe mit Schiele Reproduktionen, die sich gut verkaufte. Als der Künstler ins k.k. Kriegspressequartier berufen wurde, oblag ihm auch die Gestaltung und Organisation von internationalen Ausstellungen. Damit war Schiele wieder im Zentrum der Wiener Moderne angelangt. Sein wichtigster Beitrag war die Ausrichtung der „49. Ausstellung der Wiener Secession“ im März 1918, für die Schiele auch das Plakat mit dem Titel „Tafelrunde“46 entwarf: Er setzte sich mit seinen Kollegen an eine gemeinsame Tafel. Die Tonsur soll wohl eine mönchische Gemeinschaft andeuten. Die Gleichheit der Dargestellten wird jedoch durch die Position Schieles am Kopfende des Tisches konterkariert; denkbar ist, dass der leere Platz ihm gegenüber vom verstorbenen Gustav Klimt hätte eingenommen werden sollen. Klimt war am 6. Februar 1918 den Folgen eines Schlaganfalls erlegen und von Schiele in der Prosektur gezeichnet worden. Da Oskar Kokoschka in Deutschland lebte und viele Kollegen Schieles im Feld dienten, sah sich der nunmehr 27-jährige Maler in der Position, die Führungsrolle in Wien zu übernehmen. Egon Schiele hatte den zentralen Hauptsaal zu Verfügung und stellte 19 Ölgemälde und rund 30 Zeichnungen aus. Die Ausstellung wurde für den nunmehr 27-jährigen Künstler zum großen künstlerischen und materiellen Erfolg. Bereits am Eröffnungstag wurden zahlreiche Werke verkauft, der Künstler erhielt am Ausstellungsende insgesamt 15.996 Kronen.
Eines der letzten vollendeten Werke Egon Schieles ist das „Bildnis des Malers Albert Paris von Gütersloh“47 (1918). Der Dargestellte war Schriftsteller und Künstler, mit Schiele seit 1908/09 bekannt und Mitglied von Schieles künstlerischem Zirkel in Wien 1917/18. Albert Paris Gütersloh erscheint vor aufgewähltem, orangem Hintergrund. Er sitzt auf einem Sessel und gestikuliert wild mit seinen Händen. In Vorzeichnungen hatte Schiele die Linke Güterslohs noch mit einem Segensgestus ausgestattet gehabt; im Ölgemälde bevorzugte er eine deklamatorische Haltung. Dies dürfte auch der Persönlichkeit des Porträtierten entsprochen haben: A.P. Gütersloh war berühmt-berüchtigt für seine ausschweifenden Reden und seine spitzen Bemerkungen. Mit dem späten Bildnis, das wohl im Sommer 1918 entstanden sein dürfte, setzte Schiele dem Freund ein ausdrucksvolles Denkmal - und sich selbst eine Wegmarke in Richtung eines neuen Zeitalters.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen: Die im sechsten Monat schwangere Edith Schiele starb am 28. Oktober 1918; Egon verschied am 31. Oktober. Angeblich soll er noch gesagt haben, dass seine Bilder in den Museen der Welt gezeigt werden sollen. Mit dieser Ausstellung stellt das Leopold Museum den klassischen Schiele vor, während bisher der expressive im Fokus stand.
Kuratiert von Kerstin Jesse und Jane Kallir; kuratorische Assistenz Simone Hönigl
Quelle: Leopold Museum