Das mumok verschreibt sich im Rahmen zweier Ausstellungen dem Phänomen Andy Warhol (1928–1987) – als Künstler und als sein eigener Ausstellungskurator. Statt der Präsentation altbekannter Klassiker blickt Kuratorin Marianne Dobner mit selten gezeigten Arbeiten hinter die Fassade der weltberühmten Pop Art-Ikone und entdeckt Warhols Fähigkeit als bahnbrechender Kurator und Installationskünstler neu. Dabei konzentriert sie sich auf das zu seinen Lebzeiten nicht ausgestellte Frühwerk der 1950er Jahre, das filmische Werk Warhols und seine kommerziell unerfolgreichste Schau: die Präsentation der Kuh-Tapete und der „Silver Clouds“ 1966 in der Leo Castelli Gallery in New York (→ Andy Warhol: Biografie).
Österreich | Wien: mumok
26.9.2020 – 31.1.2021
verlängert bis 30.5.2021
Mit „Defrosting the Icebox“ nimmt sie – unterstützt durch die Sammlungsleiter von Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums und Weltmuseum – ein Ausstellungskonzept Warhol auf, das dieser im Sommer 1969 für das Kunstmuseum der Rhode Island School of Design entwickelt hatte. Warhol holte nicht nur Artefakte, Exponate und Kunstwerke aus dem Depot, sondern übernahm auch deren dortige Aufstellung, so wie sie war. Da die Wiener Depots wissenschaftlich geordnet sind, ließ sich Dobner von Warhols Vorlieben und Bildmotiven – etwa für Mao, Jünglinge, Füße und Schuhe, Textilien, Alltagsgegenstände (asiatische Reusen) – leiten.
Der Beginn ist dunkel und halbleer. Schon auf Ebene 0 sind Warhols Werke in eine etwas geheimnisvolle Atmosphäre getaucht, eine konservatorische Notwendigkeit zweifellos, aber auch eine schöne Metapher für die noch unentdeckten Facetten im Werk des US-amerikanischen Superstars. Noch erstaunlicher wirkt aber die Entscheidung, etwa die Hälfte der Ausstellungsfläche leer zu lassen. Denn: „ANDY WARHOL EXHIBITS a glittering alternative“ zeigt nicht nur wenig bekannte und häufig übersehene Kunstwerke Warhols, sondern macht auch seinen Umgang mit dem Ausstellungsraum nachvollziehbar – nicht nur exemplarisch, sondern auch noch beeindruckend großzügig und dadurch vermutlich wegweisend.
In der Ankündigung wird Andy Warhol als Ausstellungskünstler, Installationskünstler und Kurator gepriesen. Auf drei Ebenen erzählt Marianne Dobner im mumok nicht nur die Geschichte Warhols als Künstler, sondern lässt auch seine kommerziell unerfolgreichste Schau – Kuhtapete und fliegende „Silver Clouds“ 1966 bei Leo Castelli – neben dem Multimediaspektakel „Exploding Plastic Inevitable“ von 1966/67 wiederauferstehen. Dabei kommen die ikonischen Siebdrucke der 1960er Jahre nur vereinzelt zum Einsatz, wobei mit Arbeiten aus den Serien „Skull Paintings“ (1976), „Ladies and Gentlemen“ (1975) und „Diamond Dust Shadows“ (1979/80) wenig Bekanntes aus den Themenbereichen der Drag-Kultur und Warhols intensive Auseinandersetzung mit dem Tod vorgestellt wird. Anstelle den ikonischen Warhol zu beschwören, steht im mumok Warhols Umgang mit dem Raum und eine Entdeckung von wenig bekannten Seiten seines Werks im Zentrum. Dass die Ausstellungspraxis des Künstlers bislang noch kaum beachtet wurde, erstaunt umso mehr, wenn man hört, dass er in seiner 35-jährigen Karriere über 200 Einzelausstellungen hatte und dort seine Kunst installierte.
Bekannt ist, dass der 1928 geborene Andy Warhol nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker am Carnegie Institute of Technology in seiner Geburtsstadt Pittsburgh (1945–1949) nach New York City umzog und in den frühen 1950er Jahren zu einem der höchstdekorierten und bestverdienenden Werbegrafiker der USA aufstieg. Erst 1960 wandte er sich der bildenden Kunst zu und bereits 1961 schuf er die Serie „Campbell’s Soup Can“, gefolgt von Marilyn Monroe-Porträts und Brillo Boxen (1963), den „Flowers“ (1964), der „Death and Desaster“-Serie (1965) und den Celebrity-Porträts (1966). Ende der 1960er Jahre hatte sich der schüchterne und zielbewusste Künstler als eine zentrale Persönlichkeit in der Kunstwelt New York etabliert, berühmte Sammler wie Jean und Dominique de Menil auf sich aufmerksam gemacht und 1968 mit der Ausstellung „Andy Warhol“ im Moderna Museet, Stockholm, eine erste internationale Einzelausstellung gewidmet bekommen (danach im Stedelijk Museum in Amsterdam, der Kunsthalle Bern und dem Kunstneres Hus in Oslo). Neben Roy Lichtenstein etablierte sich Andy Warhol in der kunsthistorischen Rückschau als bedeutender Protagonist der amerikanischen Pop Art, als gewiefter Promotor seiner eigenen Kunst, als Leiter einer Kunstwerkstatt, genannt „Factory“, und schlussendlich als gefeierter Porträtist der Schönen und Reichen. Dass Andy Warhol nicht aus dem Nichts dieser raketenhafte Aufstieg gelang, sondern diesem ein künstlerisches Werk in den 1950er Jahren vorausging, wusste der Künstler gekonnt zu verstecken. So beginnt der Werkkatalog Warhols erst 1962, und er untersagte während seiner Lebzeiten die Präsentation seines Frühwerks.
Das mumok schließ nun diese Wissenslücke – unterstützt von der Warhol Foundation in Pittsburgh, die etwa 80 % der Leihgaben zur Verfügung stellt. Gleichzeitig, als in New York Clement Greenberg und Alfred H. Barr den Abstrakten Expressionismus zum Telos der Malerei erklärten (→ Abstrakter Expressionismus | Informel), marmorierte Andy Warhol Papiere, die er zu skulpturalen Werken faltete (1952–1954, im Katalog rekonstruiert!), oder zeichnete mit präziser schwarzer Linie Frauen. In hohen Vitrinen liegen die nun aus dem Archiv geholten Originale, die seit 1952 in New Yorker Galerien ausgestellt oder als Vorlagen für Künstlerbücher dienten. In dieser Dekade war Warhol noch hauptberuflich als Werbegrafiker tätig.
Seine eigenständigen Arbeiten sind motivisch aber eng mit seiner Tätigkeit als Illustrator und Werbezeichner verbunden: Modisch gekleidete Damen und Frauenschuhe gemahnen an Warhols Engagements bei führenden Modemagazinen wie der „Vogue“ oder seinen Brotberuf als Werbezeichner einer Schuhmarke. Wodurch unterscheiden sie sich also von zeitgenössischen kommerziellen Darstellungen? Nun, Warhol verarbeitete in ihnen – äußerst versteckt, aber für Eingeweihte entzifferbar – seine Homosexualität. So stellte er auf seiner ersten Einzelausstellung 1952 in der Hugo Gallery Illustrationen zum schriftstellerischen Werk von Truman Capote aus. Im „Ladie’s Alphabet“ von 1953 sammelte er weibliche Posen aus verschiedenen Magazinen. Wie jüngste Recherchen zum Ausstellungsprojekt ergaben, schmuggelte Warhol drei Drag Queens – die Buchstaben E, G und M – unter den Chor von Damen. In diesem Sinne nahm er in „The Golden Slipper Show“ von 1956 Bezug auf Christine Jorgensen, die sich als erste einer Transgender-Operation unterzogen hatte. Andy Warhol frönte seinen persönlichen Fetischen: Schuhen und nackten Füßen, Damen und Drags, junge Männer aber auch Phalloi. Letztere stellte er in der Serie „Cock Drawings“ auf ein Podest, wenn er die erigierten Geschlechtsteile mit Kronjuwelen oder rosa Herzen dekorierte, sie mit einem Fenster von René Magritte in Verbindung brachte oder modisch einkleidete (um 1956). Die frühesten großformatigen Gemälde – „Two Girls seated“ und „Two Heads“ (1958–1961) – verbinden die frühen Zeichnungen mit gesprühten Ornamenten. Die Flächigkeit der Pop Art-Bilder ist schon angelegt, das serielle Wiederholen eines Motivs klingt leicht an, auch wenn die Figuren noch aus dem privaten Umfeld des Künstlers stammen.
Als 1962 Andy Warhol ein kommerziell erfolgreicher Künstler wurde und seine Tätigkeit als Werbegrafiker aufgab, entschied er sich, seinen Werkkatalog mit rezenten, bereits der Pop Art zuzurechnenden Gemälden und Siebdrucken starten zu lassen. Damit definierte er die davor entstandenen Arbeiten auf Papier als „Jugendwerke“ oder Experimente. Vermutlich liegt Marianne Dobner richtig, dass Warhol die mehr oder weniger versteckten homoerotischen Inhalte als problematisch für die Etablierung seiner öffentlichen Persona erkannte, wurden die sogenannten Sodomiegesetze doch erst in den 1970er Jahren aufgehoben.1
Zu den eindrücklichsten Erfahrungen in der Warhol-Ausstellung gehört für mich die Installation der Kuhtapete [Cow Wallpaper] und der „Silver Clouds“ von 1966 in der Leo Castelli Gallery. In zwei relativ kleinen Räumen wird eine unverkaufbare Installation wieder zum Leben erweckt, mit der Warhol Kunstgeschichte geschrieben hat. Die Kuhtapete als pink-gelbes Riesenmuster und schwebende, allerdings vergängliche Silberpolster als Wolkenersatz. Der leere Raum und der gefüllte Raum, Kunst als dekorativer Wandschmuck und Kunst als Spielzeug, Wiederholung und maschinell gefertigte Objekte als Wunschbild einer von Technologie begeisterten Generation – dem aus eigener Beobachtung oder der Medienwelt destillierten Original, das er mithilfe der Abklatsch-Technik in einen ‚blotted line‘ Druck verwandelte, steht nun die technisch gefertigte Reproduktion und Schablonentechnik gegenüber.
Auf die „Silver Clouds“ folgen dunkle Bilder aus der Serie „Diamond Dust Shadows“ (1979/80) und die Doppelprojektion von „The Chelsea Girls“ (1966). Zentrales Element der großen Ausstellungshalle auf Ebene 2 ist aber die Projektionswand, an der fünf Experimentalfilme – darunter „Eat“, „Sleep“, „Kiss“, „Blow Job“ und „Empire“ – gleichzeitig gezeigt werden. Hinter der Wand führen „Sex Parts“ von 1978 Warhols Auseinandersetzung mit Sexualität, die „Screen Tests“ (1964–1966) seine filmischen Kurzporträts vor. Die 1983 in der Galerie Bischofberger installierte Schau „Andy Warhol: Kinderbilder“ steht im starken inhaltlichen und koloristischen Kontrast zu den schwarz-weißen Aufnahmen zuvor oder den anschließenden „Sewn Photographs“ (1982–1987), in denen er seine Umwelt in Schnappschüssen festhielt, und die Bilder dann zusammennähen ließ. Dass mit „Exploding Plastic Inevitable“ (1966/67) das mumok Corona-bedingt die einzige öffentlich betriebene Tanzfläche anbietet, hätte Warhol sicherlich gefallen. Das „totale Environment“ verbindet seine Filme, Auftritte von The Velvet Underground & Nico, eine Lichtshow, Tanzende mit einem Stroboskop. Kunst und Party waren in Warhols „Factory“ bis zum Attentat auf den Künstler 1968 immer eng miteinander verbunden. Danach wandte er sich noch stärker dem Tod zu als zuvor noch mit der bekannten „Death and Desaster“-Serie: Er erklärte den Totenschädel zum Porträt von jedem Menschen, zum universalen Symbol der Existenz.
Raid the Icebox 1, with Andy Warhol (1969/70) war ein Ausstellungsprojekt, mit dem Warhol im Sommer 1968 die konventionelle Vorstellung vom Kuratieren in einem Kunstmuseum auf den Kopf stellte. Er war eingeladen worden, eine Präsentation aus der Sammlung des Museums am der Rhode Island School of Design zusammenzustellen. Als er sich mit den Exponaten beschäftigte, hatte das Museum diese im Kellerdepot wild durcheinander aufgestellt. Warhol begeisterte sich für die „Unordnung“ und die Massen an ähnlichen Objekten. Ohne ein einziges eigenes Werk aufzunehmen, ließ er die Sammlungsbestände – so wie er sie vorfand – in den Galerieraum übertragen. Er präsentierte insgesamt 404 Objekte unhierarchisch und wie Waren aus einem Warenlager (vergleichbar seinen aufgereihten Cola-Flaschen und Brillo-Boxen). Die Objekte und Kunstwerke standen nur für sich selbst, der Kurator verlieh ihnen keinen tieferen Sinn (beispielsweise durch Gegenüberstellungen) – und unterlief damit subversiv die Praktiken der Museumsarbeit.
Um „Raid the Icebox, with Andy Warhol” wiederaufleben zu lassen, konnte das mumok das Kunsthistorische Museum, genauer die Antikensammlung und das Weltmuseum, zu einer Kooperation bewegen. Marianne Dobner schlüpfte dafür in die Ideenwelt von Andy Warhol, besichtigte die wohlgeordneten Depoträume und wählte aus den nicht ausgestellten Artefakten und Kunstwerken jene, die Warhol wohl auch interessiert haben dürften: antike Jünglingsdarstellungen, Fragmente von (beschuhten) Füßen, Säulenstümpfe aus Ephesos, die um 1900 als Podeste verwendet worden sind, die originalen Vitrinen, gefüllt mit Porzellanfiguren von Mao, Textilien an den Wänden und unzählige Fischreusen an der Decke. Letztere sind seriell gefertigt, Alltagsgegenstände, die plötzlich im Museum einen neuen Wert zugeschrieben bekommen und erinnern entfernt an Andy’s „Silver Clouds“ (zumindest dann, wen sie prall gefüllt an der Decke hängen).
FAZIT: Äußerst sehenswerte Warhol-Ausstellung fernab der Klassiker!
Kuratiert von Marianne Dobner.