Miriam Cahn
Wer ist Miriam Cahn?
Miriam Cahn (*21.7.1949, Basel) ist eine Schweizer Künstlerin der Gegenwart (→ Zeitgenössische Kunst).
Seit Beginn ihrer künstlerischen Entwicklung in den 1970er Jahren nimmt Miriam Cahn eine bewusst feministische und selbstbestimmte Haltung ein. Ausgehend von der Zeichnung und frei von akademischen Regeln entwickelte Cahn ein malerisches Werk großer Ausdruckskraft, das andere künstlerische Formen wie das Schreiben, Fotografieren, Filmen oder skulpturales Arbeiten einbezieht. Gewalt und Liebe, Flucht und Geborgenheit, Geschlechterkampf und Einsamkeit, Tier und Mensch sind Cahns wichtigste Themen. Dennoch möchte sich die Malerin nicht als politische Künstlerin verstanden wissen.
Miriam Cahn lebt und arbeitet in Bergell, Schweiz.
„… und die Frage stellen, was ist Kunst anderes als ein überdachter Fluchtweg, was ist ein Museum anderes als ein Schutzraum, manchmal auch eine Isolationszelle, für in Form, in Gestalt gebrachte Träume, Visionen und Gespinste?“1 (Miriam Cahn)
Kindheit und Ausbildung
Miriam Cahn wurde am 21. Juli 1948 als Tochter des Numismatikers und Kunsthändlers Herbert A. Cahn in Basel geboren. Er war 1933 von Frankfurt in die Schweiz emigrierte.
Miriam Cahn studierte von 1968 bis 1973 Grafik an der Kunstgewerbeschule in Basel (heute: Schule für Gestaltung). 1978/1979 wurde ihr von der Stadt Basel ein Atelierstipendium in Paris verliehen.
Werk
Obwohl Miriam Cahn eine Ausbildung im Bereich der Grafik erhalten hat, widmet sich Cahn neben der Zeichenkunst auch anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie der figurativen Malerei, Kohle- und Bleistiftzeichnung, dem Film, der Fotografie, der Rauminstallation und nicht zuletzt auch der Performancekunst. Von 1973 bis 1976 arbeitete Cahn als Zeichenlehrerin und wissenschaftliche Zeichnerin; danach wechselte sie zur freien Kunst.
Zu Beginn ihres Schaffens arbeitete Miriam Cahn im großen Format am Boden, siehe den Zyklus „L.I.S. [Lesen In Staub]“. Mit dem Einsatz ihres ganzen Körpers versuchte sie, den räumlichen Abstand und die damit verbundene mentale Distanz aufzugeben. In dieser Phase schuf die Basler Künstlerin monumentale Kreide- und Kohlezeichnungen mit symbolhaften Darstellungen von Menschen, Tieren und Pflanzen. Danach ging Miriam Cahn dazu über, Serien von Zeichnungen mit geschlossenen Augen auszuführen „M.G.A. [Mit Geschlossenen Augen]“. Der Werkprozess dauert zwischen 30 Minuten bis zu einer Stunde.
Ihre erste Einzelausstellung hatet Miriam Cahn 1977 in der Galerie Stampa in Basel. Noch im gleichen Jahr nahm sie am Warschauer Friedenskongress als Delegierte der Organisation für die Sache der Frau (OFRA) und Engagement in der Anti-Atomkraft- und Frauenbewegung teil. Die Stadt Basel verlieh Miriam Chan 1978/79 ein Stipendium für einen Parisaufenthalt.
Mein Frausein ist mein öffentlicher Teil
1979/1980 wurde Miriam Cahn schlagartig mit einer illegalen, nächtlichen Kunstaktion bekannt, als sie riesige Kohlezeichnungen an den Betonpfeilern der Basler Nordtangente schuf. Cahn brachte Zeichnungen mit Kreide, einem vergänglichen, weichen Material, auf hartem Beton an. Sie suchte dabei bewusst „weibliche“ Orte wie zum Beispiel Tunnel aus, auf die sie „häusliche“ Symbole wie Schaukel, Bett oder Tisch zeichnete, „männliche“ Objekte wie Brückenpfeiler versah sie mit Zeichnungen von Kriegsschiffen, Raketensilos, Panzerwagen, Computerterminals und Ölbohrinseln. Diese Intervention trug den Titel „Mein Frausein ist mein öffentlicher Teil“.
Die illegale Malaktion führte zu einem Gerichtsprozess. Viele Jahre später versuchte die Stadt Miriam Cahn für die Verurteilung zu entschädigen, indem sie ihr anbot, die Wände nach ihrer Vorstellung zu gestalten.
„Die Zeichnungen waren in ungefähr einer Stunde fertig, egal wie groß, schnell, performance-mäßig. Ich kniete in einem sehr staubigen Raum am Boden, und durch den Kreidestaub konnte ich alles Mögliche damit tun.“2 (Miriam Cahn)
Mensch, Frau, Krieg, Gewalt
„Am wichtigsten war und ist für mich die Arbeit. Kunst ist ja eine Form des Denkens. Bereits in der Pubertät entschied ich, niemals eine eigene Familie zu gründen. Diese damalige Familienstruktur, die Mutter nur als Gattin des Herrn Professor, das war und ist eine Falle. Das kam für mich nicht infrage. Ich beschloss stattdessen: Ich werde Picasso! Und nicht Modersohn-Becker, sonst ist da so ein weiblicher Kompromiss drin. Bei Picasso mag ich die Energie sehr, der hat auch ganz schnell gemalt. So wollte ich werden.“3
Geprägt durch die Friedens- und Frauenbewegung der 68er Jahre, an der sie sich auch aktiv beteiligte, setzt sich Cahn in ihrer Arbeit mit der Rolle der Frau und der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers auseinander. In einem Interview jüngst meinte die Malerin, sie wollte lieber Pablo Picasso werden als Paula Modersohn-Becker. Sie untersucht die in Massenmedien oftmals verzerrt dargestellten Auswirkungen des Kriegs und der daraus resultierenden Fluchtbewegungen auf den Menschen und seinen Körper. So beschäftigte sie sich in den 1990er Jahren in zwei Zyklen mit dem Golfkrieg und dem Jugoslawienkrieg.
Die Serie „New World Order“ entstand während des Golfkriegs. Miriam Cahn schuf die etwa 60 Zeichnungen und Malereien auf Papier zwischen dem 15. Januar und dem 28. Februar 1991 nach Fernseh-Bildern in den Nachrichten. 1995 stellte sie im kriegsgebeutelten Sarajevo aus. Cahn setzte mit ihrer Arbeit ein Statement zur aktuellen Situation im ehemaligen Jugoslawien. Unter dem Titel „Unbennenbar (was mich anschaut)“ sammelte sie kleinformatige Bilder, die den vom Krieg zerstörten Alltag zeigen.
„Es gibt keine aggressionslose Gesellschaft. Wenn du eine Stinkwut hast, dann haust du einem eine rein, das habe ich als Jugendliche auch gemacht. Ich habe meine Eltern und meine Schwester geschlagen und umgekehrt auch. Man kommt in diesen Zustand des Sprachlosen und kann sich nur noch physisch wehren. Zorn ist ein aggressiver Motor. Ich finde aggressiv sein gut. Gerade als Frau kann man nicht immer lächeln und alles okay finden.“4 (Miriam Cahn)
Miriam Cahn beschreibt ihre eigene Kunst nicht als politisch:
„Ich bin umgeben von Politik. Wenn ich Alltag aufnehme, Alltag so wie ich es sehe. Wenn ich die Montagsversion, die Dienstagsversion einbeziehe. , […] Und das ist logisch. Dann ist das keine Politkunst, sondern das ist meine Alltagsüberlegung.“5
Ausstellungen und Ehrungen
Bereits 1982 wurde Miriam Cahn zur „documenta 7“ eingeladen. Sie brach ihre Teilnahme jedoch ab, weil der Kurator Rudi Fuchs zu ihren Bildern entgegen der Absprache noch Werke eines anderen Künstlers hängen wollte. 1984 nahm Miriam Cahn an der 41. Biennale von Venedig teil, die den Titel „Arte e Arti. Attualità e Storia“ trug. Der Förderpreis des Landes Baden-Württemberg wurde Chan 1984 zugesprochen. Im Jahr darauf erhielt die Malerin ein DAAD-Stipendium und zog nach Berlin, wo sie bis 1989 blieb. 2017 war Cahn bei der „documenta 14“ in Kassel, kuratiert von Adam Szymczyk, und 2018 auf der „21. Biennale of Sydney“ vertreten.
Cahns Werk wurde in zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt:
- 1983: Kunsthalle Basel,
- 1984: Museum of Modern Art, New York,
- 1985: Kunstmuseum Bonn, DE;
- 1993: Kunsthaus Zürich, CH;
- 1998: Akademie der bildenden Künste Berlin (Käthe Kollwitz Preis), DE
- 1999: Castello di Rivara, Centro d’Arte Contemporanea, Rivara, IT
- 2002: Architekturraum, Centre Pasqu’Art, Biel, CH;
- 2003: Fundación La Caixa, Madrid,
- 2004: Neue Nationalgalerie, Berlin,
- 2006: „Überdachte Fluchtwege“, Kirchner Museum, Davos, STAMPA, Basel, CH
- 2012: Badischer Kunstverein, Karlsruhe
- 2014: „Exposition: Miriam Cahn“, Centre Culturelle Suisse, Paris, FR
- 2015: „Körperlich – corporel“, Aargauer Kunsthaus, Aarau, CH
- 2016: Kunsthalle zu Kiel,
- 2017: „documenta 14“, Kassel,
- 2018: „21. Biennale of Sydney“
- 2019: Kunstmuseum Bern, Kunsthaus Bregenz, Reina Sofía Madrid, Haus der Kunst München und Nationalgalerie für Moderne Kunst Warschau
- 2020: Sifang Art Museum, Nanjing, CN; „ME AS HAPPENING“, Kunsthal Charlottenborg, Kopenhagen, DK; „ZEIGE!“, Meyer Riegger, Berlin, DE
- 2021: The Power Plant, Toronto
- 2022: Museum der Gegenwartskunst, Siegen; Fondazione ICA Milano, Mailand; „59. Venedig Biennale“, Venedig (Hauptausstellung)
- 2023: Palais de Tokyo, Paris
Neben dem Prix de la banque hypothécaire Genève (1988), dem Käthe-Kollwitz-Preis von der Akademie der Künste in Berlin (1998) und dem Meret-Oppenheim-Preis des Schweizer Bundesamtes für Kultur (2005) erhielt Miriam Cahn 2013 auch den zum ersten Mal verliehenen Basler Kunstpreis des Kunstkredits Basel-Stadt und 2014 den Oberrheinisches Kunstpreis. 2022 wurde Miriam Cahn der 14. Rubenspreis der Stadt Siegen verliehen.
Alle Beiträge zu Miriam Cahn
- Roland Scotti, Miriam Cahn – überdachte Kunst, in: (Ausst.-Kat. Kirchner Museum), Davos 2006, S. 60–61.
- Miriam Cahn im Interview mit Herlinde Kölbl.
- Miriam Cahn im Interview mit Herlinde Kölbl, in: Zeitmagazin, aus der Serie: Das war meine Rettung, Nr.6/2018 (31.1.2018).
- Miriam Cahn im Interview mit Herlinde Kölbl.
- Interview mit Miriam Cahn im Kunsthaus Bregenz, 6. April 2019.