Zwei große Namen gelten als Leitsterne der westlichen Abstraktion: Auf der einen Seite Wassily Kandinsky (1866–1944), der russische Maler, Mitbegründer des „Blauen Reiters“ in München und Lehrer am Bauhaus in Weimar und Dessau. Zum anderen Hilma af Klint (1862–1944), die schwedische Künstlerin, deren visionäres Werk erst kürzlich wiederentdeckt wurde und die seitdem ein großes Publikum begeistert. Zum ersten Mal treffen Kandinsky und af Klint in einem konfrontativen Dialog aufeinander: In rund 120 Ölgemälden, Aquarellen, Gouachen und Zeichnungen zeigt das K20 Düsseldorf, wie die beiden Kunstschaffenden die westliche Kunst auf Basis von Spiritismus und Kunsttheorie revolutionierten.
Deutschland | Düsseldorf:
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20
16.3. – 11.8.2024
Mit der umfassenden Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen werden die Werke von af Klint und Kandinksy zum ersten Mal vereint. Geboten wird damit die einzigartige Möglichkeit die Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Notizen vergleichend zu betrachten und nachzuvollziehen. Af Klint und Kandinsky, die fast gleichzeitig lebten, ist dabei gemeinsam, dass sie mit der Abstraktion viel mehr als einen neuen Malstil erfinden wollten (→ Abstrakte Kunst). Beide träumten von einer Zukunft, zu der die Kunst den Weg weisen sollte.
Die Kunstsammlungen besitzen vier Werke von Wassily Kandinsky: „Komposition IV“ (1911), „Durchgehender Strich“ (1923), „Im Blau“ (1925) und „Komposition X“ (1939).1 Damit sind seine wichtigsten Werkphasen vertreten. Die frühe „Komposition IV“ steht am Beginn seiner Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Abstraktion, während die Arbeiten aus den frühen 1920er Jahren bereits das geometrische Formenvokabular der russischen Avantgarde aufgenommen haben und Kandinskys Arbeit als Bauhaus-Lehrer dokumentieren. Mit „Komposition X“ von 1939 besitzt Düsseldorf auch ein spätes Gemälde des Malers, der sich in der Emigration in Paris befand.
Dass Kandinsky als Pionier der Abstraktion nicht allein den Weg in die Abstraktion beschritt und somit diese Revolution in der Moderne nicht anführte, darauf wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder verwiesen. Hilma af Klints Bedeutung wird überhaupt erst seit ca. 20 Jahren gewürdigt. Davor galten ihre Werke als zu dekorativ, bzw. die Künstlerin selbst hatte den Zugang zu ihren Tage- und Notizbüchern gesperrt.2 Die Beziehungen des Russen zur Schwedin Hilma af Klint waren wohl deshalb noch nie Thema einer Ausstellung. Das Kuratoren-Paar Julia Voss und Daniel Birnbaum zeigt in Düsseldorf, dass die beiden mehr als nur ihre Lebenszeit verbindet (beide starben im Jahr 1944). Ihre Offenheit der anderen, inneren oder auch spirituellen Welt gegenüber ermöglichte ihnen, sich vom Gesehenen abzuwenden, um eine Wahrheit höherer Ordnung ins Bild zu setzen.
Diesen Satz schrieb Hilma af Klint, um ihre Position als Künstlerin zu klären.3 Sie bezeichnete sich selbst nicht als die Schöpferin ihrer Werke, sondern empfand sich als Mittlerin, als Medium für Mittlerfiguren einer spirituellen Welt (→ Hilma af Klint: Biografie). Diese stellten sich ihr als Gregor, Georg, Amaliel oder Ananda, außerdem Esther und Gidro vor. Über ihnen wiederum standen „Die Hohen“, auch Meister genannt, oder Mahatmas und Ararats Brüder. Erstmals traten die Künstlerin, begleitet von vier Freundinnen, und diese Geisterwesen im Jahr 1891 in Kontakt miteinander. Die Fünf, wie sie sich nannten, suchten in Séancen die Verbindung zur Geisterwelt. Doch erst im Dezember 1905 erkundigte sich Hilma af Klint, ob sich ihre Arbeit in den „Umkreis der Malerei“ verlagert habe. In Übereinstimmung mit dem Geistwesen Amaliel wandte sich die Malerin fortan abstrakten, symbolisch aufgeladenen Kompositionen in leuchtenden Farben zu. Das erste noch kleinformatige Ölgemälde auf Leinwand, das af Klint im November des Jahres 1906 schuf, nannte sie später „Urchaos“.
Heute ist Hilma af Klint berühmt für „Die Zehn Größten“, jene Serie, die ihr im Sommer 1907 angekündigt wurde. Mehr als drei Meter hoch und fast zweieinhalb Meter breit überwältigen die Bilder durch ihre schiere Größe. Aufgrund der Dimension änderte af Klint, die bis zu 1906 naturalistisch gemalt hatte, ihre künstlerische Praxis gänzlich. Sie zeichnete die Symbole auf „Architekturpapier“ vor (incl. Farbangaben), klebte die Papierbahnen danach auf die Leinwände, legte alles auf den Boden und malte die Kompositionen - mit Hilfe anderer Frauen (u.a. Cornelia Cederberg) - aus. „Die Bilder wurden begangen, überquert, durchschritten. Die Temperafarbe hatte af Klint so flüssig angerührt, dass sie vom Pinsel tropfte und in langen Schnüren auf die Leinwand klatschte“, halten die Kurtor:innen fest.4 Zur Symbolik äußern sie sich nur zurückhaltend, denn sogar die Künstlerin selbst sei es zeitlebens nicht gelungen, die Übersicht über die vielen Bedeutungsebenen zu gewinnen.5 So steht die Lilie auf dem ersten Bild der „Zehn Größten“ etwa für Magdalena Augusta Andersson, eine langjährige Freundin Hilma af Klints.6 Eine weitere Bedeutungsschicht ist dem Geschlecht gewidmet, verdeutlicht durch Rosen, Lilien und Schnecken,7 sogenannte Hermaphroditen mit beiderlei Fortspflanzungsorganen, aber auch Farbtöne. In af Klints Gemälden steht die blaue Farbe häufig für das weibliche Prinzip, die gelbe Farbe für das männliche, die sich zu Grün mischen.8 Darüber hinausgehend verdeutlichen die Bilder den unaufhörlichen Evolutionsprozess, von dem die Malerin glaubte, dass er vom Organischen ins Geistige führen würde.9
Wassily Kandinskys künstlerische Karriere begann erst spät (→ Wassily Kandinsky: Biografie). Im Alter von etwa 30 Jahren entschied sich der ausgebildete Jurist und Nationalökonom, sich der Malerei zu widmen und übersiedelte zum Studium von Moskau nach München. Entscheidenden Anstoß für den Richtungswechsel in seinem Leben hatten Claude Monets „Heuhaufen“ und Richard Wagners „Lohengrin“. Beeindruckt von der Farbgewalt des Impressionisten schuf Kandinsky anfangs kleinformatige Ölskizzen en plein air, vor dem Motiv. Doch ein Aufenthalt in Paris 1906 führte ihm vor Augen, dass in der Zwischenzeit der Impressionismus in die Jahre und der Fauvismus an Fahrt aufgenommen hatte. Als Kandinsky mit seiner Lebens- und Arbeitsgefährtin Gabriele Münter nach Bayern zurückkehrte, änderte er seine Malpraxis grundlegend: An die Stelle von pastos gestrichenen Landschaften treten vereinfachte Kompositionen mit schwarzer Umrisslinie und leichtenden, unvermischten Farben! Das Künstlerpaar entdeckte die Ortschaft Murnau in Oberbayern, wo bäuerliche Strukturen, ein Morre, Wiesen und Wälder aufs Trfflichste vor einer Alpenkulisse aufeinandertreffen. Münter erwarb 1909 ein Haus in dieser reizvollen Umgebung, die nun in immer expressiver werdenden Landschaftsbilder gleichsam verwandelt wurde.
Die „Erfindung“ der Abstraktion sollte sich bei Kandinsky über Jahre hinziehen, genauer zwischen 1910 und 1912. Wichtigste Inspirationsquelle für den Maler war dabei die Musik. Selbst ein begeisterter Violonist, versetzte ihn ein Konzert von Arnold Schönberg in die Lage, seine innere Welt ins Bild zu setzen - und der äußeren zunehmend eine Absage zu erteilen. Und doch bevölkern noch viele Jahre Figuren wie der hl. Georg die Bildwelt des Russen. Halb in Auflösung begriffen, reduzierte Kandinsky die Details, nutzte schwarze Umrisslinien und Farbflecken. Wie ein Bild entwickeln, dass keine Geschichte mehr erzählt, dass auf die sichtbare Welt verzichtet? Vor dieser Frage muss Kandinsky immer wieder in die Knie gegangen sein. Er quälte sich über Monate, um eine perfekt ausbalancierte Komposition zu finden (nicht erfinden) wie etwa „Bild mit weißem Rand“ von 1913. Bei „Kompostion IV“ ist - mit einiger Übung - noch der Umriss eines Pferdes in der linken Bildhälfte zu erkennen. Wächter mit zwei überlangen Spießen teilen den Bildraum in der Mitte. Im Hintergrund bildet eine wellenförmige Linie eine Hügelkette aus. Wenn man in die Motivwelt Kandinskys eingesehen ist, offenbaren auch die abstrahierten Kompositionen in dieser lyrisch-expressiven Phase noch die Reste von Gegenständlichkeit. Erst in Russland wird Kandinsky geometrische Formen in seine Bildsprache aufnehmen und eine ungegenständiche Abstraktion entwickeln.
„Mit ausschließlich rein abstrakten Formen kann der Künstler heute nicht auskommen. Diese Formen sind zu unpräzis. Sich auf ausschließlich Unpräzises beschränken, heißt sich der Möglichkeiten zu berauben, das rein Menschliche ausschließen und dadurch seine Ausdrucksmittel arm machen.“10
Nachdem sich Hilma af Klint von der Gruppe „Die Fünf“ gelöst hatte, gehörte sie noch kurz der „Vereinigung schwedischer Künstlerinnen“ an und begründete gleichzeitig eine Art Künstlerinnenkolonie auf der Insel Munsö. Die Vertrauten Hilma af Klints waren ausschließlich Frauen, dreizehn an der Zahl trafen sich zu gemeinsamen Séancen. Besonders hervorzuheben ist die Liebesbeziehung der Malerin mit Sigrid Lancén, Nummer acht, einer Freundin, Gymnastiklehrerin und langjährigen Mitbewohnerin in der Stockholmer Wohnung, in der auch die Mutter der Künstlerin wohnte.
Auch Kandinsky war ein Vereinsmeier und interssiert an künstlerischer Zusammenarbeit. Zuerst sei erinnert an sein Engagement für die „Neue Künstlervereinigung München“, dann an die Vereinigung „Der Blaue Reiter“; in Russland war er eingebunden in die Etablierung eines neuen Ausbildungs- und Ausstellungssystems bis er im Bauhaus als Lehrer gemeinschaftliches Arbeiten in der Werkstätte für dekorative Malerei unterrichtete. Kandinsky schätzte den intellektuellen Austausch seit seinen Anfängen in München und verdankte etwa seinen Debatten mit Franz Marc die Veröffentlichung seiner ersten berühmten Schrift, „Über das Geistige in der Kunst: insbesondere in der Malerei“ (1912).
Im Mai 1914 eröffnete die „Baltische Ausstellung“ in Malmö, wo sowohl Kandinsky als auch af Klint mit Werken vertreten waren. An den von ihnen eingesandten Bildern lässt sich gut ablesen, wie schwierig es für die beiden Maler gewesen sein musste, ihre abstrakten Kompositionen einem zeitgenössischen Publiktum vorzustellen. Hilma af Klint erfuhr keine Unterstützung durch die schwedischen Künstlerinnen. Kandinsky hatte mit seinen Abstraktionen die „Neue Künstlervereinigung München“ gesprengt und danach mit Gleichgesinnten und Freund:innen den „Blauen Reiter“ gegründet. In Malmö füllte er fast einen ganzen Raum und zeigte auch abstrakte Gemälde, die das Publikum spalteten. Af Klint hingegen war nur mit einem Werk vertreten, vermutlich ein naturalistisches Genrebild mit dem Titel „Fleißige Arbeit“. Kurz nach Ausstellungseröffnung stürzte Europa in den Ersten Weltkrieg. Im Herbst 1914 begann af Klint die düsterste Serie ihres Werks, genannt „Der Schwan“ (1914/15).
„[. . .] nicht die Form (Materie) im allgemeinen ist das wichtigste, sondern der Inhalt (Geist).“11
Kuratiert von Julia Voss, Autorin der Biografie „Hilma af Klint – Die Menschheit in Erstaunen versetzen“, und Daniel Birnbaum, Co-Herausgeber von „Hilma af Klint: Catalogue Raisonné“.