Mark Tobey (11.12.1890–24.4.1976) ist eine zentrale Persönlichkeit der amerikanischen Nachkriegsavantgarde, dessen „white writing [weißes Schreiben]” die formalen Erfindungen der New York School Maler wie Jackson Pollock vorausging. Während der 1940er Jahre wandelte sich Tobeys Ausdrucksweise von einer figurativen Auffassung zur Abstraktion. Als er 1944 erstmals kleinformatige Gemälde von blassen Netzen vorstellte, löste er großes Interesse der New Yorker Kollegen für die All-over-Komposition aus, mit denen er alle Bereiche der Bildfläche gleichwertig miteinander verband. Tobeys einzigartigen kalligrafischen Kompositionen basieren auf Darstellungen der Stadt – des big apple mit seinen engen und atemberaubenden Straßenschluchten, riesenhaften Wolkenkratzern und die Nacht erhellenden Lichtern. Doch nicht nur die moderne Metropole, auch japanische Kalligraphie und chinesische Rollbilder inspirierten den Künstler und ermutigten ihn, den Schritt in Richtung der Ungegenständlichkeit zu machen. Dennoch ist Tobey mit dem Amerikanischen Abstrakten Expressionismus oder gar dem Action Painting zuzurechnen. Seine Überzeugung, dass, „Malerei eher durch den Zugang der Meditation als durch die Kanäle der Aktion“1 kommen sollte, nähert Tobeys skripturale Abstraktion dem europäischen Informel an.
Italien | Venedig: Peggy Guggenheim Collection
6.5. – 10.9.2017
USA: Massachusetts | Andover: Phillips Academy, Addison Gallery of American Art
4.11.2017 – 11.3.2018
#MarkTobey
Der 1890 geborene Mark Tobey wuchs im Mittleren Westen der USA und an den Ufern des Mississippi in Wisconsin auf. Wenn er sich auch später gerne an die üppige Vegetation und die Glühwürmchen erinnerte, so kehrte er dennoch nie wieder zurück. Tobey entschied sich erst gegen Ende der 1920er Jahre als freischaffender Künstler zu arbeiten, davor arbeitete er in Chicago und New York als Modeillustrator, Porträtist und Karikaturist. Erst der Umzug nach Seattle im Jahr 1922 förderte seine Hinwendung zur Avantgardekunst, die er 1913 auf der New Yorker Armory Show und während seiner folgenden Europareisen studieren konnte. Da nur wenige Werke der 1920er Jahre erhalten sind, werden die Anfangsjahre des Malers als die „dunkle Periode“ bezeichnet. Gemälde wie „Near Eastern Landscape“ (1927) und „Algerian Landscape“ (1931) zeigen Tobeys Auseinandersetzung mit dem zersplitterten Raum des Kubismus. Gleichzeitig begann er sich in Seattle, das eine starke Verbindung zur asiatischen Kunst hat, für fernöstliche Kalligraphie zu interessieren.
Während der 1930er Jahre unterrichtete Mark Tobey in Dartington Hall, einer experimentellen Kommune von Architekten, Künstlern, Musikern und Philosophen im englischen Totnes. In diesen Reifejahren prägte er seine Arbeitsweise aus und reagierte auf die Moderne. Eine Reise nach Jong Kong, Schanghai und Japan im Jahr 1934 öffnete Mark Tobey die Augen für die Möglichkeiten, die sich boten, wenn er aus mehr als nur einer Kultur schöpfte.
Bereits während der Mitte der 1920er Jahre in Seattle hatte sich Mark Tobey von Teng Gui (1900–1980), einem Künstler und Studenten an der University of Washington in die chinesische Kalligrafie einführen lassen. Tobey erneuerte sein Interesse in diese Kunstform während seiner Reisen durch China und Japan. Nach seiner Rückkehr nach Dartington baute der Maler abstrakte, kalligraphische Linien in seine Kompositionen ein. Dennoch versuchte er in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre – und das zeigen die Werke deutlich – die fernöstlich inspirierten Linienflüsse mit der europäischen Vorstellung von Masse und Volumen zu verbinden. Schlussendlich löste sich Mark Tobey von der erlernten Tradition und zog für sich den Schluss, dass „der Kult um den Raum [im Westen] genauso langweilig und uninteressant werden konnte wie der um das Objekt“. Dennoch suchte er zeitlebens eine „Balance“ zwischen der westlichen und der fernöstlichen Auffassung herzustellen. Diese Überlegungen führten in den frühen 1940er Jahren zur langsamen Eliminierung des dreidimensionalen Raums in seinen Gemälden. Stattdessen zielte Tobey auf die metaphysische Ebene des „inneren Raums“ ab.
Obowohl Mark Tobey von New York City, und hier vor allem Manhattan, als einem „Mekka“ sprach, scheinen ihn die Intensität und Energie der Stadt gleichsam überwältigt zu haben. Daher entschied er sich nie permanent im Big Apple zu wohnen, sondern Seattle als seine Heimatstadt zu erwählen. Dennoch spielt New York in der Entwicklung von Mark Tobeys persönlichem Zugang zur Abstraktion eine eminent wichtige Rolle. Über die Architektur von Manhattan nachdenkend, formte er seinen persönlichen Stil, das „white writing [Weißes Schreiben]“.
„Seit Langem versuchte ich Städte und Stadtleben in meinem Werk miteinander zu verbinden. Schlussendlich fühlte ich, dass ich einen technischen Zugang dazu gefunden habe, der mir erlaubt, das wofür ich mich interessiere, einzufangen. Lichter, aufgefädelter Verkehr [threading], der Fluss der Menschheit, errichtet und fließend durch und rund um sich selbst auferlegte Grenzen, nicht unähnlich dem Chlorophyll, wie es durch die Kanäle eines Blattes fließt.“2 (Mark Tobey)
Auffallend an den Werken Tobeys ist zuallererst ihr kleines, ja intimes Format. Der Maler widmete sich mit Akribie und Ausdauer dem Füllen „mikroskopischer“ Welten, die er aus der Beobachtung der Natur, der Stadt und dem Fluss des Lichtes gewann. Zunehmend überwuchern Zeichen, miteinander verbunden, einander überlagernd, Labyrinthe ausbildend, die Darstellungen von Straßenschluchten und Häuserzeilen. Tobey begeisterte sich für die städtische Umgebung und ihre Energie, Wände und Gehsteige, Pilze (das unterirdisch wachsende Myzel!) – zusammenfassend, das Leben und seine Netzwerke. Lange bevor soziale Medien und Netzwerkanalysen die Verbindungen zwischen Individuen analysieren und bestärken, fand Mark Tobey einen visuellen Ausdruck für die Verbindung und Abhängigkeit von allem mit allem.
Wer den Begriff „white writing“ erfand, ist bis heute nicht geklärt. Vielleicht hat ihn ein Mitarbeiter der Willard Gallery in New York geprägt, als Mark Tobey 1944 seine erste Einzelausstellung mit frühen Werken vorbereitete. Die Verbindung seiner Malerei mit Schreiben gefiel Tobey jedenfalls so gut, dass er ihn in seiner Korrespondenz mit Künstlern, Autoren und Kunsthändlern wie auch Interviews verwendete. „White writing“ wurde zur künstlerischen Identifikation und schlussendlich zur Marke des nonkonformistischen Malers.
Dennoch war sich Mark Tobey schon früh über die engen Grenzen seines Zugangs bewusst, fragte er sich doch schon um 1945, ob das „white writing“ viel Zukunft hätte. Interessanterweise vermisste er das Malen des Körpers, wie er seinem Freund Lyonel Feininger anvertraute. Die beiden verband ihre Hingabe zur Großstadt und den Hochhäusern, die Feininger nach seiner Flucht aus Deutschland (→ Lyonel Feininger / Alfred Kubin) in New York entdeckte. Darüber hinaus war auch Feiniger vom „Spirituellen“ in seiner Malerei beseelt und bestärkte Tobey daher in dessen Hinwendung zur Abstraktion, die bis etwa 1950 alle figurativen Anklänge überdeckt hatte. Wenn auch wenig Einigkeit darüber herrschte (und noch immer herrscht), was unter dem Begriff des „Spirituellen“ zu verstehen sei, so bedeutete er ganz allgemein, eine Abkehr vom Materialismus und Objektfixiertheit der Moderne.
„Deine Arbeit repräsentiert die Handschrift des Malers [..], der […] eine neue, eigenständige Konvention geschaffen hat, eine, die noch nicht in die Geschichte der Malerei eingegangen ist.“ (Lyonel Feininger zu Mark Tobey)
In den frühen 1950er Jahren war Mark Tobey bereits ein bekannter und häufig ausgestellter Künstler, so hielt er sich auf Einladung von Josef Albers drei Monate als Gastkritiker der graduate art-students’ work in der Yale University auf. Zu seinen wichtigen Ausstellungen zählen die Teilnahme an Dorothy Miller’s „Fourteen Americans“ Schau im Museum of Modern Art, New York (1946), wo er neben Arshile Gorky, Robert Motherwell und Isamu Noguchi präsentiert wurde. Tobeys Werk wurde regelmäßig in internationalen Themenausstellungen gezeigt, die das Bild der zeitgenössischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg mitformten. Dennoch schienen und scheinen Tobeys „white writing“ Gemälde schwierig einer Schule zuzuordnen zu sein, denn die Frage, ob er u. a. zum Abstrakten Expressionismus gehören würde, beschäftigte sowohl den Maler selbst wie auch die Kritiker für Jahrzehnte (→ Abstrakter Expressionismus | Informel).
Obwohl Mark Tobeys Hinwendung zur Abstraktion den Malern des Abstrakten Expressionismus und Action Painting vorausging und sein „white writing“ als radikale Erfindung während des Zweiten Weltkriegs rasch das Interesse von prominenten New Yorker Kritikern wie Clement Greenberg auf sich zog, wurde und wird der Maler aus Seattle nicht zu dieser Gruppe gezählt. Greenberg lokalisierte die Charakteristika des „American-Type Painting“ bei Malern wie Jackson Pollock, Willem de Kooning, Barnett Newman, Mark Rothko und anderen. Tobey zeigte selbst auch wenig Interesse daran, in diese Gruppe „aufgenommen“ zu werden. Seine Wanderlust betonte schon früh einen starken Drang zur Unabhängigkeit. Sein globaler Blick auf die Welt ließ sich genauso wenig mit dem Schwarz-Weiß-Denken im Nachkriegsamerika oder Kalten Krieg in Einklang bringen. Als in der Nachkriegszeit die New Yorker Schule aus der Taufe gehoben wurde, war Mark Tobey nur peripher mit ihr verbunden. Seine Abneigung vor dem kulturellen Nationalismus und dem betonten „Amerikanertum“ in der lauten Rhetorik der Kritik aber auch der Gemälde lassen Tobeys Werke wie meditative, nach innen gewandte Fragestellungen erscheinen. Tobey lehnte auch die riesigen Formate der aufstrebenden Malergeneration ab und arbeitete unermüdlich an „mikroskopischen“ Welten und intimen Kompositionen. Dafür beobachtete er die Natur, die Stadt und den Fluss des Lichts.
Mark Tobey hielt zu allen Gruppen und „Labels“ der amerikanischen Nachkriegszeit Abstand – ob es sich um den Abstrakten Expressionismus, Action Painting und die New York School. Dennoch dachte er über seine Stellung innerhalb der zeitgenössischen Stile und Zugänge nach und entwickelte aus einer Verbindung von asiatischen Philosophien, Ästhetiken und Texten der Bahá’i Religion mit westlichen Modellen seine Kunsttheorie:
„Wir hören, dass einige Künstler heute vom Akt des Malens sprechen, aber ein Geisteszustand ist die erste Vorbereitung und von dieser Aktion führt es fort. Ruhe im Kopf ist ein anderes Ideal, vielleicht der ideale Zustand, dem man während des Malens erreichen kann und sicherlich vorbereitend für den Akt selbst.“3 (Mark Tobey 1958)
In den 1950er Jahren und im Jahr 1960 verbrachte Mark Tobey viel Zeit in Paris, auch wenn er immer mobil blieb. Schnell wurde der amerikanische Maler als „maître [Meister]“ und Vorläufer des Tachismus (auch: Informel) erkannt. Die Tachisten waren eine Gruppe von abstrakten Malerinnen und Malern, zu der u. a. Jean Dubuffet, Hans Hartung, Georges Mathieu, Henri Michaux, Pierre Soulages und Wols gezählt wurden. Wenn sich auch Tobey keiner Gruppe zugehörig fühlte und seine Kunst als Mischung von asiatischen und westlichen Elementen begriff, so interpretierten seine Künstlerkollegen das Verhältnis doch anders:
„Tobey kann als [Amerikas] größter Erfinder bezeichnet werden. Die Abgeschlossenheit von Seattler […] hat begonnen, Paris zu erwecken […] in der originellsten Ausdrucksweise, die die USA uns gegeben hat“4 (Georges Mathieu, in: Art Digest)
Auf der Reise von Europa nach Seattle las Tobey im Jahr 1955 Eugen Herrigels Buch „Zen in the Art of Archery“, dem ein Vorwort des bedeutenden japanischen Autors D. T. Suzuki („Zen Buddhism and Its Infuence on Japanese Culture“, 1938) vorausgeht. Die Lektüre vertiefte Tobeys anhaltendes Interesse an der japanischen Philosophie und inspirierte ihn zu einer Serie: den sogenannten Sumi Gemälden, die im Frühjahr 1957 entstanden. In dieser Periode schuf Tobey „City Refections“ (1957) und „Lumber Barons“ (1957), die zu den schönsten Werken der Ausstellung zählen. Gleichzeitig spielte er Klavier, studierte mit dem Zen-Meister Takizaki und lernte den Tuschemalerei (Sumi-e) von den Künstlerkollegen Paul Horiuchi und George Tsutakawa.
Auf Einladung des Galerien Beyeler übersiedelte Mark Tobey 1960 nach Basel (Schweiz), wo er sich ein Atelier einrichtete und neues Publikum für seine Malerei gewinnen konnte. Zwei Jahre zuvor (1958) hatte er auf der Biennale von Venedig den Preis der Stadt Venedig gewonnen. In der letzten Schaffensphase vergrößerte Tobey die Formate seiner Werke, in denen er auch sein Konzept des „white writing“ einer Revision unterzog. Ziel seiner Malerei blieb aber immer ein „höherer Zustand des Bewusstseins“. Wenn es auch schon in den Jahren zuvor – vonseiten der Kunsthändler wie Marian Willard – Versuche gegeben hat, den Maler zu größeren Formaten zu bewegen, so hatte Mark Tobey diesen Wünschen immer widersagt. Warum er in seiner Spätphase größere Bilder malte, ist bislang nicht restlos erklärbar. Vielleicht waren es Mark Rothkos monumentale Gemälde auf der Biennale von Venedig (sie stellten gemeinsam im US-Pavillon aus!) oder auch der Preis der Stadt Venedig, die ihn dazu anregten. Wenn er auch weiterhin mit Tempera arbeitete, so führte er die größeren Gemälde mit der flüssigeren Ölfarbe aus.
Ob man in den „white writing“ Gemälden, die in der späten Phase mit wenigen Farben ergänzt wurden, Mikro- oder Makrokosmos entdecken möchte, bleibt offen. Die wie Spitze, Spinnweben oder Myzel erscheinenden Liniengeflechte überlagern sich in unzählbaren Schichten, immer gleichartig, immer miteinander vernetzt.
Man darf sich durchaus fragen, warum die erste Überblicksausstellung zum Werk des amerikanischen Abstrakten Expressionisten Mark Tobey in Italien erst im Jahr 2017 stattfindet. Mit 66 Gemälden von den 1920ern bis in die 1970er Jahre zeigt die Schau die gesamte Entwicklung des Künstlers, wobei seine Suche nach Harmonie in den Kompositionen, farbiger Ausgewogenheit, Schönheit. Der Ausstellungsrundgang führt chronologisch in das Werk des Amerikaners ein: von frühen figurativen Landschaften zur Erfindung des „white writing“ und der über dreißig Jahre andauernden Arbeit in diesen engen, wenn auch selbst gesteckten Grenzen. Dass dieser Künstler während der 1920er Jahre persische und arabische Schrift, ja Kalligrafie als Ausdrucksträger entdeckte und sich während der 1930er Jahre von chinesischen und japanischen Traditionen prägen ließ, zeigt seine künstlerische und geistige Unabhängigkeit. Während die Welt im Zweiten Weltkrieg unterging, entwickelte Mark Tobey einen Personalstil, der weit über die Grenzen seiner Heimat hinausging. Dass er sich in der Folge weder der New Yorker Schule noch der Schule von Paris, weder dem Abstrakten Expressionismus noch dem Tachismus, zugehörig fühlte, sondern mit großer Konsequenz seinen eigenen Weg ging, mag die Rolle des ewig wandernden Tobeys noch zusätzlich unterstreichen. Tolle Ausstellung, die einen Vorläufer von Jackson Pollock vorstellt, der trotz jahrelanger Präsenz in Europa heute viel zu wenig ausgestellt wird!
Kuratiert von Debra Bricker Balken für die Addison Gallery of American Art in der Phillips Academy in Andover, Massachusetts.
150 Seiten
Skira Rizzoli New York
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