Die Kunsthalle München zeigt die bisher größte Retrospektive des französischen Künstlers JR (*1983) in Deutschland. Seine Ausstellungsorte sind eigentlich die Straßen dieser Welt. Dort erregt er auch Aufmerksamkeit bei jenen, die sonst keine Museen besuchen.
„Ich besitze die größte Galerie der Welt – die Mauern der Stadt!“ (JR)
Deutschland | München: Kunsthalle München
26.8.2022 – 15.1.2023
Im Alter von 16 Jahren fand JR eine herrenlose Kamera in der Pariser U-Bahn. Dies wie auch der Umstand, dass andere bessere Tagger waren als er, ließ ihn das Medium wechseln. Hatte JR anfangs nur seine Freunde beim Taggen fotografiert, so nutzte er die Technik bald, um Menschen aus seinem prekären Umfeld zu porträtieren. Er klebte seine Fotografien mit Tapetenkleister illegal an die Wände, so wie er es zuvor unter dem Pseudonym Face 3 auf Dächern und in Tunneln gemacht hatte. Seine „Expo 2 Rue“, seine „Straßen-Ausstellung“ (2001–2004).
Die sozialen Unruhen in den Vororten von Paris gaben ihm ein Thema: die Menschen, wie sie von anderen gesehen werden („Portrait of a Generation“, 2004–2006). Dokumentationsaufnahmen zeigen, wie JR – Abkürzung für „Juste Ridicule“ – mit der vorgefundenen Architektur spielt und die Gesichter dazu kontrastvoll in Szene setzte. JR will den Namenlosen ein Gesicht und eine Geschichte geben – bis heute. Die Menschen aus den berüchtigten Banlieues wählten dafür ihre eigene Körpersprache, zogen Grimassen und präsentierten sich, wie es Außenstehende von ihnen erwarten würden. Die Übertreibung macht deutlich, wie Lächerlich diese Klischees sind. Überlebensgroß pastete JR diese Aufnahmen an Hauswände in den besseren Stadtteilen von Paris. Namen und Wohnort inklusive.
Mit diesem visuellen Talent ausgestattet, begann der Graffiti-Künstler in die Krisengebiete der Welt zu reisen, um Kunst als Game Changer einzusetzen. Egal ob es die älteste und berüchtigtste Favela Brasiliens ist oder ein Armenviertel in Südamerika oder Afrika („Women Are Heroes“, 2008–2014), ob er sich mit dem Nahostkonflikt auseinandersetzt („Face 2 Face“, 2005) oder mit der jüngeren Geschichte Amerikas. Immer sind es die Menschen selbst, welche die Posen wählen, in denen sie repräsentiert sein wollen, mit denen sie eine Geschichte erzählen wollen. Persönliche Geschichten verbindet JR in seinen Werken zur überregionalen Geschichte. Und immer wieder erzählt der Künstler, wie es ihn begeistert, dass nach seiner Arbeit die Dargestellten bzw. die Bewohner:innen der Häuser die Bilder erklären (müssen). Kunst tritt im Werk von JR als Dialogstarter auf. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Dargestellten, während ihr Schöpfer in den Hintergrund tritt.
Der zur Ausstellung veröffentlichte Katalog stellt daher die immer größer werdenden Projekte JRs chronologisch und aus seiner Perspektive vor. Der Künstler schildert ihre Entstehung, erzählt von den Schwierigkeiten und zeigt einen Künstler, dem Frauen besonders am Herzen liegen. In der Arbeit „Women Are Heroes“ holte er die Frauen vor die Kamera, weil sie seiner Ansicht nach die Gesellschaft zusammenhalten, während er aber immer Männer fragen musste, ob er deren Bilder an die Wände pasten durfte.
Seit etwa 10 Jahren arbeitet JR höchst erfolgreich auch an monumentalen Historienbildern, wenn man diese kunsthistorische Kategorie hier anwenden darf. Er setzt unzählige Menschen aus einer Stadt in ein bühnenbildartiges Setting zusammen. Jede:r erzählt seine oder ihre Geschichte. Jüngst positionierte er die Streitparteien rund um das amerikanische Waffenrecht gegeneinander, aktuell arbeitet er zum Ukraine-Krieg. Immer sind es kollaborative Projekte, die auf eine Sensibilisierung der Gesellschaft, den Beginn einer Debatte hinzielen.
Anhand ausgewählter Fotografien, Videos, Modelle und wandfüllender Pastings lässt die multimediale Ausstellung JRs nur auf begrenzte Dauer angelegte Projekte wiederaufleben. Für die Kunsthalle München entwirft JR zudem ein Trompe-l’Œil, das die Museumsmauern zu durchbrechen scheint und den Blick auf sein eigentliches Tätigkeitsfeld, den urbanen Raum, öffnet. Zentrale Werke der Münchner Ausstellung sind raumgreifende, aus hunderten Porträts zusammengesetzte Fotocollagen „JRs Chronicles“. In ihnen zeigt der aus einem Pariser Vorort stammende Künstler jene Menschen, die in all ihrer Unterschiedlichkeit die komplexe Gemeinschaft einer Community oder einer Stadt ausmachen.
Im letzten Raum der Ausstellung wird mit „Inside Out“ eines der größten partizipativen Kunstprojekte der Welt präsentiert. Seit seinem Start 2011 nahmen mehr als 400.000 Menschen in knapp 140 Ländern daran teil. Das Projekt unterstützt Initiativen von Privatpersonen und Institutionen dabei, ihren Anliegen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Im September 2022 macht im Rahmen der Ausstellung einer von JRs zum mobilen Fotostudio umgebauten Trucks an verschiedenen Orten in München Halt. Alle Münchner:innen sind dazu eingeladen, für das Projekt Kunst & Kultur für alle Gesicht zu bekennen. Ihre Porträts werden im Truck aufgenommen, gedruckt und vor Ort direkt plakatiert. Weitere Informationen zum Projekt sind demnächst unter www.kunsthalle-muc.de verfügbar.
Die Ausstellung wurde organisiert vom Brooklyn Museum, New York. Kuratiert von Sharon Matt Atkins, Deputy Director for Art, und Drew Sawyer, Philip Leonian und Edith Rosenbaum Leonian Curator, Photography, Brooklyn Museum.
Quelle: Kunsthalle München
JR, The Chronicles of Clichy-Montfermeil, 2017, Detail, Duratrans-Druck, Lichtbox © JR-ART.NET
JR, Casa Amarela, in Morro da Providencia, Brazil, Tintenstrahldruck auf Vinyl © JR-ART.NET
JR, Déplacé.e.es, Valeriia, Lwiw, Ukraine, 2022, © JR