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München | Kunsthalle München: JR Chronicles | 2022/23

JR, Migrants, Mayra, Picnic across the Border, Tecate, Mexico–U.S.A., 2017, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Tisch © JR-ART.NET

JR, Migrants, Mayra, Picnic across the Border, Tecate, Mexico–U.S.A., 2017, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Tisch © JR-ART.NET

Die Kunsthalle München zeigt die bisher größte Retrospektive des französischen Künstlers JR (*1983) in Deutschland. Seine Ausstellungsorte sind eigentlich die Straßen dieser Welt. Dort erregt er auch Aufmerksamkeit bei jenen, die sonst keine Museen besuchen.

„Ich besitze die größte Galerie der Welt – die Mauern der Stadt!“ (JR)

Im Alter von 16 Jahren fand JR eine herrenlose Kamera in der Pariser U-Bahn. Dies wie auch der Umstand, dass andere bessere Tagger waren als er, ließ ihn das Medium wechseln. Hatte JR anfangs nur seine Freunde beim Taggen fotografiert, so nutzte er die Technik bald, um Menschen aus seinem prekären Umfeld zu porträtieren. Er klebte seine Fotografien mit Tapetenkleister illegal an die Wände, so wie er es zuvor unter dem Pseudonym Face 3 auf Dächern und in Tunneln gemacht hatte. Seine „Expo 2 Rue“, seine „Straßen-Ausstellung“ (2001–2004).

 

 

Die sozialen Unruhen in den Vororten von Paris gaben ihm ein Thema: die Menschen, wie sie von anderen gesehen werden („Portrait of a Generation“, 2004–2006). Dokumentationsaufnahmen zeigen, wie JR – Abkürzung für „Juste Ridicule“ – mit der vorgefundenen Architektur spielt und die Gesichter dazu kontrastvoll in Szene setzte. JR will den Namenlosen ein Gesicht und eine Geschichte geben – bis heute. Die Menschen aus den berüchtigten Banlieues wählten dafür ihre eigene Körpersprache, zogen Grimassen und präsentierten sich, wie es Außenstehende von ihnen erwarten würden. Die Übertreibung macht deutlich, wie Lächerlich diese Klischees sind. Überlebensgroß pastete JR diese Aufnahmen an Hauswände in den besseren Stadtteilen von Paris. Namen und Wohnort inklusive.

 

 

Mit diesem visuellen Talent ausgestattet, begann der Graffiti-Künstler in die Krisengebiete der Welt zu reisen, um Kunst als Game Changer einzusetzen. Egal ob es die älteste und berüchtigtste Favela Brasiliens ist oder ein Armenviertel in Südamerika oder Afrika („Women Are Heroes“, 2008–2014), ob er sich mit dem Nahostkonflikt auseinandersetzt („Face 2 Face“, 2005) oder mit der jüngeren Geschichte Amerikas. Immer sind es die Menschen selbst, welche die Posen wählen, in denen sie repräsentiert sein wollen, mit denen sie eine Geschichte erzählen wollen. Persönliche Geschichten verbindet JR in seinen Werken zur überregionalen Geschichte. Und immer wieder erzählt der Künstler, wie es ihn begeistert, dass nach seiner Arbeit die Dargestellten bzw. die Bewohner:innen der Häuser die Bilder erklären (müssen). Kunst tritt im Werk von JR als Dialogstarter auf. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Dargestellten, während ihr Schöpfer in den Hintergrund tritt.

Der zur Ausstellung veröffentlichte Katalog stellt daher die immer größer werdenden Projekte JRs chronologisch und aus seiner Perspektive vor. Der Künstler schildert ihre Entstehung, erzählt von den Schwierigkeiten und zeigt einen Künstler, dem Frauen besonders am Herzen liegen. In der Arbeit „Women Are Heroes“ holte er die Frauen vor die Kamera, weil sie seiner Ansicht nach die Gesellschaft zusammenhalten, während er aber immer Männer fragen musste, ob er deren Bilder an die Wände pasten durfte.

Seit etwa 10 Jahren arbeitet JR höchst erfolgreich auch an monumentalen Historienbildern, wenn man diese kunsthistorische Kategorie hier anwenden darf. Er setzt unzählige Menschen aus einer Stadt in ein bühnenbildartiges Setting zusammen. Jede:r erzählt seine oder ihre Geschichte. Jüngst positionierte er die Streitparteien rund um das amerikanische Waffenrecht gegeneinander, aktuell arbeitet er zum Ukraine-Krieg. Immer sind es kollaborative Projekte, die auf eine Sensibilisierung der Gesellschaft, den Beginn einer Debatte hinzielen.

 

 

JR in München

Anhand ausgewählter Fotografien, Videos, Modelle und wandfüllender Pastings lässt die multimediale Ausstellung JRs nur auf begrenzte Dauer angelegte Projekte wiederaufleben. Für die Kunsthalle München entwirft JR zudem ein Trompe-l’Œil, das die Museumsmauern zu durchbrechen scheint und den Blick auf sein eigentliches Tätigkeitsfeld, den urbanen Raum, öffnet. Zentrale Werke der Münchner Ausstellung sind raumgreifende, aus hunderten Porträts zusammengesetzte Fotocollagen „JRs Chronicles“. In ihnen zeigt der aus einem Pariser Vorort stammende Künstler jene Menschen, die in all ihrer Unterschiedlichkeit die komplexe Gemeinschaft einer Community oder einer Stadt ausmachen.

 

Inside Out

Im letzten Raum der Ausstellung wird mit „Inside Out“ eines der größten partizipativen Kunstprojekte der Welt präsentiert. Seit seinem Start 2011 nahmen mehr als 400.000 Menschen in knapp 140 Ländern daran teil. Das Projekt unterstützt Initiativen von Privatpersonen und Institutionen dabei, ihren Anliegen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Im September 2022 macht im Rahmen der Ausstellung einer von JRs zum mobilen Fotostudio umgebauten Trucks an verschiedenen Orten in München Halt. Alle Münchner:innen sind dazu eingeladen, für das Projekt Kunst & Kultur für alle Gesicht zu bekennen. Ihre Porträts werden im Truck aufgenommen, gedruckt und vor Ort direkt plakatiert. Weitere Informationen zum Projekt sind demnächst unter www.kunsthalle-muc.de verfügbar.

Die Ausstellung wurde organisiert vom Brooklyn Museum, New York. Kuratiert von Sharon Matt Atkins, Deputy Director for Art, und Drew Sawyer, Philip Leonian und Edith Rosenbaum Leonian Curator, Photography, Brooklyn Museum.
Quelle: Kunsthalle München

 

JR: Bilder

  • JR, Giants, Kikito and the Border Patrol, Tecate, Mexico–U.S.A., 2017, Installationsansicht. Wheat-paste Poster. © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Portrait of a Generation, Hold-up, Ladj Ly by JR, Les Bosquets, Montfermeil, 2004, Schwarz-Weiß-Fotografie © JR-ART.NET
  • JR, The Chronicles of New York City, 2018–19, Tintenstrahldruck auf Vinyl © JR-ART.NET
  • JR, The Chronicles of New York City, 2018–19, Detail © JR-ART.NET
  • JR, The Chronicles of New York City, 2018–19, Detail 2 © JR-ART.NET
  • JR, Migrants, Mayra, Picnic across the Border, Tecate, Mexico–U.S.A., 2017, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Tisch © JR-ART.NET
  • JR, Giants, Brandenburg Gate, September 27th 2018, 01:14 p.m. © JR / Iris Hesse / Ullstein Bild / Roger-Viollet, Berlin, Germany, 2018
  • JR, Inside Out, Times Square, New York City, 2013, Installationsansicht. Wheat-paste Poster © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Women Are Heroes, Action in Favela Morro da Providencia, Favela by day, Rio de Janeiro, 2008, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Hauswänden © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Portrait of a Generation, B11, Destruction #2, Montfermeil, France, 2013, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Hauswand © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Women Are Heroes, Exhibition in Paris, Pont Louis-Philippe–Pont Marie Side by Night, with Barge, France, 2009, Farblithografie © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Women Are Heroes, Action in Jaipur, Holi Fest, India, 2009, Farblithografie © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Portrait of a Generation, Araba, 2004, Silbergelantineabzug © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Portrait of a Generation, Araba, 2004, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Hauswand © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Portrait of a Generation, Byron, 2004, Silbergelantineabzug © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Portrait of a Generation, Byron, Paris, 20ème arrondissement, 2004, Installationsansicht. Wheat-paste Poster auf Hauswand © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Women Are Heroes, Action in Favela Morro da Providencia, Stairs a Few Days Later, Rio de Janeiro, Brazil,  2008, Farblithografie © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Women Are Heroes, Eyes on Bricks, New Delhi, India, 2009, Farblithografie © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Women Are Heroes, Bus in Sierra-Leone, Bo City, Sierra Leone, 2008, Farblithografie © JR-ART.NET
  • JR, Still from The Gun Chronicles, 2018, Video, Schwarz-Weiß, mit Ton; 4 Min. Loop © JR-ART.NET
  • JR, The Gun Chronicles, 2018, Installationsansicht, La Maison Européenne de la Photographie. Video, Schwarz-Weiß, mit Ton; 4 Min. Loop © JR-ART.NET, (Foto: Claire Dome, Courtesy Perrotin)
  • JR, Women Are Heroes, Liberia, Rebecca Deman, 2009, Silbergelatineabzug © JR-ART.NET
  • JR, Women Are Heroes, Liberia, Jessie Jon, 2009, Silbergelatineabzug © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Face 2 Face, Jimmy, Taxi Driver, 2007, Silbergelatineabzug © JR-ART.NET
  • JR, 28 Millimeters, Face 2 Face, Drora, Sculptress, 2007, Silbergelatineabzug © JR-ART.NET
  • JR, Expo2Rue, Action in Paris, 2001–2004, Silbergelatineabzug © JR-ART.NET
  • JR, The Chronicles of Clichy-Montfermeil, 2017, Detail, Duratrans-Druck, Lichtbox © JR-ART.NET

    JR, Casa Amarela, in Morro da Providencia, Brazil, Tintenstrahldruck auf Vinyl © JR-ART.NET

    JR, Déplacé.e.es, Valeriia, Lwiw, Ukraine, 2022, © JR

Aktuelle Ausstellungen

6. Dezember 2024
Adolph Menzel, Atelierwand, Detail, 1872, Öl auf Leinwand, 111 × 79,3 cm (Hamburger Kunsthalle)

Hamburg | Hamburger Kunsthalle: Illusion Trompe-l'oeil bis Illusion | 2024/25

Die Ausstellung zeigt, dass Illusion jedoch weit mehr bedeutet als nur bloße Augentäuscherei. Sie offenbart sich in der (illusionistischen) Selbstliebe des Narziss genauso wie in architektonischen Raumillusionen, im Spiel des Verbergens und Enthüllens über die Bildmotive des Vorhangs und der Maske, in der Bedeutung des geöffneten oder geschlossenen Fensters zur Welt sowie in Darstellungen von Visionen und Träumen.
3. Dezember 2024
Christian Marclay, The Clock, Film-Still, 2010, Video (Schwarzweiß und Farbe, Ton), 24 Std. (The Museum of Modern Art, New York. Versprochenes Geschenk aus der Sammlung von Jill und Peter Kraus. © 2024 Christian Marclay. Mit freundlicher Genehmigung von Paula Cooper Gallery und White Cube)

New York | MoMA: Christian Marclay: The Clock 24-Stunden-Montage visualisiert Zeitmessung | 2024/25

27. November 2024
Bartholomeus van der Helst, Zwei Regentinnen und zwei Regenten des Spinhuis, Detail, 1650, Öl auf Leinwand, 219 x 305 cm (Amsterdam Museum, Amsterdam)

Frankfurt | Städel Museum: Rembrandts Amsterdam Kunst und Gesellschaft in Goldenen Zeiten? | 2024/25

War das "Goldene Zeitalter" der niederländischen Barockmalerei wirklich so "golden"? Das Städel hinterfragt Kunst und Gesellschaft, die im 17. Jhdt auf Kolonialismus und Weltwirtschaft, auf Glaubenskrieg (80-jähriger Krieg) und Migration aufbaute. Gruppenporträts der städtlischen Eliten - allen voran von Rembrandt, Bartholomeus van der Helst uvm. - bilden Macht und Reichtum ab; sie stehen auch für neuartige künstlerische Lösungen.
26. November 2024

Madrid | Prado: Polke / Goya Inspiration für das 20. Jahrhundert | 2024/25

„Polke / Goya“ umfasst Objekte, Fotografien, Gemälde, Filme und Zeichnungen, die inhaltlich als auch technisch ein vielfältiges Bild der Verbindung zwischen den beiden Künstlern aufzeigen.
26. November 2024
Rachel Ruysch, Blumenstillleben, Detail, um 1726, Öl auf Leinwand, 75,6 x 60,6 cm (Toledo Museum of Art, erworben mit Mitteln der Libbey-Stiftung, Geschenk von Edward Drummond Libbey, Inv.-Nr. 1956.57)

München | Alte Pinakothek: Rachel Ruysch Prunkvolle Blumenstillleben aus dem Barock | 2024/25

Die Alte Pinakothek widmet Rachel Ruysch die weltweit erste große monografische Ausstellung. Es gilt die wundersame Welt der Rachel Ruysch zwischen Kunst und Naturwissenschaft, perfektionierter Feinmalerei und künstlerischer Freiheit inmitten illustrer Auftraggeber in Amsterdam, Düsseldorf und Florenz zu entdecken.
24. November 2024
Unbekannte Werkstatt, Madonna mit Kind aus dem Rothenschirmbacher Altar, um 1495, Lindenholz, Kreidegrundierung mit Metall- und Farbauflagen (Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Punctum/Bertram Kober)

Halle (Saale) | Kunstmuseum Moritzburg: Frührenaissance in Mitteldeutschland Übergang von Gotik zur Renaissance am Vorabend des Bauernkriegs | 2024/25

Die Ausstellung bietet erstmals einen umfassenden Blick auf die Kunst und Kultur in der mitteldeutschen Region am Vorabend von Reformation und Bauernkrieg.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.