Von seinem ersten Gemälde bis zu den farbstarken Blumenbildern der späten Jahre hat Vincent van Gogh (1853–1890) immer wieder Stillleben gemalt. In diesem Genre konnte er malerische Mittel und Möglichkeiten erproben: von der Erfassung des Raums mit Licht und Schatten bis zum Experimentieren mit Farbe. Die erste Ausstellung zu diesem Thema im Museum Barberini analysiert anhand von 27 Gemälden die entscheidenden Etappen im Werk und Leben van Goghs, darunter das jüngst als Original von Vincent van Gogh erkannte Gemälde „Mohnblumen in einer Vase“ aus dem Wadsworth Atheneum in Connecticut (→ Vincent van Goghs Mohnblumen als Original bestätigt – im Herbst im Museum Barberini zu sehen). Der begleitende Katalog stellt alle 172 Stillleben des niederländischen Meisters vor und bietet damit einen konzisen Überblick über das Genre in dessen Werk.
Deutschland | Potsdam: Museum Barberini
26.10.2019 – 2.2.2020
„Stillleben malen ist der Anfang von allem. Wenn du ein Stilleben malen kannst, kannst du auch einen Wald malen.“1 (Vincent van Gogh, 1884/85, aus der Erinnerung seines Schülers Willem van de Wakker)
In der kurzen Phase von nur zehn Jahren erarbeitete Vincent van Gogh 172 erhaltene Stillleben. Obschon er sich während seiner Ausbildung zum Kunsthändler hauptsächlich für Historienmalerei und Landschaften begeisterte, widmete er sich der Gattung während seiner gesamten Karriere. Die ersten Stillleben datieren von Ende 1881, als van Gogh bei seinem angeheirateten Cousin Anton Mauve in Den Haag ersten Unterricht im Ölmalen erhielt. Der Maler der Haager Schule animierte Vincent, sich an der Wiedergabe von Texturen zu üben, wovon das „Stillleben mit Kohl und Klompen“ (Den Haag, November/Dezember 1881) in der Ausstellung des Museum Barberini, Potsdam, zeugt. Gleichzeitig bot das Genre Stillleben – neben seiner historischen Bedeutung in der niederländischen Malerei seit dem 17. Jahrhundert – mannigfaltige Experimentiermöglichkeiten: Das ästhetische Potential des Stilllebens umfasst das Spiel mit Farben, Texturen, Komposition, während die inhaltliche Ebene von Selbstdarstellung bis Bürgerstolz und vanitas, das eitle und kurze Leben, reichen kann. Das Werk Vincent van Goghs ist vor allem ab der Pariser Zeit reich an Stillleben, in denen sich beide Aspekte der Darstellung von Dingen finden lassen.
In Nuenen, wohin Vincent van Gogh im Dezember 1883 zurückgekehrt war, lebte der Maler wieder mit seinen Eltern und Geschwistern zusammen. Dort wurden seine Kenntnisse bereits als so fortgeschritten wahrgenommen, dass er einigen Freizeitmalern Unterricht erteilte. Obschon der Eindhovener Goldschmied Antoon Hermans ihn aufgrund seines Lebenswandels nicht sehr schätzte, ließ er sich von van Gogh korrigieren. Der reiche Haushalt Hermans inspirierte van Gogh, sich wieder mit dem Thema Stillleben auseinanderzusetzen. So schuf er ab Herbst 1884 einige brauntonige Stillleben mit unterschiedlichen Krügen, Obst und Gemüse, welche das ländliche Leben in den Niederlanden thematisieren. „Stillleben mit Bartmannkrug“ (November 1884–April 1885), „Stillleben mit Äpfeln und Kürbissen“ (September 1885), „Stillleben mit Gemüse und Früchten“ (Ende Oktober 1885) und „Stillleben mit fünf Flaschen“ (September–Mitte Oktober 1885) sind in wenigen gedämpften Farben gemalt. Teilweise mischte van Gogh die Brauntöne mit Rot oder Grün. Offensichtlich wollte der Maler mit diesen Stillleben Lösungen für die Fragen zu Licht und Schatten finden.
Erst im Frühjahr 1885 wandte sich Vincent van Gogh dem persönlich motivierten Stillleben zu. So verarbeitete er den Tod seines Vaters im März mit einer Komposition von den persönlichen Besitztümern seines Vaters in Verbindung mit seinen eigenen. Zu den außergewöhnlichen Motiven in van Goghs Stillleben-Malerei gehören die „Vogelnester“, die in zwei Varianten in der Potsdamer Van-Gogh-Ausstellung zu sehen sind. Der Maler nannte sie „Menschennester“ und verglich sie mit den Bauernkaten in seiner niederländischen Heimat.
Als Vincent van Gogh im März 1886 in Paris ankam, hatte er sich in den Niederlanden eine tonale, realistische Malerei erarbeitet, die in Paris allerdings als bereits überwunden angesehen wurde. Van Gogh hoffte, im Atelier von Fernand Cormon Hilfestellung für seine Suche nach einem neuen künstlerischen Weg zu erhalten. Binnen eines Jahres veränderte er seine Malweise und sein Kolorit im Sinne der französischen Avantgarde: Pinselduktus und Farbgebung wurden zu wichtigen Ausdrucksmitteln in seinen Bildern. Den Weg dorthin beschritt er einmal mehr über das Stillleben, das nun zum Experimentierfeld für neue Farbtheorien und Farbauftrag im Sinne von Impressionismus und Pointillismus wurde.
Die in Paris gemalten Stillleben „Geräucherte Heringe“ (Sommer 1886) und „Gipsstatuette: Torso der Venus Paris“ (Mitte Juni 1886) könnten nicht unterschiedlicher sein. Die „Geräucherten Heringe“ sind noch ganz der realistischen Tradition verhaftet (und lassen die niederländische Tradition des barocken Stilllebens spüren), während die „Gipsstatuette“ auf die neue, helle Farbigkeit der Pariser Phase vorausweist. Cormons Lehrmethode schloss das Arbeiten nach Gipsstatuetten ein, weshalb Vincent van Gogh sich einige Gipsmodelle kaufte und damit auch zuhause Stillleben malte.
Der Durchbruch zur modernen Farbigkeit gelang Vincent van Gogh aber mit Blumenstillleben, die wohl nicht zufällig an die abundanten Blumensträuße von Eugène Delacroix erinnern, dessen Farbtheorie Vincent van Gogh studiert hatte (vgl. Delacroix und die Malerei der Moderne). Das Museum Barberini bringt sechs dieser bedeutenden Blumenstillleben van Goghs zusammen: „Vase mit Nelken“ (Paris, Sommer 1886), „Rosen und Pfingstrosen“ (Paris, Juni 1886), „Vase mit Mohnblumen“ (Paris, Sommer 1886), „Stillleben mit Wiesenblumen und Rosen“ (Paris, 1886/87“, „Vase mit Blumen“ (Paris, Spätsommer 1886) und „Vase mit roten Gladiolen“ (Paris, Spätsommer 1886). Zuvor hatte Vincent van Gogh in Nuenen nur wenige Blumenstillleben angefertigt. Im Sommer 1886 malte er plötzlich 31 Blumenstillleben. Vielleicht fühlte sich Vincent van Gogh durch den Tod des von ihm verehrten Adolphe Monticelli dazu animiert.2
Dass er dieses Interesse im folgenden Jahr nicht weiterverfolgte, zeigt ein Blick in den Werkkatalog: 1887 folgten sechs Blumenstillleben, bevor sich van Gogh abgeschnittenen Sonnenblumenköpfen zuwandte. Drei Blumenstillleben in Potsdam belegen, wie sich van Gogh zunehmend mit der pointillistischen Tupfentechnik auseinandersetzte (→ Seurat, Signac, Van Gogh – Wege des Pointillismus). „Karaffe und Teller mit Zitrusfrüchten“ (Februar/März 1887), „Flieder“ (Frühling 1887) und „Blumen in blauer Vase“ (etwa Juni 1887) zeigen einen veränderten malerischen Ansatz. Anfangs dominieren noch feine Schraffuren, mit deren Hilfe Vincent van Gogh die Körperlichkeit der Objekte herauszuarbeiten suchte. Die in kräftigen Farben gehaltenen Bilder sind erstmals mit pastosem Farbauftrag gemalt, wobei van Gogh die Pinselstriche sichtbar stehen ließ. Damit machte er den Malprozess sichtbar und reiht sich in die Riege der virtuosen Maler ein (z. B. der späte Rembrandt van Rijn, Gustave Courbet).
Im Frühjahr 1887 war Vincent van Gogh gemeinsam mit Paul Signac in Asnières zum Malen unterwegs. Der „Apostel des Pointillismus“, wie Signac von seinen Freunden genannt wurde, führte van Gogh in die avantgardistische Maltechnik ein. Für kurze Zeit erprobte der Niederländer die disziplinierte Pinselführung im dünnen Farbauftrag, ohne sich jedoch langfristig der Bewegung anzuschließen. Das „Restaurant-Interieur“ vom Sommer 1887 ist eines der Bilder, das die kurzfristige Nähe van Goghs zum Pointillismus belegt. In den kommenden Monaten entwickelte van Gogh den für ihn charakteristischen Farbauftrag mittels einer intuitiv wirkenden, dynamischen Pinselführung, die er in vielen Federzeichnungen vorbereitete. Zudem verzichtete er auf die illusionistische Dreidimensionalität von Dingen und Raumwiedergabe. Das Stillleben „Trauben, Zitronen, Birnen und Äpfel“ (Herbst 1887) zeigt bereits jene markante Pinselschrift Vincent van Gogh.
Die ersten Stillleben und die letzten, die Vincent van Gogh in Arles malte, sind von freudigem Aufbruch und kontemplativer Stimmung nach dem Ausbruch seiner Krankheit geprägt. In Paris waren die Stillleben anfangs von Malexperimenten und dann zunehmend von einer persönlichen Botschaft geprägt worden. In Arles wandte sich van Gogh verstärkt der Landschaftsmalerei zu und entdeckte blühende Bäume als wichtiges Motiv. Mit „Korb mit Zitronen und Flasche“ (Mai 1888) knüpfte er nochmals an Pariser Errungenschaften an. Eine Leerstelle in der Potsdamer Van-Gogh-Ausstellung müssen die berühmten Sonnenblumen-Bilder van Goghs bleiben – sie wurden leider nicht entliehen (→ Van Goghs Sonnenblumen).
Bereits kurz nachdem der Maler sich sein linkes Ohrläppchen abgeschnitten und nach einem Krankenhausaufenthalt am 7. Januar 1889 wieder entlassen worden war, machte er sich wieder ans Malen (→ Vincent van Gogh : Paul Gauguin in Arles). In einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb er, dass er beabsichtigte, an zwei Stillleben zu arbeiten. Er wollte sich „wieder ans Malen gewöhnen“, meinte er. Eines der beiden Stillleben van Goghs ist das in Potsdam gezeigte „Stillleben mit einem Teller Zwiebeln“ (Arles, Anfang Januar 1889, Kröller-Müller Museum, Otterlo), das er in stark kontrastierenden Farben ausführte. Das Zeichenbrett ist in fast ausschließlich horizontaler Strichführung und der Hintergrund in vertikalem Duktus gehalten. Die ausgewählten Objekte lassen den Schluss zu, dass Vincent van Gogh seinen Alltag wieder aufgenommen hat: Der Brief von Theo, der Teller mit Zwiebeln, die Pfeife mit Tabak, die Flasche Wein oder Absinth, eine Kaffeekanne, der Kalender mit einer brennenden Kerze, ein Stück Briefwachs, eine Zündholzschachtel und schlussendlich das Buch „Annuaire de la santé“ über gute Ernährung und Hygiene. Die brennende Kerze erinnert an Paul Gauguin (und dessen überstürzte Abreise), der Brief an seinen Kunst-Diskurs mit Theo van Gogh, sein Alkoholismus und die gesundheitlichen Probleme werden mittels Flasche und „Manuel annuaire de la santé ou Médecine et pharmacie domestiques“ von 1886 angedeutet. Das medizinische Jahrbuch weist auf Van Goghs Gesundheitsprobleme hin.
„Stillleben mit Orangen, Zitronen und blauen Handschuhen“ (Januar 1889) entstand in den ersten zwei Wochen nach Van Goghs Krankenhausaufenthalt in Arles und unmittelbar vor den Wiederholungen der Sonnenblumen. Vincent hatte vermutlich die Verkäuflichkeit des Motivs im Sinn. In dieser Zeit plagten ihn ausgeprägte Geldsorgen. Die markant gesetzte Signatur verlieht allerdings auch seiner gestiegenen Selbstgewissheit Ausdruck. Der Einsatz der Komplementärfarben Gelb-Orange und Blau evoziert die Experimente mit den Sonnenblumen vor gelbem Hintergrund, die das „Gelbe Haus“ in Arles schmücken sollten. Die Zusammenstellung der eleganten Handschuhe mit den Zitrusfrüchten erlaubt van Gogh sowohl ein Farbexperiment mit dynamischem Pinselstrich wie auch ein allgemein akzeptables Thema miteinander zu verbinden.
Das größte von van Goghs späten Stillleben ist „Blühender Kastanienzweige“ (Sammlung Emil Bührle, Zürich), das bereits Ende Mai 1890 in Auvers-sur-Oise entstanden ist. Wenige Tage, bevor Vincent sich den weißen Blüten zuwandte, war er nach einem einjährigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik in Saint-Rémy-de-Provence in den Norden zurückgekehrt. Vermutlich wollte van Gogh mit „Blühende Kastanienzweige“ dem Neuanfang ein sprechendes Bild zur Seite stellen. Dass er neun Stillleben und sechzig Landschaften und Porträts später seinem Leben vermutlich selbst ein Ende setzte, lässt das bildfüllende Motiv noch lebendiger erscheinen. Der erste Überblick über die Stilllebenmalerei im Werk von Vincent van Gogh zeigt einen konstant an malerischen Problemen arbeitenden Künstler, der die Symbolik der Dinge und Pflanzen nicht aus den Augen verlor!
Die Ausstellung im Museum Barberini entsteht in Kooperation mit dem Kröller-Müller Museum, Otterlo, und dem Van Gogh Museum, Amsterdam, sowie Leihgaben aus dem Art Institute of Chicago und der National Gallery of Art, Washington, D. C.