1924 veröffentlichte André Breton das Erste surrealistische Manifest und begründete damit den Surrealismus als Haltung und Kunstform. Anlässlich des 100. Geburtstags der revolutionären Gruppierung organisiert das Centre Pompidou eine umfassende Überblicksausstellung. Mehr wird noch nicht verraten! Außer: Das Museum kann auf ca. 2.500 Werke von 130 Künstler:innen zurückgreifen.
Frankreich | Paris:
Centre Pompidou
4.9.2024 – 13.1.2025
„Surrealismus: reiner psychischer Automatismus, durch den man versucht, die tatsächliche Funktionsweise des Denkens entweder schriftlich oder auf andere Weise auszudrücken. Diktiert durch Gedanken ohne jegliche Kontrolle durch die Vernunft, unabhängig von jeglichen ästhetischen oder moralischen Bedenken.“ (André Breton, 1924)
Der Einfluss des dadaistischen Aufstands gegen die Kunstwelt und Gesellschaft ist in den frühen Werken noch deutlich spürbar. Bald wird „The Magnetic Fields“ von Breton und Soupault eine poetische Praxis vorstellen, die die Idee einer subjektiven und individualistischen Kunst zu überwinden weiß, während die ersten Werke von Max Ernst und André Masson die Legitimität ihres künstlerischen Ansatzes in den neuen Techniken „automatisches Schreiben“ und „Collage“ begründen. Die Surrealisten schlossen sich dann schnell Sigmund Freud bei der Erforschung des Unbewussten an und wollten sich aktiv an der Organisation der Gesellschaft beteiligen. Dieses Projekt wurde insbesondere durch Zeitschriften wie „La Révolution surréaliste“, aber auch „Documents“ oder „Minotaure“ bestimmt.
Die Ablehnung eines Zivilisationsmodells, das rein auf technischer Rationalität beruhte, und ihr Interesse an Kulturen, die das Prinzip einer einheitlichen Welt bewahrt hatten (die von Antonin Artaud entdeckte Kultur der Tarahumara, die von André Breton erforschte Kultur der Hopi), zeugen von ihrer Modernität. Das offizielle Ende des Surrealismus als Bewegung setzte seinem Einfluss in Kunst und Gesellschaft kein Ende. Er inspirierte weiterhin Biennalen zeitgenössischer Kunst, Filmproduktion, Mode und Cartoons usw. Getreu dem multidisziplinären Prinzip des Surrealismus zeigt die Ausstellung „Surrealismus“ im Centre Pompidou Gemälde, Zeichnungen, Filme, Fotografien und literarische Dokumente.
Die Ausstellung verläuft spiralförmig oder labyrinthartig und geht von einer zentralen „Trommel“ aus, in der sich das Originalmanuskript des Manifestes du surréalisme befindet (Bibliothèque nationale de France). Der offizielle Gestalter der surrealistischen Ausstellungen, Marcel Duchamp, gab der Schau von 1947 die Form eines Labyrinths. Die Etymologie des Wortes stammt vom griechischen „labrys“, was eine doppelköpfige Axt bedeutet, deren zwei Seiten Sommer und Winter repräsentieren, und das Labyrinth zu einem Ort macht, an dem Gegensätze in Einklang gebracht werden. Seine Wände hüllen ein Geheimnis in Form des Minotaurus ein: ein duales Wesen, halb Mensch, halb Tier. Im Labyrinth „werden Leben und Tod, real und imaginär, Vergangenheit und Zukunft, kommunizierbar und unkommunizierbar, hoch und niedrig nicht mehr als Widersprüche wahrgenommen“ (André Breton). Es ist daher verständlich, dass das Labyrinth zum Sinnbild des Surrealismus wurde und diese Versöhnung der Gegensätze von seinen Anfängen 1924 bis zu seiner Auflösung in den späten 1960er Jahren verkörperte.
Vom Eingang führt der Rundgang direkt ins Herz der Bewegung, das am 15. Oktober 1924 veröffentlichte Manifest. Eine immersive audiovisuelle Projektion beleuchtet dessen Ursprünge und Bedeutung. Im Mittelpunkt der Ausstellung führt André Breton die Besuchenden durch sein Manifest des Surrealismus: Seine Stimme wurde von Mitarbeitern des Ircam (Institut für Forschung und Koordination in Akustik/Musik) im Centre Pompidou durch Stimmklonen mit Hilfe künstlicher Intelligenz reproduziert.1 Wenn man das Labyrinth betritt, so das Centre Pompidou, muss man alle klaren, von der Vernunft diktierten Ideen an der Tür zurücklassen. Zwischen diesen Mauern „verschlingt die Natur den Fortschritt“, verschmilzt die Nacht mit dem Tag, vermischt sich der Traum mit der Wirklichkeit.
Um dieses Zentrum kreist die Ausstellung in chronologischem und thematischem Aufbau. Sie umfasst 13 Kapitel, die sich auf jene literarischen Figuren beziehen, die die Bewegung inspirierten, sowie auf die Mythen, die ihrer poetischen Fantasiewelt Struktur verleihen.
Der Surrealismus machte Dichter zu „Hellsehern“, die ihre Seelen auf das Universum einstimmen konnten und sich so wieder mit der alten Harmonie von Poesie und Wahrsagerei verbanden. 1914 ebnete Giorgio de Chirico den Weg dafür mit seinem Porträt von Guillaume Apollinaire; es trägt eine Zielscheibe an jener Stelle, an der der Dichter drei Jahre später von einem Granatsplitter verletzt werden würde.
Im November 1922 veröffentlichte André Breton „Entrée des médiums [Die Medien treten auf]“ in der Zeitschrift „Littérature“. Darin berichtete er über hypnotische Schlafsitzungen, an denen Mitglieder der zukünftigen surrealistischen Gruppe teilnahmen. Dieses Eintauchen ins Unbewusste, diese „Störung aller Sinne“, fand ein Echo in Werken übersinnlicher Künstler und in den Schwärmereien von Menschen mit psychotischen Störungen. Dieser Ansatz wurde von André Breton und Philippe Soupault angewandt, als sie 1919 gemeinsam „Les Champs magnétiques [Die magnetischen Felder]“ schrieben. Ihre Erfindung des automatischen Schreibens fand anschließend in Formen der bildenden Kunst Ausdruck, und zwar in den Frottagen (Durchreibungen) von Max Ernst und den Sandbildern von André Masson.
Als Medizinstudent interessierte sich André Breton sehr für Albert Maurys Buch „Schlaf und Träume“ (1861), das Pionierarbeit für die Erforschung von Träumen aus neurologischer Sicht leistete. Während seiner Tätigkeit als Assistent in einem neuropsychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier im Jahr 1916 entdeckte er Sigmund Freuds Methoden zur Interpretation der Träume von Menschen mit psychotischen Störungen zu Heilungszwecken. Die Surrealisten übertrugen psychoanalytische Methoden auf die Poesie und veröffentlichten ihre Traumgeschichten in ihren Zeitschriften. Sie versuchten, das Wunder der Bilder wiederzugeben, die ihre Gedanken heimsuchten, wenn sie kurz vor dem Schlafen schwebten. In „Kommunizierende Gefäße“, das 1932 veröffentlicht wurde, machten sich Paul Éluard und André Breton daran, die reale Welt mit der der Träume zu vermischen. Im Surrealistischen Manifest fragte sich Breton:
„Könnten Träume zur Lösung der grundlegenden Fragen des Lebens eingesetzt werden?“
Arbeiten von Dora Maar wie „Ohne Titel [Main-coquillage]“ (1934) und Salvador Dalís „Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen“ (1944, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid) führen die traumähnlichen Situationen durch Montagetechniken in bildende Kunst über.
1914 veröffentlichte die Zeitschrift „Vers et Prose“ den Text eines längst vergessenen Autors: Isidore Ducasse, alias Comte de Lautréamont, der 1870 im Alter von 21 Jahren verstorben war. Philippe Soupault behauptete, dass „die Lektüre dieses Textes den Lauf [seines] Lebens veränderte“ und schickte eine Ausgabe von „Les Chants de Maldoror“ an Breton, der wiederum die Entdeckung an Aragon weitergab. Ein literarischer Mythos war geboren.
„Les Chants de Maldoror“ ähnelten einem Geständnis eines kranken Genies. Der Text widersetzte sich jeder logischen Konstruktion und rief zu Gewalt und Zerstörung auf. Für die jungen Surrealisten war er eine angemessene Antwort auf eine scheiternde Welt, die zu einem Gemetzel in den Schützengräben geführt hatte. Lautréamont machte Schönheit zu „dem zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ und gab dem Surrealismus damit eine Definition, die auch als Prinzip dienen konnte, nämlich die der Collage-Ästhetik, die den Gesetzen der Logik und Harmonie wenig zu verdanken hatte. Giorgio de Chiricos Gemälde „Das Lied der Liebe“ (1914, Museum of Modern Art) scheint das Konzept der „Chants“ aufzugreifen: Die zufällig scheinende Zusammenführung einer Gipskopfes des Apoll vom Belvedere mit einem Handschuh und der geheimnisvolle Titel.
In der „Ilias“ beschrieb Homer die Chimäre als feuerspeiendes Mischwesen: „Vorne ein Löwe, hinten eine Schlange und in der Mitte eine Ziege.“ Dieses mythische Tier übte aufgrund seiner unlogischen, zusammengesetzten Form, die durch den Collagenprozess entstand, eine anhaltende Faszination auf die Vorstellungskraft der Surrealisten aus.
1925 erfanden die Surrealisten die „Exquisite Corpse“ - „Die Exquisite – Leiche – wird – den neuen – Wein trinken“ - und befolgten damit Lautréamonts Anweisung, dass „Poesie von allen gemacht werden muss. Nicht von einem“. Ursprünglich ein Spiel, bei dem Wörter zusammengesetzt wurden, wurde es bald auf Bilder angewendet. Diese Kreaturen waren „für einen einzelnen Geist unvorstellbar“ und sollten bis in die späten 1960er Jahre als Sinnbild kollektiver surrealistischer Aktivitäten dienen. Die Chimäre wurde zum Totemtier des Surrealismus, die zu einer anarchischen Welt gehörte, einer Welt ohne Bedeutung und Gesetze. Dorothea Tanning zeigt sich in „Geburtstag“ (1942, Philadelphia Museum of Art) von einer Mini-Chimäre begleitet, allerdings wird das wohnliche Heim zu einem unübersichtlichen Labyrinth an Türen und Räumen.
André Breton meinte, dass „die Kindheit dem wirklichen Leben vielleicht am nächsten kommt“. Das Lob der Surrealisten auf Alice im Wunderland ist das dieser geträumten Kindheit. 1931 verfasste Aragon einen Artikel über Lewis Carroll in „Le Surréalisme au service de la Révolution“ und katapultierte Alice damit in das surrealistische Pantheon. Er übersetzte auch Carrolls Roman „Die Jagd auf den Snark“.
Alice verkörpert Wunder, Unlogik und Humor und untergräbt die rationalen Grundlagen der Realität. Die imaginäre Welt, durch die Alice den Leser führt, veranlasste Breton, Carroll in seiner „Anthologie des schwarzen Humors“ (1940) zu den Vorfahren des Surrealismus zu zählen:
„Alle, die sich einen Sinn für Revolte bewahrt haben, werden in Lewis Carroll ihren ersten Mentor in der Kunst des Schulschwänzens erkennen.“
In Fortsetzung von Arthur Rimbaud und Lautréamont verkörperte die junge Dichterin Gisèle Prassinos das poetische Genie, das der Surrealismus der Kindheit zuschrieb. Ihre Gedichte wurden 1934 mit einem Vorwort von Paul Éluard in der Zeitschrift „Minotaure“ veröffentlicht. Leonora Carringtons „Grüner Tee“ (1942, The Museum of Modern Art) oder Suzanne van Damme „Composition surréaliste“ (1943, RAW (Rediscovering Art by Women) nehmen den Geist der literarischen Vorlage auf. René Magritte ließ sich zum Spiel mit Größenverhältnissen anregen, wie er es in „Les valeurs personalles“ (1952, San Francisco Museum of Modern Art) zeigt. „Le Cœur de Pic“ (1936, Centre Pompidou) von Claude Cahun hingegen nimmt Motive der Geschichte auf.
Der Surrealismus versuchte, auf die doppelten Forderungen von Karl Marx – „Ändere die Welt“ – und Arthur Rimbaud – „Ändere das Leben“ – zu reagieren. Die Surrealisten markierten ihr politisches Debüt, indem sie die jungen Kommunisten der Clarté-Gruppe ansprachen, mit denen sie 1925 ein Manifest unterzeichneten, in dem sie den von Frankreich in Marokko geführten Kolonialkrieg anprangerten.
Mit dem Aufstieg des Faschismus in Europa in den 1930er Jahren überdachten viele Künstler und Künstlerinnen die undurchdringbare Grenze zwischen dichterischer Schöpfung und politischer Aktivität, die sie bis dahin verteidigt hatten. Der Surrealismus brachte Monster hervor, die den Aufstieg des Totalitarismus symbolisierten. Ein Jahr bevor Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kam, wurde eine neue surrealistische Zeitschrift herausgegeben, deren Emblem die bestialische Figur des Minotaurus war.
Die politischen Krisen von den 1930ern bis in die 1950er waren mannigfaltig - und so auch die Reaktionen der Surrealist:innen darauf. Tatsuo Ikeda schuf im Nachkriegs-Japan Werke voller sozialer und politischer Kritik. Seine Federzeichnung „Familie, aus Chronik der Vögel und Tiere“ (ca. 1956, The Art Institute of Chicago) reflektieren die Atomtests im Pazifik und das toxische Lebensumfeld des Künstlers mittels grotesken, formlosen Figuren.
Die „Mütter“, die Johann Wolfgang von Goethe in „Faust II“ (1832) beschreibt, sind die tiefgründigsten poetischen Mythen des Surrealismus. André Breton beschwört sie in seinem Vorwort zur ersten Ausstellung von Yves Tanguys Werken im Jahr 1927:
„Der erste, der visuell in das Königreich der Mütter eindrang, war Yves Tanguy. Die Mütter, das heißt die Matrizen und Formen […], in denen sich alles im Handumdrehen in alles verwandeln kann.“
Für den Surrealismus wurden die „Mütter“ zu Gebärmüttern, die Formen hervorbrachten, die vom Schwindel der Metamorphose befallen waren. Aus ihnen ging das automatische Schreiben hervor. Sie waren die Matrix, aus der embryonale Welten hervorgingen, die sich die britische Neurochirurgin Grace Pailthorpe mit ihrem Gemälde „May 16, 1941“ (1941, Tate) vorstellte, das organische Wort von Jane Graverol und Salvador Dalí.
Die Legende von Melusine tauchte erstmals in mittelalterlichen Erzählungen auf, die ein hybrides Wesen beschreiben, halb Frau, halb Schlange. André Breton ließ den Mythos in „Arcana 17“ wieder aufleben, das er im Exil in den USA schrieb. Die schiere Unermesslichkeit der offenen Flächen, die er in New Mexico und dann in Gaspesia im Osten Kanadas entdeckte, weckte in ihm ein Gefühl der Verschmelzung mit der Natur, das sich durch seinen gesamten Text zieht. Auch wenn Arcana 17 stark von der amerikanischen Natur geprägt ist, hat der Text auch viel mit der Nachkriegszeit und ihrer Forderung nach einer Neuerfindung der Welt und ihrer Werte zu tun. Die Macht der Maschinen und der Technik zeigte einmal mehr ihr Zerstörungspotenzial. Breton sehnte sich nach einem Zeitalter der „vorsehungsvollen Kommunikation mit den elementaren Kräften der Natur“ unter der Schirmherrschaft von Melusine. Seine Begegnung mit einheimischen Zivilisationen im Land der Hopi brachte ihn dazu, sich ein anderes Zivilisationsmodell vorzustellen, in dem, wie bei Melusine, Natur und Menschlichkeit eins sind.
Ithell Colquhouns inzwischen hoffentlich berühmtes Bild „Scylla“ (1938, Tate) steht stellvertretend für die Werke dieses Kapitels. Die Britin zeigt in dem hochformatigen Gemälde zwei aufragende Felsformationen, die - durch den Titel - an Skylla und Charybdis erinnern sollen. Durch Formgebung und Färbung lassen sich aber auch Assoziationen an tanzende Wale oder erigierte Penisse aufmachen, die durch die Information, dass es sich um die schrumpelige Haut der Künstlerin in der Badewanne handelt, in sich zusammenstürzt. Dennoch, Skylla und Charybdis stehen für Gefahr und Tod, was Colquhoun vermutlich auf sich selbst bezog.
„Im Tempel der Natur erheben sich lebendige Säulen, die manchmal in Worten von abstruser Bedeutung sprechen“ – für Charles Baudelaire war der Wald der Schauplatz, in dem der Faden der „Entsprechungen“ gesponnen wurde, wo verschleierte Beziehungen zwischen Wesen und Dingen geknüpft wurden. In Anlehnung an die Jungsche Psychoanalyse, die die Angst vor dem Wald mit Offenbarungen des Unterbewussten in Verbindung brachte, machten sich die Surrealist:innen den Wald zu einem Reich tiefer Wunder, einer möglichen Form für Labyrinthe und eines Ortes für Initiationsreisen.
Als Erbe der deutschen Romantik, die die Nacht der „Aufklärung“ vorzog, und in Übereinstimmung mit dem Philosophen und Dichter Novalis, der die heilige Dimension der Natur bekräftigte, erklärte Max Ernst den Wald zu seinem Lieblingsthema (Natur im Morgenlicht, 1936, Städel Museum). Nach seiner Rückkehr in seine Heimat im Jahr 1941 begann der kubanische Maler Wifredo Lam, Dschungel zu malen, um diese ursprüngliche, durch koloniale Plünderung unverfälschte Natur zu feiern. In einem 1938 in „Minotaure“ veröffentlichten Artikel von Benjamin Péret nahm dieser emanzipatorische Wald eine verlassene Lokomotive in Besitz, „verschlang den Fortschritt und übertraf ihn“.
„Ich würde es begrüßen, wenn Sie die bemerkenswerte Analogie zwischen den surrealistischen Bemühungen und denen der Alchemisten in Bezug auf ihre Ziele zur Kenntnis nehmen“, schrieb Breton im Zweiten Manifest des Surrealismus im Jahr 1929. Im Jahr 1923 spielten die Alchemisten Hermès Trismegiste und Nicolas Flamel eine herausragende Rolle, inspirierten sie doch die Surrealisten bei ihren Gedankengängen (die Liste von Persönlichkeiten, die den Surrealismus inspirierten wurde in Literature veröffentlicht).
Der Okkultismus prägte die Geschichte der Bewegung, in André Bretons Texten „L’Amour fou“ und „Arcane 17 und Michel Leiris’ „Aurora“ sowie Gemälden von Ithell Colquhoun, Remedios Varo (Papilla estelar / Celestial Pablum, 1958, Colección FEMSA) und Jorge Camacho. Die Surrealist:innen betrachteten Alchemie als Mittel zur Koexistenz von Wissen und Intuition, Wissenschaft und Poesie. Der Alchemist und Surrealist Bernard Roger sah darin eine „Wissenschaft der Liebe, die auf der natürlichen Analogie basiert, durch die alle Bereiche und Ebenen der Existenz kommunizieren.“ In Anlehnung an die Anhänger des alchemistischen Athanors wählte Breton als Grabinschrift „Ich suche das Gold der Zeit“.
In den in der Romantik erschienenen Hymnen an die Nacht lobte Novalis „die unbeschreibliche, heilige, geheimnisvolle Nacht“. Für die symbolistische Generation wählte Victor Hugo die Dunkelheit: „Wer meditiert, lebt in der Dunkelheit; Wer nicht meditiert, lebt in Blindheit. Wir haben nur die Wahl des Schwarz.“ In seiner Erzählung „Aurelia: Der Traum und das Leben“ kündigte Gérard de Nerval die Nacht des Surrealismus an. Dieses durch die Nacht erzeugte Zusammentreffen von Gegensätzen inspirierte André Breton zu seinem paradoxen Titel „Die Nacht der Sonnenblume“ und René Magrittes Serie „Das Reich der Lichter“. In seinem Buch „Paris By Night“ zeigte der rumänische Fotograf Brassaï die Kraft der Metamorphose, die Fähigkeit, die moderne Stadt in ein archaisches Labyrinth zu verwandeln, das für Wunder offen ist. Als Nachteulen und Anhänger von Nosferatu und Fantômas hüllten die Surrealist:innen die „Internationalen Ausstellung des Surrealismus“, die sie 1938 in der Galerie des Beaux-Arts in Paris organisierten, in Dunkelheit.
„Das Charakteristischste für surrealistische Werke insgesamt sind vor allem ihre erotischen Implikationen.“
Breton stellte die Erotik in den Mittelpunkt des surrealistischen Projekts und gab „L’Amour fou [verrückte Liebe]“ seine wörtlichste Bedeutung zurück: eine Leidenschaft, die psychische Störungen auslösen kann. Die surrealistische Liebe mutierte zu einem skandalösen, revolutionären Gefühl. In seinem Streben nach absoluter Freiheit ebnete der Marquis von Sade dieser Bewegung den Weg. Er inspirierte Alberto Giacomettis „Disagreeable Object“, Hans Bellmers „The Doll“, Salvador Dalis „Visage du grand masturbateur“ (1929), Joyce Mansours „Nasty Object [Objet méchant]“ (1965-1969) und ihr glühende Poesie.
Drei Jahre nachdem die Veröffentlichung von Sades Schriften dazu führte, dass ihr Verleger JJ Pauvert vor Gericht verklagt wurde, und 1959 die Surrealist:innen Erotik zum zentralen Thema der „8. Exposition inteRnatiOnale du Surréalisme (EROS)“ in der Galerie Daniel Cordier wählten.
In den „Prolegomena zu einem dritten Manifest des Surrealismus oder nicht“ (1942) überlegte André Breton die Stellung des Menschen im Kosmos. Allerdings: „Der Mensch ist vielleicht nicht das Zentrum, nicht der Fokus des Universums.“ Weit entfernt von der modernen Position des Menschen, der von der Natur abgeschnitten ist und deren Besitzer sein möchte, entlehnte der Surrealismus das mittelalterliche Prinzip der Kontinuität zwischen dem Mikrokosmos (dem menschlichen Körper als Miniaturbild des Universums) und dem Makrokosmos (dem gesamten Universum). Joan Miró lässt deshalb Frauen mit Vögeln tanzen. André Bretons Reisen ins Hopi-Land und Antonin Artauds Reise zu den Tarahumaras bestätigten ihre Intuition, dass eine andere Beziehung zur Welt noch möglich sei. Der 1943 von André Masson veröffentlichte Stich mit dem Titel „Einheit des Kosmos“ bestätigt dies: „Nichts ist unbelebt auf der Welt, es gibt eine Entsprechung zwischen den Tugenden von Mineralien, Pflanzen, Sternen und Tierkörpern.“
Der Podcast orientiert sich an den Themen der Surrealismus-Ausstellung und beleuchtet die literarische Dimension der surrealistischen Bewegung. Schauspieler wie Gabriel Dufay, Elina Löwensohn, Guslagie Malanda, Nathalie Richard und Eric Ruf von La Comédie Française interpretieren die Texte surrealistischer Künstler:innen, Dichter:innen und Schriftsteller:innen.
Surrealismus Podcast des Centre Pompidou
Mit Texten von:
Guillaume Apollinaire, Louis Aragon, Antonin Artaud, Georges Bataille, André Breton, Emmy Bridgewater, Claude Cahun, Leonora Carrington, Aimé Césaire, Suzanne Césaire, René Char, Ithell Colquhoun, Lise Deharme, Robert Desnos, Isidore Ducasse, Paul Éluard, Leonor Fini , Elie-Charles Flamand, Renée Gauthier, Julien Gracq, Radovan Ivšić, Edouard Jaguer, Ted Joans, Frida Kahlo, Michel Leiris, Gherasim Luca, André Pieyre de Mandiargues, Joyce Mansour, Meret Oppenheim, Colette Peignot, Valentine Penrose, Pierre Péret, Gisèle Prassinos, Alice Rahon, Philippe Soupault, Takiguchi Shuzo.
Kuratiert von Didier Ottinger, stellvertretender Direktor des Musée national d’art moderne, und Marie Sarré, Kuratorin der Abteilung für moderne Sammlungen, Centre Pompidou.