Das Centre Pompidou präsentiert im Herbst/Winter 2021 eine große Retrospektive von Georgia O’Keeffe (1887–1986), der bekanntesten und berühmtesten amerikanischen Malerin des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung zeichnet die künstlerische Reise einer Künstlerin nach, die in ihrem langen Leben die Entwicklung von der Protagonistin der amerikanischen Moderne, zur Suchenden nach Identität in den 1930er Jahren und Pionierin der „harten“ Abstraktion der 1950er Jahre machte.
Frankreich | Paris: Centre Pompidou G2
8.9. – 6.12.2021
Georgia O’Keeffe befreite sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von allen Zwängen und Konventionen im Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht. In den 1920er Jahren, als sie zum ersten Mal in der Kunstwelt auffiel, lehnte O'Keeffe das ihr von Kritikern zugeschriebene Label „Künstlerin“ weitgehend ab (wie auch die Behauptung, dass ihre berühmten Blumen-Bilder sublimierte erotische Darstellungen wären!). O‘Keeffe präsentierte sich als absolut unabhängig und folgte ihren Vorstellungen mit eiserner Disziplin. Sie lehnte zeitlebens geschlechtsspezifische Einschränkungen ab, was sie u.a. durch ihren selbst entworfenen, strengen Kleidungsstil zum Ausdruck bringen wollte. Mithilfe von Porträtfotografien berühmter Freunde formte sie eine öffentliche Person, die mittlerweile zum Rollenvorbild geworden ist.
Ursprünglich aus den Great Plains von Wisconsin stammend, war Georgia O‘Keeffe sehr früh davon überzeugt, dass sie berufen wäre, Malerin zu werden. Als junge Künstlerin lernte sie den einflussreichen Fotografen und Galeriebesitzer Alfred Stieglitz kennen. Die 1905 vom Fotografen Alfred Stieglitz eröffnete „Galerie 291“, benannt in Anlehnung an die Hausnummer, in dem sie sich an der Fifth Avenue in New York befand, war die erste Stelle für die Verbreitung und Ausbildung moderner Kunst in den Vereinigten Staaten. Nach Ausstellungen mit Werken von Auguste Rodin (1908), Henri Matisse (1908, 1910) und Paul Cézanne (1911) organisierte Stieglitz unter anderem die ersten amerikanischen Ausstellungen von Pablo Picasso (1911), Francis Picabia (1913 → Francis Picabia: Unser Kopf ist rund) und Constantin Brancusi (1914).
Georgia O'Keeffe entdeckte die „Galerie 291“ im Jahr 1908 während ihres Studiums an der Art Students League in New York und verfolgte fortan ihre Aktivitäten aufmerksam: Ausstellungen aber auch Publikationen (die Galerie gab die Zeitschrift „Camera Work“ heraus mit ersten Studien zu Künstlern der europäischen Avantgarde). An ihre Kommilitonin Anita Pollitzer schrieb O’Keeffe: „Ich möchte mit „291“ lieber ausstellen als irgendwo in New York.“ Von Texas, wo sie lehrte, schickte O‘Keeffe Pollitzer 1916 eine Reihe von Kohlezeichnungen, damit sie diese Alfred Stieglitz vorlegen konnte.
Der Tag, an dem der Fotograf sie entdeckte, markiert den Beginn einer legendären Beziehung zwischen der Künstlerin und ihrem Mentor, den sie später auch heiratete. Stieglitz präsentierte sie 1916 erstmals in einer Gruppenausstellung. Von 1923 bis zu seinem Tod 1946 widmete er dem Werk O‘Keeffes jedes Jahr eine Ausstellung. Ihm zufolge „verkörperte“ ihre Kunst gleichsam „den Geist von 291“.
Die 1916 von Alfred Stieglitz ausgestellten Kohlezeichnungen von Georgia O’Keeffe zeugen von ihrer Herkunft aus einer vom Naturalismus und Vitalismus des Jugendstils geprägten Tradition. Diese hatte sie in ihrer frühen Ausbildung in Chicago entdeckt und aufgesogen. Die Ausstellung beginnt daher mit der Kohlezeichnung „Early Abstraction“ (1915, Milwaukee Art Museum), deren abstrakte Spiralform als ein Symbol für das Wachsen und die Bewegung in der Natur verstanden werden kann. Ende der 1910er Jahre hatte sie sich in ihrer Kunst sowohl an die Erotik in den Aquarellen von Auguste Rodin als auch an die formale Synthese, an die Richtung zur Abstraktion eines Arthur Dove, orientiert.
Die Aquarelle aus Texas, wo sie von 1912 bis 1914 und erneut von 1916 bis 1918 lehrte, sind von den Bewegungen der Sterne und den unendlichen Weiten des Weltalls inspiriert. Erst 1917 wagte sich die Künstler in den Bereich der Buntfarbe vor, als sie mit „Evening Star No. VI“ (1917), den Sonnenuntergang in Texas in eine vitalistische Komposition verwandelte. In ihren Landschaften verband sie das pantheistische und erhabene Gefühl der ersten Landschaften der amerikanischen Schule – Frederic Edwin Church, Albert Bierstadt – mit dem „Transzendentalismus“ der Schriften des Dichters und Philosophen Ralph Waldo Emerson. Damit orientierte sich die junge Malerin an der „nationalen“ Landschaft, am Mythos des „wilden“ Landes und an der Weite der USA. Intellektuell und bildkünstlerisch bewegte sich O’Keeffe im Zentrum des Stieglitz-Kreises, in dem Walt Whitman als „amerikanischer Prophet“ gepriesen und eine genuin „amerikanische“ Kunst gefordert wurde.
Ende 1911 entdeckte Georgia O’Keeffe in der Zeitschrift „Camera Work“ die Übersetzung eines Auszugs aus „Das Geistige in der Kunst“, das Wassily Kandinsky wenige Monate zuvor in München veröffentlicht hatte. Für sie stand fest, dass es in der modernen Kunst zwei Pfade gab:
Erst 1918 begann Georgia O’Keefe in Öl zu malen und verarbeitete die Eindrücke der texanischen Natur (incl. Stürme) in kraftvolle Abstraktionen. Die Gemälde, die Georgia O’Keeffe 1919 schuf, zeigen durch ihre organische Abstraktion und biomorphe Formen, dass sie sich in ihrer Kunst eine Entsprechung für Musik wünschte – wie sie es bei Kandinsky gelesen und bei Marsden Hartley, Max Weber und Arthur Dove kennengelernt hatte. Drei Jahre zuvor hatte sie als Studentin von Arthur Wesley Dow an der Columbia University zufällig an einem Kurs teilgenommen, der sie inspirierte Linien wie Klänge zu behandeln. Die Farben erklärte sie mit „ihrer eigenen Melodie“1.
Von Anfang an interpretierte Stieglitz ihre abstrakten Werke als Ausdruck ihrer weiblichen Sexualität und präsentierte bzw. fotografierte sie entsprechend seiner Deutung. Vermutlich durch seine Lesart bestärkt, beschrieben die Kritiker, die O‘Keeffes Werke 1923 entdeckten, sie ebenso als „herrlich weibliche“ Kunst. Auf die Frage nach ihrer „Abstraktion“ antwortete O'Keeffe häufig, dass sie immer überrascht war zu sehen, wie Menschen Abstraktion von Realismus trennten. Abstraktion war für sie nur ein Mittel, die Trennlinie zur realistischen Malerei sah die Künstlerin nicht scharf gezogen und auch nicht dogmatisch. Stattdessen verband sie beide Herangehensweisen auf kreative Weise, und erzeugte in so manch „realistischer“ Darstellung einer Landschaft oder eines Beckenknochens den Eindruck einer „abstrakten“ Komposition.
Abstraktion und Repräsentation waren für O’Keeffe weder Zwillinge noch Gegensätze. Die Amerikanerin bewegte sich frei von einer zum anderen Ausdrucksweise und wusste, dass jede Kunst in einer ihr zugrundeliegenden abstrakten formalen Erfindung verwurzelt ist. Für O'Keeffe bot die Abstraktion eine Möglichkeit, unbeschreibliche Gedanken und Empfindungen zu kommunizieren. Wie sie 1976 sagte: „Die Abstraktion ist oft die eindeutigste Form für das Immaterielle in mir, die ich nur in Farbe klären kann.“ Durch ihre persönliche Sprache der Abstraktion versuchte sie, (wie sie in einem Brief von 1916 an Alfred Stieglitz anvertraute) „Dingen, die ich fühle und sagen möchte – [aber] keine Worte dafür habe“, visuelle Form zu geben. Die Abstraktion ermöglichte es ihr, immaterielle Erfahrungen auszudrücken – sei es eine Qualität von Licht, Farbe, Ton oder Reaktion auf eine Person oder einen Ort. Wie O'Keeffe es 1923 definierte, war es ihr Ziel als Malerin,
„das Unbekannte bekannt zu machen. Mit unbekannt meine ich das, was der Person so viel bedeutet, dass sie es ablegen möchte – etwas klären, das sie fühlt, aber nicht klar versteht.“
Ab 1920 verbrachten Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz ihre Zeit zwischen New York und Lake George im Staat New York, wo die Familie Stieglitz ihren Urlaub verbrachte. O'Keeffe malte abwechselnd die Dynamik von Himmel und Wasser, Früchte und Blätter, aber auch die Wolkenkratzer, die sie aus den Fenstern des Shelton Hotels betrachten konnte, in dem sie mit Stieglitz lebte (den sie 1924 geheiratet hatte). Ihre Bilder zeugen von ihrem großen Interesse an den Künstlern der „Gallery 291“: Sie studierte den Naturalismus von Arthur Dove oder John Marin, die geradlinigen Formen, plane Oberflächen, die aus dem industriellen und urbanen Amerika destilliert wurden. Die Scheunen, die sie in Lake George malte, verbinden ihre Kindheitserinnerungen mit den kristallinen Formen des Kubismus (siehe Charles Demuth und Charles Sheeler). In Manhattan begeisterte sich O’Keeffe für Wolkenkratzer, während sie in Texas die Kraft des Kosmos aufsog. Ihre Gebäude bilden unter dem Sternengewölbe riesige „Schluchten“, sie werden zu steinernen Riesen, die von der Sonne überblendet – „East River from the Shelton Hotel“ (1928, The Metropolitan Museum of Art, New York) – oder vom Mondlicht in gigantische Schatten verwandelt werden.
Georgia O'Keeffe wurde bald von den renommiertesten amerikanischen Institutionen für moderne Kunst anerkannt und stellte ihre Werke 1928 im MOMA aus. Nach einer Zeit in New York hielt sich O'Keeffe mehrmals in New Mexico auf, wo sie ein gleißendes Licht entdeckte und Muster, die ihren Vorlieben für klare und synthetische Formen entgegenkam. Die Malerin ließ sich 1949 endgültig in New Mexico nieder, malte Landschaften, die sie geschickt anthropomorphisierte, und Formen, die von Metamorphosen des Lebens und der Natur-Zyklen zeugen.
Während Georgia O’Keeffe seit 1919 realistisch Blumen malte, beginnend mit Callas, entdeckte sie 1923 bei einem Besuch bei Charles Demuth mit dessen seit 1905 entstandenen Blumenbilder. Diese Begegnung bestärkte die Künstlerin grundsätzlich in der Wahl des Motivs, jedoch stellte sie ab diesem Moment die Forderung an sich, dass sie Blumen nur durch eine persönliche, völlig originelle Behandlung weitermalen konnte.
Zwei Jahre später, ab 1925, stellte sie ihre Blumen in einer nahen Betrachterstandpunkt dar. Diese Verlagerung zur „Nahaufnahme“ erfolgte unter dem Einfluss des fotografischen Bildes und der Aufmerksamkeit für die Phänomenologie der modernen Stadt. Inspiriert von der Verwendung des „Blow-Up“, das einer neuen Generation von Fotografen aus dem Umkreis von Alfred Stieglitz – darunter Paul Strand, Edward Weston, Ansel Adams und ihre Straight Photography – praktizierten, griff sie auf neue „Rahmen“ zurück:
„In den 1920er Jahren scheinen riesige Gebäude in New dramatisch zu wachsen York City über Nacht. In diesem Moment sah ich ein Gemälde von Fantin-Latour, ein Blumenstillleben, das ich sehr schön fand, aber ich verstand, dass, wenn ich so kleine Blumen malte, niemand darauf achten würde, weil ich unbekannt war. So kam mir die Idee, sie wie riesige Gebäude im Bau zu erweitern.“2
Vergrößerungen und Nahsicht hatten eine Intensivierung der formalen Lösungen und Emotionen zur Folge. Zunächst räumte die Malerin ein, dass sich ihre Kunst „in erster Linie mit weiblichen Gefühlen“ beschäftigen würde, bald bestritt sie jedoch energisch die obsessiv „erotische“ Lesart, die Kritiker ihren Blumen entlockten.
Das Leben in seiner Bewegung, seinen Zyklen ist das wichtigste, und vielleicht auch das einzige Thema der Malerei von Georgia O’Keeffe. Das Wachstum einer Pflanze, das Aufblühen einer Blume sagen für sie so viel über das Leben aus wie die Spirale einer toten Muschel oder die gebleichten Knochen eines Rindes. Um den Kreislauf des Lebens zu beschreiben, verband Georgia O’Keeffe in demselben Gemälde ein Blatt und eine Muschel, einen Totenkopf und eine Blume. In New Mexico spürte sie diese Kontinuität des Lebenszyklus:
„Ich habe ein paar gebleichte Knochen mitgebracht und sie zu meinen Symbolen der Wüste gemacht [...]. Die Knochen scheinen sich in das Herz dessen einzuschneiden, was in der Wüste zutiefst lebendig ist.“
Im Jahr 1943 malte Georgia O‘Keeffe zum ersten Mal einen Beckenknochen, den sie bei einem ihrer Spaziergänge in der Wüste gefunden hatte. Zum einen lässt sich der weiße Knochen als Metapher des Kriegs deuten, zum anderen zeigt die Malerin den Himmel durch den sie auf Armeslänge hochgehaltenen Knochen. Nahezu prophetisch mutet eine Aussage der amerikanischen Künstlerin angesichts des Blaus an, „dieses Blau, das immer da sein wird, so wie es jetzt ist, auch wenn die Menschen mit ihrer Zerstörung fertig sind“.
Nach jahrelanger Suche nach einem für sie passenden Ort besuchte Georgia O’Keeffe 1929 erstmals New Mexico. Sie schrieb an den Kritiker Henry McBride:
„Endlich fühle ich mich an meinem Platz – endlich finde ich mich selbst.“
Ein paar Jahre später kaufte sie die Ghost Ranch, ein abgelegenes Haus, umgeben von der Wüste. Georgia O‘Keeffe entdeckte ein Land, das „ein dunkles und bitteres, bitteres Erwachen in die ferne Vergangenheit hereinlässt“, das der indianischen Tänze, an denen sie teilnahm, das mit der Erinnerung an eine Katholizität verbunden ist, die von der Strenge der Bruderschaft der Büßer geprägt ist. Bei mehreren Gelegenheiten nahm O‘Keeffe die Kachina-Puppen als Vorbild, mit denen Hopi-Indianer kleinen Kindern ihre Mythologie beibringen.
In der Übernahme der Landschaften aus New Mexico in ihre Motivwelt vermenschlichte Georgia O‘Keeffe deren Formen. Sie verwandelte die geologischen Spuren in Ecken, Falten, Fältchen einer Haut und deren Reliefs in anatomisch wirkende Elemente. Die Künstler suchte eine nahezu körperliche Verbindung zu der sie umgebenden Landschaft, wenn sie sich wünschte, sich auszuziehen, um sie auf die sanften Hügel und die gute Erde zu legen.
Die Einfühlung in diese Landschaften führte die Malerin dazu, in ihren Bildern die von ihrer Stimmungen diktierten Farbtöne zu übernehmen. So erinnert das Werk „Black Place I“ (1944, San Francisco Museum of Modern Art, San Francisco) – benannt nach O’Keeffe nach einer ihrer Lieblingslandschaft im Navajo-Land –an eine trostlose Mondlandschaft – während des Zweiten Weltkriegs an ausgebombte Landschaften, die O’Keeffe in Zeitungen gesehen hatte. Die ferne, neu-mexikanische Landschaft wird so zu einem Spiegelbild der Dramen ihrer Gegenwart.
Georgia O'Keeffes Werk aus den 1950er und 1960er Jahren zeichnet sich durch einen Hang zur Vereinfachung aus. Die Malerin arbeitete kontinuierlich an der formalen Synthese, die ihre Kunst mit der künstlerischen Forschung der jüngeren Generation verband: Die Frontalität und Symmetrie ihrer Motive wurde von Künstler:innen der Farbfeldmalerei wie Kenneth Noland bewundert. In den späten 1960er Jahren zogen Kritiker Vergleiche zwischen den eiförmigen Formen und gesättigten Farben von Ellsworth Kellys Frühwerk und O’Keeffes Bildern von Beckenknochen. Die Abstraktion, der sie ihre Motive unterwarf, übersetzt Spiritualität und ein Gefühl von Mystik, mit dem die Künstlerin sie verband.
Die Faszination O’Keeffes für eine Tür, die sich auf den Innenhof seines Hauses in Abiquiú öffnet, lässt eine Variation entstehen, die man zusammenfassen kann als seine Reflexionen über Licht und Schatten, über das Verhältnis von Leere und Fülle – Prinzipien, die ihre Kunst immer wieder nährten. Die Flughöhe zahlreicher Flugreisen inspirierte O'Keeffe buchstäbliche zu neuen Sujets: Flussbetten, die Form von Ästen, Bäumen oder Tieren, Wolken. Letztere versöhnen – von oben wie auch am Horizont betrachtet – Himmel und Erde.