Sonia Delaunay (Hradysk 14.11.1885–5.12.1979 Paris) war eine bedeutende Künstlerin der Abstraktion, Modedesignerin und mit ihrem zweiten Ehemann Robert Delaunay (1885–1941) eine Förderin der Abstrakten Kunst in Form des Simultanismus (Orphismus). Die Avantgardistin verstand es, ihre ästhetischen Ideale auf Alltagsgegenstände, vor allem Kleidung, zu übertragen, was sie vom Werk ihres Mannes deutlich unterschied. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs flohen beide 1917 nach Madrid, wo Sonia Delaunay eine Boutique eröffnete und die avantgardistische Farbtheorie und Kunstästhetik erstmals in Form von verkaufbarer Mode, Möbel und Bühnendesign ein breites Publikum fanden.
Spanien | Madrid: Museo Thyssen-Bornemisza
4.7 – 15.10.2017
Dennoch ist in der öffentlichen Wahrnehmung Robert Delaunay präsenter als seine Ehefrau. Dafür ist zum einen die Unterordnung Sonia Delaunays unter das Werk ihres Mannes mitverantwortlich. Die Erziehung des gemeinsamen Kindes lag größtenteils in ihren Händen, zudem sicherte sie mit ihren kunstgewerblichen Arbeiten den Lebensunterhalt der Familie. Da erst in jüngster Zeit der multimediale Anspruch der Avantgarde herausgearbeitet und Kunsthandwerk neu bewertet wird, ist es auch der aktuellen Kunstgeschichtsschreibung zu verdanken, Positionen wie jene von Sonia Delaunay zu überdenken und wiederzuentdecken.
Die Ausstellung im Museo Thyssen-Bornemisza ist die erste Einzelausstellung der Künstlerin in Spanien und versammelt mehr als 200 Exponate von Gemälden, Entwürfen, Bühnenbildern, Werbung, Einrichtungsgegenständen und Mode1 Einhundert Jahre nach der Flucht des berühmten Ehepaares nach Madrid (1917) zollt die Stadt Sonia Delaunay Tribut für die Propagierung avantgardistischer Konzepte. Gleichzeitig erwies sich der Madrid-Aufenthalt für die Künstlerin als prägend.
Sonia Delaunay kam 1885 als Tochter einer jüdischen Mittelklassefamilie in Odessa zur Welt. Da sie von einem Onkel mütterlicherseits in St. Petersburg adoptiert wurde, erhielt sie jedoch früh Förderung und eine kosmopolitische Erziehung. Als 19jährige begann Sonia Terk, wie sie seit ihrer Adoption hieß, ein Kunststudium in Karlsruhe (1904), das sie zwei Jahre später in Richtung Paris abbrach. Die Stadt an der Seine versprach nicht nur Aufbruchsstimmung, sondern wurde für Sonia zum Lebensmittelpunkt. Anstatt die Pariser Académie de La Palette in Montparnasse zu besuchen, streunte sie viel lieber durch die Galerien und Ausstellungen von Paris. Die Avantgarde der Zeit inspirierte die junge Malerin zutiefst: Frühe Gemälde zeigen den Einfluss der Post-Impressionisten Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Henri Rousseau, aber auch bereits der Fauves (→ Matisse und die Künstler des Fauvismus). Bereits 1908 stellte Sonia Terk erstmals in der Galerie des deutschen Kunsthändlers Wilhelm Uhde aus. Um in Paris bleiben zu können, heiratete sie den homosexuellen Galeristen, der ihr den Kontakt zu den Avantgarde-Künstlern (→ Klassische Moderne) herstellte. Unter den neuen Bekannten waren nicht nur Pablo Picasso und Georges Braque, sondern auch Robert Delaunay, den Sonia 1910 nach ihrer Scheidung von Uhde ehelichte.
Anfang 1909 traf Sonia Terk erstmals Robert Delaunay, der seine Mutter Comtesse de Rose häufig in Uhdes Galerie begleitete. Im April wurden die beiden ein Liebespar, und im August die Scheidung ausgesprochen. Ab ihrer Hochzeit am 15. November 1910 bildeten das Ehepaar Sonia und Robert Delaunay einen Fixstern in der Kunstszene der Stadt. Die beiden standen in künstlerischem Austausch, beeinflussten und inspirierten einander im Diskurs. So könnten die leuchtenden, reinen Farben, die Sonia und Robert Delaunay in ihren Werken einsetzten, u.a. auf ihre russische Abstammung zurückzuführen sein.
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Gemeinsam mit ihrem Ehemann Robert näherte sich Sonia Delaunay um 1912 der Abstraktion an. Beide verstanden Farbe als Ausdrucksmittel und wandten sich von der Wiedergabe gesehener Dinge ab. Nachdem Robert Delaunay jahrelang Michel-Eugène Chevreuls Traktat „Über den Simultankontrast der Farben“ (1839) studiert hatte, leitete er von dessen Beobachtungen über das Verhältnis der drei Grundfarben zu den Mischfarben die Theorie des Simultanismus (Orphismus) ab. Sonia Delaunay stand ihrem Mann bei dieser Arbeit als Diskurspartnerin zu Seite, den theoretischen Text dazu verfasste jedoch nur er. Basis der gemeinsamen Ästhetik war nicht nur der Einsatz von reinen und leuchtenden Farben in Flächen (farbiges Licht), sondern auch die Überzeugung damit Bewegung illusionieren zu können. Für beide stellte Paris die simultanistische Stadt par excellence dar.
Abstrakte Malerei und die Erfahrung von Zeit ergänzte Sonia Delaunay in ihren Kompositionen durch poetische Inspiration, die sie von Dichterfreunden wie Apollinaire Guillaume, Blaise Cendrars und Canudo erhielt. Ihre häufig aus runden, bunten Formen komponierten Bilder bzw. Illustrationen scheinen zur Musik der Worte zu tanzen. Rhythmus, Formen, Farbvariationen spielen eine große Rolle in der Entwicklung dieser Bilder, was sie bei der Analyse der Lichteffekte in der Stadt studierte. Sonia Denlaunay übertrug diese Lektion auch auf literarische Texte und schuf gemeinsam mit Blaise Cendrars 1913 „Prosa über die Transsibirische Eisenbahn“ (1913, kolorierte Druckgrafik, Privatsammlung). Für das nahezu zwei Meter hohe Werk verbanden Autor und Malerin Bild, Farben, Strukturen und Text bzw. Typografie gleichberechtigt zu einem Klang-Wort-Rhythmus, bei dem sogar der Text seine Farbe ändert. Das „Buch“ entfaltet sich als vertikaler Leporello, den die Leserinnen und Leser simultan farbig erfassen. Während die Verse in Absätze gegliedert sind, greifen Sonia Delaunays farbige Formen ineinander und vermitteln so den Eindruck ständiger Bewegung einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn.
„Donnerstags und sonntags sollte man sich im „Bal Bullier“ Herrn und Frau Robert Delaunay ansehen, die eine Kleiderform vorführen. Der simultane Orphismus hat im Bereich der Kleidung Neuerungen hervorgebracht, die nicht zu verachten sind […]. Herr und Frau Delaunay sind Wegbereiter. Sie belasten sich nicht mit der Imitation vergangener Moden, und da sie auf der Höhe der Zeit sein wollen, versuchen sie gar nicht, die Form des Kleiderschnittes zu erneuern und so der zeitgenössischen Mode zu folgen, sondern sie versuchen dadurch Einfluss zu nehmen, dass sie neue, in ihrer Farbgebung unendlich variierte Materialien verwenden […]. Und hier die Beschreibung eines Simultankleides von Frau Sonia Delaunay Terck: violettes Kostüm mit breitem violetten und grünem Gürtel, und unter der Jacke eine in lebhafte, zarte und verblichene Farbfelder unterteilte Bluse, wo sich Altrosa, Orange, Nattier-Blau, Scharlachrot usw. vermischen, und auf Tuch, Taft, Tüll, Flanell, Moiré und Seidenrips erscheinen. Eine solche Vielfalt muss auffallen. So würde Eleganz phantasievoll.“2 (Guillaume Apollinaire)
Im Gegensatz zu ihrem Ehemann begnügte sich Sonia Delaunay aber nicht mit der Malerei, sondern suchte Kunst und Leben miteinander zu verbinden, indem sie sich anderen Disziplinen öffnete. Die multimedial arbeitende Künstlerin interessierte sich für Stickerei, Inneneinrichtung und Modedesign.
Eine Tagesdecke für das Gitterbett ihres Sohnes soll das erste simultane Kunstwerk gewesen sein. Der Decke folgten eine bemalte Spielzeugschachtel, Bucheinbände und Kleidungsstücke, die Sonia Delaunay selbst nähte. In diesen Arbeiten konnte die russischstämmige Künstlerin ihre modernen Experimente mit russischer Volkskunst verbunden. Schlussendlich stand aber ihr Wunsch dahinter, den Simultanismus (Orphismus) populär zu machen. Da sich sonntags in der Wohnung der Delaunays Künstler und Intellektuelle trafen, wurden ihre vier Wände zu einer ersten Kunstgalerie der Abstraktion. Bereits am Berliner Herbstsalon 1913 war sie mit Gemälden, Werbung, Bucheinbänden und Haushaltsgegenständen vertreten – daneben stellen Robert Delaunay, Marc Chagall, Max Ernst, Lyonel Feininger, Franz Marc und Paul Klee aus.
Das „Simultanistische Kleid“ sollte das Publikum mit der neuen Ästhetik vertraut machen. Mit ihren gewagten Mischungen von Farben und Texturen wurde das Ehepaar zu „Reformern des guten Geschmacks“ und verursachten so manche Sensation. Gleichzeitig schuf Sonia Delaunay weiterhin Gemälde, die zu ihren besten zählen, wie die „Prosa über die Transsibirische Eisenbahn“ (1913, Privatsammlung).
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befanden sich die Delaunays gerade auf Urlaub in Spanien. Ende des Jahres entschied sich das Ehepaar sich in Madrid niederzulassen. Da sie von der Pariser Avantgarde abgeschnitten waren, wandte sich Sonia Delaunay dem Studium der Alten Meister zu. Schon 1915 war sie als Kopistin im Louvre eingetragen. Darüber hinaus interessierte sie sich für die Kleider der Flamenco-Sängerinnen und Tänzerinnen, wodurch sich die Avantgardistin wieder der Figuration zuwandte. Dieses Jahr in Madrid wurde für Sonia Delaunay eines der wichtigsten, weil freiesten und experimentellsten ihrer Kunst – zumindest solange bis zur russischen Oktoberrevolution das Geld aus St. Petersburg geschickt wurde. In dieser Phase legte sie den Grundstein für ihre künstlerische Entwicklung der 1920er Jahre.
Im Sommer 1915 lud eine Gruppe Futuristen die Delaunays nach Portugal ein. Das Dorf Vila do Conde im Norden des Landes wurde für kurze Zeit ihre neue Heimat. Nichtsdestotrotz führte Sonia Delaunay ihre Spanienliebe weiter mit sich, wie „Großer Flamenco“ (1915/16) and „Kleiner Flamenco“ (1916).
Nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Russland, durch die der konstante Geldfluss aus St. Petersburg eingestellt wurde, eröffnete Sonia Delaunay eine Boutique für Mode und Möbel. Zudem begann sich die Künstlerin mit Bühnenbild und Kostümen zu beschäftigen, da sich auch der russische Emigré Sergei Diaghilev nach Spanien geflüchtet hatte. Es ist somit ihr Verdienst, dass die Theorie des Simultanismus (Orphismus) erstmals und erfolgreich einem breiten Publikum vorgestellt wurde.
Bühnenkreationen wie die Kostüme für „Kleopatra“ (1918, Uraufführung in London) für das Ballets Russes, der Umbau des alten Teatro Benavente zum Petit Casino in Madrid (1919, Fotografien) und die Eröffnung ihrer Boutique machten aus der Avantgardekünstlerin rasch eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Wenn Sonia Delaunay auch 1921 wieder nach Paris zurückkehrte, so stellten doch diese Jahre in Madrid, wie die Ausstellung hervorhebt, eine wichtige Wendezeit im Leben der Künstlerin dar.
Während ihres Aufenthalts in Madrid schloss das Ehepaar Delaunay viele Kontakte zu Schriftstellern wie Ramón Gómez de la Serna und Guillermo de la Torre. Auch nach ihrer Rückkehr nach Paris 1921 und vom Geist des Dadaismus eingenommen, dekorierte Sonia Delaunay die Wände ihres Hauses mit Gedichten von ihren vielen Schriftstellerfreunden, darunter Gómez de la Sernas „Fächer-Gedicht” (1922). Dazu kamen Designs für so genannte „Kleider-Gedichte”. Kleider aus Stoffen, die Texte oder Gemälde von Sonia Delaunay trugen, waren Anfang der 1920er Jahre die Eintrittskarte, um mit Künstler des Dadaismus und des Surrealismus zusammenzuarbeiten. Theater- und Filmprojekte dieser Zeit sind u.a. „Le P’tit Parigot“ (1926) von Le Somptier.
Sonia Delaunay feierte gleichzeitig mit ihrer Teilnahme an der Ausstellung dekorativer Kunst 1925 in Paris, besser bekannt als Art-Deco-Ausstellung, einen riesigen Erfolg. Eine Folge war ihre Zusammenarbeit mit dem holländischen Warenhaus Metz & Co., die bis in die 1950er Jahre andauerte. Zahllose Entwürfe für Muster und Designs sowie die ausführliche Korrespondenz mit dem Erzeuger geben einen Einblick in den kreativen Prozess der Modegestaltung. Die aufkommende Modefotografie wusste die aufgeschlossene Künstlerin genauso einzusetzen wie ein Farbvideo aus dem Jahr 1925, mit dem sie ihre Entwürfe bewerben wollte.
Robert und Sonia Delaunay bewegten sich Ende der 1920er Jahre weiterhin in der Pariser Avantrgarde, wobei sie vor allem das Ehepaar Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp befeundeten. Wie sie arbeiteten die Arps an Konkreter Kunst und vermittelten den beiden auch die Gruppierung Abstraction-Création, der Sonia 1931 auch beitrat.
Im Jahr 1937 nahm Sonia gemeinsam mit Robert an der Dekoration von zwei großen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris teil: Im Eisenbahn-Pavillon ließ Sonia Delaunay ihre Reise auf die Iberische Halbinsel Revue passieren, wodurch die dieser Phase in ihrem Leben einmal mehr Bedeutung verlieh. Nach Robert Delaunays Krebs-Tod 1941 setzte Sonia ihre Arbeit und den Kampf für die Abstrakte Kunst fort. Im Jahr 1964 wurde sie als erste lebende Künstlerin mit einer Retrospektive im Musée du Louvre geehrt – nachdem sie etwa einhundert ihrer und Roberts Werken dem Museum geschenkt hatte. „Farbiger Rhythmus Nr. 694“, „Rhythmus Farbe“ (1964) und „Horizontales Mosaik“ sind drei der spätesten Abstraktionen in Sonia Delaunays Werk.
Kuratiert von Marta Ruiz del Árbol
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