Yoshitomo Nara: japan. Künstler der Gegenwart | ARTinWORDS baji999 live baji999 apps baji999 app baji999 live sign up

Yoshitomo Nara

Wer ist Yoshitomo Nara?

Yoshitomo Nara, japanisch 奈良 美智 (*5.12.1959, Hirosaki) ist ein japanische Künstler der Gegenwart (→ Zeitgenössische Kunst). Seit den 1990er Jahren erzielt er mit den sogenannten Angry Girls, stark stilisierten Mädchendarstellungen mit großen Augen, grimmigem Blick, Messer in der Hand oder lauthals schimpfend, internationale Aufmerksamkeit. Sie erinnern an die Ästhetik von Comics und Cartoons, reichen von der rotzig-frechen Göre bis zu naiv und lieblich wirkenden Charakteren. Doch tatsächlich verbirgt sich hinter den auf den ersten Blick naiv oder vielleicht sogar niedlich erscheinenden Wesen Aggression, Trotz und Widerstand.

„In meinem Fall geht es nicht um das Land oder die Leute oder Kategorien. Ich versuche nur, einzelne Dinge auszudrücken, also wird meine Arbeit für Leute, die Dinge auf dieser Ebene verstehen wollen, wahrscheinlich Anklang finden. Grundsätzlich ist mein Ansatz, dass es egal ist, ob es da draußen ein Publikum gibt. Selbst wenn ich wüsste, dass da draußen niemand meine Arbeit ansehen würde, würde ich immer noch genau das Gleiche machen.“1 (Yoshitomo Nara in Ocula, 2016)

 

Kindheit

Yoshitomo Nara, japanisch 奈良 美智, wurde am 5. Dezember 1959 in Hirosaki (Präfektur Aomori) im Norden Japans geboren. Da beide Elternteile berufstätig waren, und sich auch seine beiden deutlich älteren Brüder nicht um ihn kümmerten, verbrachte Nara viel Zeit allein. Die ihm zugelaufenen Katze Chako leistete ihm Gesellschaft. Yoshitomo Nara verbrachte einen Großteil seiner Freizeit mit japanischen Comics und erinnerte sich später:

„Ich war einsam, und Musik und Tiere waren ein Trost. Mit Tieren konnte ich ohne Worte besser kommunizieren als verbal mit Menschen.“

Irgendwann stieß er im Radio auf den Sender einer nahegelegenen amerikanischen Air Base und lernte dadurch Country- und Rockmusik kennen. Seither begeistert sich Yoshitomo Nara für Musik. Im Alter von acht Jahren kaufte er sich eine erste LP, ein Album der japanischen Band „Takeshi Terauchi And The Bunnys“. Später gab er sein Geld lieber für Schallplatten als für Schulmittagessen oder Lehrbücher aus. Ohne von den englischsprachigen Songs auch nur ein Wort zu verstehen, versuchte er sich anhand der Plattencover einen Reim auf deren Inhalt zu machen. Er begann sich Inhalte auszudenken oder diese durch Wortmelodie, Klang und Rhythmus zu erfassen.

 

Ausbildung

Nara studierte ab 1980 an der Aichi Prefectural University of Fine Arts and Music, Nagakute, und von 1988 bis 1993 an der Kunstakademie Düsseldorf.

Der Künstler war fasziniert von Neo-Expressionismus und Punkrock. Beide Bewegungen, ergänzt durch Folk Music, prägten seinen künstlerischen Stil.2 Im Jahr 1994 ließ er sich in Köln nieder und begann, japanische und westliche Populärkultur in seine Arbeit einzubeziehen. Erst 2000 kehrte Nara wieder nach Japan zurück, um seine Einzelausstellung „I DON’T MIND, IF YOU FORGET ME“ (2001) im Yokohama Museum of Art vorzubereiten.

 

Werke

Yoshitomo Nara nutzt die Erfahrung von Einsamkeit für seine Kunst. Nicht nur als Kind, sondern auch als Erwachsener in Deutschland, wo er zwölf Jahre lebte, konfrontierten ihn mit dem Gefühl von Fremdheit und Einsamkeit. In Düsseldorf führte er Selbstgespräche mit seinem achtjährigen Ich in Aomori. Diese Situation führte dazu, dass Nara das kleine, trotzige Kind als Trägerin seiner Geschichten erfand. Sie beansprucht seine ganze Aufmerksamkeit und drängte zunehmend den Hintergrund zurück. In ihrer unkontrollierten Emotionalität fordern Naras Mädchen Reaktionen heraus – und spielen mit ihrer Kindlichkeit. Quellen für seine Kunst finden sich sowohl in japanischen Mangas als auch Comics, aber auch in Theatermasken der Gottheiten Otafuku und Okame.

„Ich sehe die Kinder irgendwie unter anderen, größeren, bösen Menschen um sie herum, die größere Messer in der Hand halten.“

Yoshitomo Nara arbeitet auf den unterschiedlichsten Papiersorten – liniertem Notizpapier, Papierfetzen, Umschlägen, Einladungskarten, Kalendern, Plakaten oder Wellpappe. Das Papier dient ihm manchmal als Inspiration, auf die er sich formal und nicht inhaltlich nicht bezieht. Ähnlich wie er in seinen Gemälden von einer schwarz oder rot grundierten Leinwand ausgeht und diese immer wieder, Schicht für Schicht, übermalt, überarbeitet er auch für seine Zeichnungen das bedruckte Briefpapier, das adressierte und mit Briefmarken beklebte Kuvert in mehreren Durchgängen.

Bis heute nutzt Nara Musik als Inspirationsquelle. Elsy Lahner beschreibt den Arbeitsrhythmus des Künstlers wie folgt:

„Wenn er abends in sein Atelier geht, dreht er zunächst laut Musik auf und beginnt dann ohne einen zuvor gefassten Plan zu arbeiten. Seine Werke, vor allem seine Zeichnungen, sind im Grunde Visualisierungen dessen, was ihm beim Hören durch den Kopf geht, wobei sie aus der Emotion des Moments heraus entstehen. Häufig finden sich daher auch Songtitel oder einzelne Textzeilen in seinen Werken wieder, die zu Fragen, Statements oder Lebensweisheiten seiner Protagonistinnen werden. ‚Willst du wirklich immer Hippie bleiben?‘“3

2004 erreichte die Nachfrage nach seinen Werken auf dem Kunstmarkt einen ersten Höhepunkt. Seither schafft Nara auch Installationen in Form von kleinen Häuschen oder Hütten, in deren Innerem er eine Ateliersituation nachstellt. „My Drawing Room“ von 2008 insinuiert einen Zeichenraum wie auch einen Rückzugsort. Dorthin geht der Künstler zum Arbeiten, dort entflieht er dem Trubel und stellt sich der für sein Schaffen notwendigen Einsamkeit. Das an der Wand aufgehängte Schild „A Place like Home“ verbindet den Arbeitsraum mit dem Heim.  Auf Tisch und Boden sind Zeichnungen verstreut, dazwischen finden sich Gegenstände wie Spielzeug und andere kleine Figuren, eine Schneekugel, Kalender, Landkarten, gerahmte Bilder, handbeschriftete CDs und eine Vielzahl an Stiften. Die Musik, die gespielt wird, ist jene, die der Künstler sonst auch beim Arbeiten hört. Damit offenbart Nara einen Kosmos an Dingen, die sein Schaffen beeinflussen, und gibt zugleich einen (konstruierten) Einblick in sein Inneres.

Im Jahr 2002 reiste Yoshitomo Nara nach Afghanistan. Danach schuf er Zeichnungen, die sich stilistisch von seinen anderen Werken unterscheiden. In ihnen schildert er die Eindrücke von dem durch den jahrelangen Bürgerkrieg geprägten Landes. Totenköpfe und Bomben, Tod und Trauer bleiben auch in der Folge in Naras Werken präsent.

Das große Tōhoku-Erdbeben an der Pazifikküste Japans mit dem dadurch ausgelösten Tsunami sowie der Nuklearkatastrophe von Fukushima verwüsteten zwischen dem 12. und 15. März 2011 den Lebensraum von ca. 100.000 Menschen. Nara, der zu dem Zeitpunkt in der Nähe von Fukushima wohnte und die von den Schäden betroffenen Regionen auf dem Weg zu seiner Mutter in Aomori durchquerte, war von Trauer und Hilflosigkeit überwältigt. Er fühlte sich außerstande zu malen und zweifelte daran, dass seine Kunst einen sinnvollen Beitrag zur Aufarbeitung leisten könne. Als er wieder zu arbeiten begann, realisierte er Projekte mit Kindern und schuf erstmals große Tonskulpturen, für die er das Material grob mit den Händen bearbeitete. So zeigen die gegossenen Bronzefiguren die Bearbeitungsspuren und die Abdrücke von Naras Händen.

„Ich denke, was an den Künstlern, die vom Erdbeben betroffen waren, anders ist, ist, dass ich in Aomori aufgewachsen bin, das an der Grenze zu Fukushima liegt. Das ganze Gebiet zwischen uns und Fukushima war verwüstet; die ganze Szenerie, die ich kannte, wurde zerstört. Für einige Leute ohne Bezug zu der Gegend mögen sie als Künstler betroffen sein, aber in meinem Fall war ich auf persönlicher Ebene viel mehr betroffen, weil ich Leute kenne, die verloren gegangen sind.“ (Yoshitomo Nara, 2016)

 

Nara und Murakami

Takashi Murakami proklamierten im Jahr 2000 die japanische Kunstrichtung Superflat, die auf die Konsumgesellschaft Japans Bezug nimmer. Der amerikanischen Pop Art vergleichbar, verbindet die Ästhetik von Superflat anti-hierarchisch Hochkultur mit Subkultur und Alltagskultur. Sie verwenden leuchtende Farben, Muster und japanische Cartoon-Motive, um die hypervermarktete und hyperkonsumistische Kultur des Landes zu untersuchen – wird der doch von der japanischen Jugend zunehmend misstraut.

Während jedoch Murakamis Schaffen und dasjenige anderer Superflat-Artists, darunter Chiho Aoshima, die namensgebende Flachheit zudem als Stilmittel in ihren Arbeiten einsetzen, ist Naras Werk differenzierter. Bei ihm dient das oberflächliche kawai (japanisch für: süß, klein, unschuldig, mitleiderregend, unbedeutend) als Mittel zum Zweck. Dadurch will der Künstler mit dem Publikum in Kontakt treten, es zu einer Reaktion provozieren.

Obschon Yoshitomo Naras Kunst an japanische Mangas und Comics in Verbindung gebracht werden (können), verweist der Künstler selbst immer wieder auf westliche Quellen. Er kann sich vor allem für die italienische Kunst der Protorenaissance – darunter Giotto di Bondone und Piero della Francesca – begeistern:

„Insbesondere liebe ich die transluzenten Farben in den Arbeiten von Giotto und Piero della Francesca. Die Oberfläche und die Technik der Freskomalerei eröffnen einen Bildraum, in den ich leicht eintauchen kann […]. Ich liebe auch Giottos Tafelbilder, da ich in ihnen die Kraft eines Tiefgläubigen spüre.“4

 

Literatur zu Yoshitomo Nara

  • Yositomo Nara. All My Little Word, hg. v. Elsy Lahner (Ausst.-Kat. Albertina modern, Wien, 10.5.–1.11.2023), Wien 2023.
  • Yoshitomo Nara. Self-Selected Works – Works on Paper, Kyoto 2022, S. 151.
  • Yoshitomo Nara, London 2022.
  • Yeewan Koon, Yoshitomo Nara, London 2020.
  • Yoshitomo Nara, hg. von Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles 2020.
  • Jane Harris, Yoshitomo Nara, in: Vitamin 7. Neue Perspektiven in der Zeichnung, Berlin 2006, S. 218–219.
  • Laura Hoptman, Seven. Comics and other subcultures, in: Drawing Now: Eight Propositions, hg. von David Frankel (Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art), New York 2002, S. 128–131
  • Yoshitomo Nara. Lullaby Supermarket, hg. von Manfred Rothenberger, Institut für Moderne Kunst Nürnberg in Zusammenarbeit mit Michael Zink Gallery, Nürnberg 2001
  • Stephan Trescher, Ein Porträt des Künstlers als junger Hund, S. 73–82.
  1. Zitiert nach https://ocula.com/magazine/conversations/yoshitomo-nara/ (letzter Aufruf 8.5.2023)
  2. Yoshitomo Nara, in: Financial Times, 2014.
  3. Elsy Lahner, Place Like Home, in: Yositomo Nara. All My Little Word, hg. v. Elsy Lahner (Ausst.-Kat. Albertina modern, Wien, 10.5.–1.11.2023), Wien 2023, S. 8–19, S. 11.
  4. Zitiert nach Christie’s 2017 und Linus Klumpner, Yoshitomo Nara, in: WOW! The Heidi Horten Collection, hg. v. Agnes Husslein-Arco (Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien, 16.2.–29.7.2018), Wien 2018, S. 364.