London | Tate Britain: Lee Miller Bisher umfangreichste Retrospektive in GB | 2025/26

Lee Miller, Modell mit Glühbirne, Detail, Vogue Studio, London, England, um 1943 (© Lee Miller Archives, England 2025. All rights reserved. leemiller.co.uk)
Mit der bisher umfangreichsten Retrospektive ihrer Fotografie in Großbritannien feiert die Tate Britain die Fotografin und Surrealistin Lee Miller als eine der eindringlichsten künstlerischen Stimmen des 20. Jahrhunderts. Die in Amerika geborene Miller war eines der gefragtesten Models der späten 1920er Jahre. Sie trat schnell hinter die Linse und wurde zu einer führenden Figur in den Avantgarde-Szenen in New York, Paris, London und Kairo. In London werden erstemals Millers bemerkenswerte Bilder der ägyptischen Landschaft in den 1930er Jahren präsentiert.
- Lee Miller, Modell mit Glühbirne, Detail, Vogue Studio, London, England, um 1943 (© Lee Miller Archives, England 2025. All rights reserved. leemiller.co.uk)
Lee Miller
Großbritannien | London: Tate Britain
2.10.2025 – 15.2.2026
Lee Miller 2025/26 in London
Die Tate Britain feiert die Lee Miller als furchtlos, poetisch und surreal; ihr Werk führt das Publikum auf eine turbulente Reise durch das 20. Jahrhundert. Ihr Lebensweg führte sie von New York nach Paris, von der Arbeit für die „Vogue“ zur Arbeit in der Dunkelkammer für Man Ray, von Nordafrika in den Zweiten Weltkrieg – und schlussendlich in die Badewanne von Adolf Hitler.
Lee Millers Fotografien erkundeten Porträt, Mode, Stillleben, Landschaft und Reportage, alle vereint durch ihre einzigartige künstlerische Sensibilität und das sprichwörtliche „gute Auge“ für Strukturen, Licht und Schatten, für unheimlicher Schönheit und Mehrdeutigkeit – oft mit einer humorvollen Note. Nachdem sie die Gräuel der NS-Herrschaft dokumentiert hatte, wandte sie sich den Künstlerinnen- und Künstler-Porträts zu, in denen die verehrten Damen und Herren in teils humorvollen Bildern auftreten.
Die Ausstellung zeigt Millers außergewöhnliche Karriere, von ihrer Beteiligung am französischen Surrealismus bis hin zu ihrer Mode- und Kriegsfotografie. Die Ausstellung untersucht ihre künstlerischen Zusammenarbeiten und beleuchtet auch weniger bekannte Aspekte ihrer Arbeit, wie etwa ihre.
Mit rund 250 Vintage- und modernen Drucken, darunter auch solche, die noch nie zuvor gezeigt wurden, enthüllt die Ausstellung Millers poetische Vision und ihren furchtlosen Geist. Entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen, kommentierte sie später:
„Es ging darum, sich auf einen verdammten Ast zu stellen und ihn hinter sich abzusägen.“
- 3. Lee Miller, Model Elizabeth Cowell wearing Digby Morton suit, London 1941. Lee Miller Archives © Lee Miller Archives, England 2025. All rights reserved. leemiller.co.uk.
- 1. Lee Miller, Portrait of Space, Al Bulwayeb near Siwa 1937. Lee Miller Archives. © Lee Miller Archives, England 2025. All rights reserved. leemiller.co.uk.
Lee Miller – das Fotomodel
Als Elizabeth „Lee“ Miller im Alter von 19 Jahren von Condé Nast für die „Vogue“ entdeckt wurde, stand sie bereits seit Jahren vor der Kamera ihres Vaters. Sie sei „praktisch in einer Dunkelkammer geboren und aufgewachsen“1, scherzte die Fotografin später. Anfangs modelte sich noch für ein New Yorker Kaufhaus, doch rasch wurden ihre Bilder oder auch noch gezeichnete Porträts in der „Vogue“ abgedruckt. So eroberte sie im März 1927 mit einer Porträtzeichnung des Illustrators Georges Lepape das Cover des berühmten Modemagazins. Rasch entdeckten sie auch die führenden Modefotografen der Zeit, und Lee Miller arbeitete mit Cecil Beaton, Arnold Genthe, Nickolas Muray und vor allem dem legendären Edward Steichen, dem Cheffotografen von „Vogue“ und „Vanity Fair“. Sie (und ihre Körper) stand für die emanzipierte moderne Frau – und leistete sich auch, in einer Werbung für Damenbinden der Marke Kotex aufzutreten (1928–1929). Ein berühmter Spruch von Cecil Beaton analysiert das Aussehen Millers und gleichzeitig die androgyne Ästhetik, denn sie hatte ihr helles Haar kurz geschnitten und sah „wie ein sonnengebräunter Ziegenjunge von der Via Appia aus“.2 Etwa zu dieser Zeit, so betont Kurator, begann Miller, den Namen Lee zu verwenden: spritzig, modern und unisex, brachte er ihre neue berufliche Persönlichkeit zum Ausdruck.3
Die Londoner Ausstellungsmacher betonen, wie sehr die Arbeit Millers als Fotomodel ihren weiteren Lebensweg beeinflusste. Sie selbst betonte, dass Edward Steichen, einer der wichtigsten Fotografen der Zeit, sie zu ihrer eigenen Karriere als Fotografin inspiriert habe.4 Mit seinem Empfehlungsschreiben in der Tasche reiste sie nach Paris, wo sie 1929 eine Stelle als Lehrling bei Man Ray antreten wollte. Doch war es Nast, der das Fotomodel dem Cheffotografen der französischen „Vogue“, George Hoyningen-Huene, empfahl.
Zwischen 1930 und 1934 verfasste Miller unter ihrem eigenen Namen regelmäßig Beiträge für die Zeitschriften „Vogue“ und „Harper’s Bazaar“ und bis 1932 modelte sie für die französische „Vogue“.5Lee Miller 2025, S. 44.[/ note] Damit wird erstmals deutlich, dass Lee Miller gleichzeitig als aufstrebende Fotografin, angesehenes Model, lernende Studioassistentin und geschmackvolle Autorin arbeitete. Besonders beachtenswert ist etwa „Self portrait with headband, Lee Miller Studios, Inc., New York City, 1932“, für das sich Lee Miller selbst inszenierte und in der Doppelrolle als Model und Fotografin auftrat.
Miller und Man Ray
Im Sommer 1929 zog Lee Miller nach Paris, sie sich Man Ray unangemeldet als seine Schülerin vorstellte. Über Vermittlung von Edward Steichen stürzte sich das gelangweilte Model ins Herz der Pariser Avantgarde. Man Ray war bereits ein international bekannter surrealistischer Künstler und erfolgreicher Porträt- und Modefotograf. Obschon er eigentlich keine Schülerin aufnahm, konnte ihn Miller von ihren Qualitäten überzeugen. Schnell verliebte sich das Paar und entwickelte gemeinsam sowohl künstlerische Techniken als auch surrealistische Ideen. Darüber hinaus verband die beiden eine erotische Beziehung, die sich im Fall von Man Ray bis zur Besessenheit steigern konnte.
Bereits im Jahr 1930 eröffnete Miller ihr eigenes Atelier in Montparnasse, 12 rue Victor Considérant, wo sie die folgenden zwei Jahre lebte. Bis heute wird die Künstlerin und Fotografin unterschätzt. Lee Miller war kein (passives) Modell, sondern sie teilte sich mit Man Ray Ideen, Modelle, Requisiten, Verfahren, Atelierräume und sogar Kameras, wie Hilary Floe im Ausstellungskatalog hervorstreicht.6 Man Ray und Miller arbeiteten im Team, wobei Miller hauptsächlich für die Entwicklung und Retusche der Abzüge verantwortlich zeichnete.7 Von wem aber welche Idee für ein Foto stammte, dürfte weder Miller noch Man Ray genau gewusst haben, betonte Roland Penrose, Lee Millers späterer Ehemann.8 So entstanden bedrückend erotische Aufnahmen unter anderem der nackten Lee Miller mit zurückgeworfenem Kopf, mit geschlossenen Augen, zusammengrollt wie eine Katze oder nach vorne gebeugt. Die Unschärfe der Abbildung steigert die Fragmentierung des weiblichen Körpers und lässt das Model wie ein Traumgespinst erscheinen. Ein Spezialfall ist „Neck (Lee Miller)“ (Paris, 1929), das in der Londoner Schau als Werk von Man Ray und Lee Miller ausgewiesen ist. Man Ray hatte das Negativ dazu weggeworfen, doch Lee Miller holte es aus dem Müll und schuf einen Abzug der exquisiten Nahaufnahme. Nun betrachtete die Fotografin das Werk als ihr eigenes, was wiederum in einem Streit zwischen dem Paar und der Veröffentlichung unter der Autorschaft von man Ray endete.9
„Es spielt keine Rolle: Ich kann nichts behaupten: Wir waren wie eine Person, als wir arbeiteten.“10
Dies antwortete Lee Miller, als Roland Penrose sie zur Erfindung der „Solarisation“ (Sabatier-Effekt) befragte. Nachweislich war es aber Miller, die versehentlich das Negativ eines weiblichen Akts in der Dunkelkammer belichtete. Dennoch schrieb sie Man Ray die Entdeckung von Wegen zu, die Technik zu kontrollieren, die die Konturen des Körpers zu elektrisieren schien.11 Das ausgestellte „Primat de la matière sur la pensée“ könnte von diesem Vorfall stammen. Auch wenn Lee Miller im Atelier von Man Ray als Assistentin und Schülerin tätig war, so fotografierten sie einander immer wieder. Die spielerischen Aufnahmen verraten ihre Nähe zum Surrealismus, wobei vor allem ihre Köpfe unter Glassturz eine gewisse morbide Wirkung nicht verfehlen – gesteigert noch in den zwei Fotografien „Untitled (Severed breast from radical surgery)“ (Paris, um 1930), die eine abgetrennte Brust nach einer Mastektomie auf einem Essteller inszenieren.
- Lee Miller, Installationsfotografie der Tate Britain, 2. Oktober 2025 – 15. Februar 2026. © Lee Miller Archives, England 2025. Alle Rechte vorbehalten. leemiller.co.uk. Foto © Tate (Sonal Bakrania).
Ein surrealer Blick
Den Weg zur Fotografie fand Lee Miller zweifellos über die Mode, doch scheint sie auch über Malerei nachgedacht zu haben. Zumindest empfand sie einige ihrer Bilder als Vorlagen für Gemälde:
„Einige davon sind Bilder, die ich mir wie ein Gemälde vorstellte und für die ich das Material zusammenstellte.“12
Die Jahre zwischen 1929 und 1932 zählten zu den kreativsten in Millers Leben. Die Amerikanerin wechselte offenbar problemlos zwischen Rollen und Orten, war in Man Rays Atelier die Assistentin, in den Büros der französischen Vogue eine Modeexpertin, in der Universität dokumentierte sie Operationen und in ihrem eigenen Atelier war sie Porträtfotografin. Ihre Bilder von Paris zeigen enge Ausschnitte, verfremdende Blickpunkte und Spiegelungen. Mit einem Blick für das Skurrile und Surreale muss sie die Stadt durchstreift haben und sah „Woman with hand on head (also known as Coiffure)“ (Paris, 1931) oder auch „Untitled (Exploding Hand), Guerlain Parfumerie“ (Paris, c.1930). Dabei unterstreicht satte Tontiefe in Millers Drucken aus dieser Zeit, so Saskia Flower, die Materialität des Silbergelatineabzugs.13
Lee Miller, so scheint es, musste sich die Fotografie nicht hart erarbeiten. Ihre Bilder wurden neben Aufnahmen von Eli Lotar (man denke an seine Fotos von Kuhfüßen aus Pariser Schlachthöfen), Germaine Krull, Jacques-André Boiffard, Florence Henri und André Kertész in Ausstellungen präsentiert sowie in namhaften Kunstmagazinen veröffentlicht.14 Der Kunsthändler Julien Levy, der Ende 1931 seine gleichnamige, einflussreiche Galerie in Manhattan gründete, zählte zu ihren wichtigsten Unterstützern in den USA: Levy stellte Lee Millers Fotografien nicht nur aus, sondern ermöglichte auch ihre Teilnahme an bedeutenden Museumsausstellungen wie etwa der bahnbrechenden Schau „International Photographers“ des Brooklyn Museums im März 1932. Im Dezember dieses Jahres, kurz nach ihrer Rückkehr aus Paris nach New York, eröffnete der New Yorker Galerist ihre erste, von Kritikerlob überschüttete Einzelausstellung – leider aber auch die einzige zu ihren Lebzeiten.
Surreales Ägypten
Im Herbst 1932 trennte sich Lee Miller von Man Ray und kehrte nach New York zurück. Dort eröffnete sie mit dem Lee Miller Studio ihr zweites kommerzielles Fotostudio. Nachdem sie den ägyptischen Geschäftsmann Aziz Eloui Bey geheiratet hatte, gab Lee Miller ihr Studio im September 1934 auf und zog nach Kairo. Sie nutzte ihre Kamera kaum, lernte ein wenig Arabisch und studierte Chemie. Ihr Leben als Fotografin beschrieb sie ihrem Bruder in einem Brief als „Hölle“15. Man fragt sich, was diese heftige Wortwahl wohl ausgelöst haben mag. Dennoch: Eine Reise nach Jerusalem im Sommer 1935 inspirierte Miller so sehr, dass sie zur Fotografie zurückkehrte und erstmals die Landschaft Ägyptens als Motiv entdeckte:
„Ich sah das Sinai-Gebirge im Morgengrauen des Sonntags – die unglaublichste Explosion surrealistischer Malerei, die ich mir je vorgestellt hatte – Max Ernst in Turners Farben […] Ich war erfüllt von Ehrfurcht und Erleichterung – und Irrealität.“16
Allein die Verbindung von Max Ernst und William Turner in ihrer Wahrnehmung zeigt, wie sehr sich Lee Miller mit der älteren und zeitgenössischen Kunstproduktion identifizierte. Das koloristische Erlebnis des britischen Romantikers in Verbindung mit den durch Zufall organisierten Strukturen in Ernsts Bildern, die Bezugnahme auf die Malerei, das Erleben und Verarbeiten des Natureindrucks durch die Brille der Kunstgeschichte sind interessante Reaktionen einer Künstlerin. Darauf folgen vier Jahre freier Arbeit in entlegenen ägyptischen Wüsten sowie Syrien, Palästina, Libanon, Zypern, Rumänien, Bulgarien und Griechenland.
Eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Landschaften, Gebäude und Fragmente von antiken Skulpturen. Menschen – orientalische Männer – tauchen wie Skulpturen in ihren Fotografien auf; Frauen oder auch Kinder fehlen in der Ausstellung der Tate Britain gänzlich. Eine verhüllte Statue des antibritischen Revolutionärs Saad Zaghloul, im starken Gegenlicht aufgenommen, greift das surrealistische Interesse an der politischen Situation und der Dekolonialisierung auf: „Untitled (Draped statue of Saad Zaghloul), Gezira Island“ (Kairo, um1938).17 Da die Fotografin in Ägypten keine Dunkelkammer zum Vergrößern, Zuschneiden oder Bearbeiten ihrer Bilder hatte, musste sie die Kompositionen im quadratischen Format ihrer Rolleiflex-Kamera perfekt auswählen. Bildausschnitt und Lichtführung verfremden das Abgebildete zugunsten einer Nähe von Landschaft beziehungsweise Architektur mit menschlichen Körpern.
Am eindrucksvollsten wirkt das „Porträt des Weltraums, Al Bulwayeb, bei Siwa“ (Ende 1937), ein komplexes Spiel vieler Schichten an Rahmung und Neurahmung, an Durchblicken, an Strukturen. Es ist Lee Millers bekanntestes, surrealistisches Werk, das zum Träumen einlädt und René Magritte zum Gemälde „Le Baiser“ von 1938 inspirierte. Die Belgier und die Amerikanerin trafen einander wieder, als Lee Miller im Sommer 1937 nach Paris zurückkehrte und dort nach ihren alten Freund:innen suchte. Die französische und britische Avantgarde nahm Lee Miller mit Freunden wieder in ihrer Mitte auf: Max Ernst, der britische Künstler und Kurator Roland Penrose, mit dem sie in diesem Sommer eine Affäre hatte, Pablo Picasso und Dora Maar, Eileen Agar, Paul und Nusch Éluard, Ady Fidelin und Man Ray, mit denen sie in Mougins Urlaub machte. Von diesen Begegnungen wie „verändert, strahlend und erneuert“, kehrte Lee Miller nach Ägypten zurück.18 Kurz darauf schuf sie ihr ikonisches „Porträt des Weltraums, Al Bulwayeb, bei Siwa“.
Die Surrealistin war aber nicht nur als Künstlerin wirksam, sondern auch als Netzwerkerin zwischen Europa und Ägypten. Da ihr Penrose Briefe, Bücher, Kunstwerke und surrealistische Zeitschriften zwischen London und Kairo schickte, war sie auch in der künstlerischen „Peripherie“ bestens über neue Strömungen und Debatten unterrichtet. Ihr Haus füllte Miller mit Kunstwerken von Man Ray, Penrose, Picasso und anderen und veranstaltete surrealistische Soireen, was zur Gründung der surrealistischen Gruppe „Art et Liberté“ führte. Lee Millers Interesse für den „Orient“ hingegen veranlasste Roland Penros mit ihr im Sommer 1938 durch ländliche Gebiete Rumäniens, Bulgariens und Griechenlands zu reisen. Die dort entstandenen Werke zeigen eine fremde, wenn auch beschauliche Welt, veröffentlicht in Penroses einflussreicher Zeitschrift, dem „London Bulletin“, und in der Ausstellung „Surrealism Today“ (13.6.–3.7.1940) in der Zwemmer Gallery in London.
- Installationsfotografie von Lee Miller in der Tate Britain, 2. Oktober 2025 – 15. Februar 2026. © Lee Miller Archives, England 2025. Alle Rechte vorbehalten. leemiller.co.uk. Foto © Tate (Sonal Bakrania).
Künstler und Freunde vor und nach dem Krieg
„Ein gutes Porträt braucht Zeit. Ich muss mit dem Modell sprechen und herausfinden, welche Vorstellung es von sich hat.“19
Im Studio verstand Lee Miller es, eine Umgebung zu schaffen, in der sich ihre Modelle wohlfühlten. Sie war bestrebt, ihre Kunden aus der Reserve zu locken und widmete jedem/jeder einen ganzen Tag. Trotz der harten Weltwirtschaftslage nach dem Börsencrash von 1929 zogen Millers kommerzielle Studios in Paris (1930–1932) und New York (1932–1934) hochkarätige Kund:innen an. Bereits 1934 pries „Vanity Fair“ Miller als eine der „bedeutendsten lebenden Fotografinnen“.20
Dass sich Lee Miller dieses Urteil verdiente, belegen die Aufnahmen, die sie von der Besetzung und der Crew von „Four Saints in Three Acts“ schuf. Die bahnbrechende Oper von Virgil Thomson und Gertrude Stein verband afroamerikanische Besetzung mit einer bahnbrechenden Form. Lee Miller fotografierte Rollenporträts der Schauspieler:innen als spanische Heilige des 16. Jahrhunderts mit dramatischer Beleuchtung und Stoffbahnen, um ein barocke Ästhetik zu etablieren, die an Gian Lorenzo Berninis „Ekstase der Heiligen Teresa“ (1647–1652) angelehnt ist. Genauso kreativ und entlarvend zeigt Lee Miller Avantgarde-Künstler:innen, Schauspieler:innen und Filmemacher:innen aus ihrem transnationalen Netzwerk.
Zu den kreativsten und überraschendsten Bildnissen gehört das Porträt von Eileen Agar aus dem Jahr 1937. Der Schatten der Britin schmiegt sich an die Konturen der verzierten Steinsäule im Brighton Pavilion, daneben taucht vermutlich Lee Millers eigener Kopf und ihr erhobener Arm auf. Diese Aufnahme diente Miller Wochen später als Ausgangsgrundlage für eine Collage die Miller während oder nach einer Reise nach Mougins anfertigte. Dort verbrachte sie einen unvergesslichen Urlaub mit Agar, Man Ray, Ady Fidelin, Paul und Nusch Éluard, Joseph Bard und Roland Penrose mit Picasso und Dora Maar im Hôtel Vaste Horizon. Der Ergebnis ist eine formal komplexe Komposition mit einer Postkarte von der Côte d’Azur, Papierfetzen, Ausschnitten von Penroses und ihren eigenen Fotografien, mit den Porträts von Agar und Dora Maar.
Lee Millers Porträtfotografie erhielt nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine neue Dimension. Von London aus arbeitete sie als Fotografin für die „Vogue“ und hatte ein breites Aufgabengebiet, das Mode, Promi-Profile und zunehmend auch Kriegsthemen abdeckte. In all diesen Jahren fotografierte Miller in London und später im befreiten Paris und Brüssel ihre Künstlerfreunde.
Konzentrationslager
Lee Miller besuchte die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau im April 1945. Das Grauen dieser Orte sollte die Fotografin für immer prägen. Das Gesehene ließ sie verstummen, anstelle von Bildunterschriften schickte sie ihrer Herausgeberin Audrey Withers eine Beschreibung der ersten Trauerfeier und fügte hinzu: „Der Rest spricht für sich selbst, die Knochen, das Krematorium usw.“21 Obschon Miller einräumte, dass bei ihrer Ankunft „bereits vieles geklärt“ gewesen sei, hielt sie zahlreiche Beweise für die Grausamkeit fotografisch fest.22 Die Tate Britain zeigt „Untitled (Entrance to concentration camp)“ (Buchenwald, 1945) und wählt das Foto als Symbol mit dem verkehrten Schriftzug „Jedem das Seine“ und Blick auf die GIs als Symbol für den Unrechtsstaat mit seinem pervertiertem Motto. Lee Miller fotografierte auch riesige Berge verhungerter Leichen und die Öfen, in denen ihre Überreste routinemäßig verbrannt wurden. Einzig der Treibstoffmangel hatte bewirkt, dass die Ermordeten nicht mehr verbrannt werden konnten. Die vor Ort gefassten Täter zeigen sich noch immer überzeugt, während „Freed prisoners scavenging in the rubbish dump [Freigelassene Gefangene beim Plündern der Müllhalde]“ (Dachau, 1945).
Dachau, das Miller am 30. April betrat, war vielleicht noch schrecklicher als Buchenwald. Um die Unmittelbarkeit und Nähe vermitteln zu können, verwendete Lee Miller ihre Rolleiflex. Sie sandte ihre mit kühlem Blut geschossenen Aufnahmen an die „Vogue“. Die Modezeitschrift druckte im Allgemeinen keine drastischen Bilder menschlicher Gewalt, dennoch bat Lee Miller ihre Redakteure, zumindest Teile ihrer schonungslosen Berichterstattung zu veröffentlichen: „ICH BITTE SIE, ZU GLAUBEN, DASS DIES WAHR IST.“23 Aus diesem Ausruf spricht die Verzweiflung einer Augenzeugin der unmenschlichsten Handlungen. Für die Künstlerin bedeutete es jedoch an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu gehen.24
Hitlers Badewanne
Zu den berühmtesten Fotos des Zweiten Weltkriegs gehört Lee Miller in Hitlers Badewanne. Es klingt absurd, aber sie war am 1. Mai 1945 in seine Münchner Privatwohnung eingezogen. Sie und David E. Scherman waren direkt aus Dachau gekommen:
„Der Anblick und der Gedanke an die blau-weiß gestreiften Lumpen, die den bestialischen Tod Hunderter verhungerter und verstümmelter Männer und Frauen verhüllten, ließen uns nach Luft und Gewalt schnappen, und wenn München, die Geburtsstätte dieses Grauens, fallen würde, würden wir gern helfen.“25 (Lee Miller)
Lee Miller posierte sich in Hitlers weißer Emaille-Badewanne und experimentierte mit ihrer Kamera. Der Jude Scherman assistierte ihr dabei und hielt sich ebenfalls in der Badewanne fest. Ein offizielles Foto Hitlers hing am Badewannenrand, eine neoklassizistische Figur auf der Kommode folgt der NS-Kunstpolitik. Ihre Uniform und ihre Stiefel sind noch vom KZ-Dachau verdreckt. Der Duschkopf am oberen Rand spielt auf die Mordmethode der Nazis in den als Badezimmer getarnten Todeskammern an. Die Tate Briatin zeigt den Kontaktbogen mit der Abfolge der Aufnahmen.
„Wenn ich Vertrauen in die Leistung der Befreiung finden könnte, könnte ich vielleicht etwas in eine Form bringen, die ein Luftschlangenband kräuseln und eine Flagge schwenken würde … Ich selbst beschreibe lieber die physischen Schäden zerstörter Städte und verletzter Menschen, als mich mit der erschütterten Moral und dem zerstörten Glauben derer auseinanderzusetzen, die dachten: ‚Alles wird wieder so sein wie vorher.“‘26 (Lee Miller, 31.10.1944)
Lee Miller blieb auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. In ihren Bildern dokumentierte sie die Zerstörung der Städte aber auch den Lebensmut der Überlebenden. Wenn die Opernsängerin Irmgard Seefried eine Arie aus „Madame Butterfly“ in der ausgebombten Wiener Staatsoper singt (1945), lässt dies an die Macht der Kunst glauben. Lee Miller allerdings hat sich viel zugemutet. Im Februar 1946 kehrte sie nach London zurück, einem Nervenzusammenbruch nahe.
Kuratiert von Hilary Floe.
Bilder
- Lee Miller, Modell mit Glühbirne, Vogue Studio, London, England, um 1943 (© Lee Miller Archives, England 2025)
- Lee Miller, Portrait of Space, Al Bulwayeb bei Siwa 1937 (Lee Miller Archives)
- Lee Miller, David E. Scherman in Kriegskleidung, London 1942 (Lee Miller Archives)
- Lee Miller, Model Elizabeth Cowell im Anzug von Digby Morton, London 1941 (Lee Miller Archives)
- Lee Miller, Ohne Titel, Paris 1930 (Lee Miller Archives)










