Gerade noch im Kunsthaus Graz zu sehen, eröffnete im Museum Ludwig in Köln die erste Retrospektive von Haegue Yang (*1971 in Seoul). Auch hierzulande ist die südkoreanische Künstlerin keine Fremde. Ab 1994 war sie Meisterschülerin bei Georg Herold an der Städelschule Frankfurt, wo sie seit 2017 selbst eine Professur innehat. Dass genau dieser Künstlerin der Wolfgang Hahn Preis 2018 verliehen wurde, überrascht insgesamt wenig. Die Verbindung mit Direktor und Kurator Yilmaz Dziewior hat eine Vorgeschichte: 2011 zeigte er Yang im Kunsthaus Bregenz. Auch Gastjurorin Christina Végh war just Direktorin des Bonner Kunstvereins, als Yang 2014 dort eine Einzelpräsentation hatte. Der Wolfgang-Hahn-Preis beinhaltet neben der Einzelausstellung noch den Ankauf einer Arbeit bis max. 100.000 Euro durch die Gesellschaft für Moderne Kunst des Museums Ludwig Köln.
Deutschland | Köln: Museum Ludwig, Köln
18.4. – 12.8.2018
Der Untertitel von Haegue Yangs Ausstellung – „ETA 1994–2018“ – verbindet die für den im öffentlichen Verkehr gebräuchliche Abkürzung „Estimated Time of Arrival“ mit den Schaffensjahren der Künstlerin vom Studienabschluss bis heute. Das Kürzel verweise außerdem auf den umtriebigen Lebensstil von Haegue Yang, welche zwischen ihren Studios in Seoul und Berlin pendelt. Das Jobprofil beinhaltet viel Reisetätigkeit, welche mit Yangs internationaler Ausstellungstätigkeit einhergeht. Ja, die Betonung der Internationalität der Künstlerin scheint dem Hause Ludwig sehr wichtig. Galerievertretungen aus New York, Mexiko, Seoul, Paris und Berlin seien zur Eröffnung der Ausstellung eigens angereist. Auch das Prädikat der – weltweit – ersten Retrospektive unterstützt die Selbstbekräftigung der Institution als internationaler Player im zeitgenössischen Kunstbetrieb.
Die erste Arbeit Haegue Yangs im Ausstellungsparcours ist die Installation „Series of Vulnerable Arrangements – Version Utrecht“ aus dem Jahr 2006, die sich roh und abweisend gibt. Beim Durchgehen wird man von einem großen Ventilator angeblasen, ein auf seine Grundelemente reduzierter Luftbefeuchter versprüht Wasserdampf in der Luft, Scheinwerfer und Lampen blenden, aufgehängte Kameras drehen sich zu den Seiten hin und lassen nichts unbeobachtet – big brother ist watching you. Die für Yang charakteristischen Alu-Jalousien (in Weinrot) bleiben stets transparent und kommen ihrer Funktion des Trennens und Sichtschutzes nicht nach. Die Summe der Erfahrungen dieser Situation abstrahiert den Mikrokosmos Flughafen: unpersönlich, kühl, reduziert auf Funktionalität, der ständigen Überwachung ausgesetzt. Kurzum, ein transitorischer Ort, an dem man sich nicht länger als notwendig aufhalten möchte. Und das in einem Museum, als ob der White Cube für den Großteil der Bevölkerung noch nicht abweisend genug wäre. Insgesamt ergibt sich ein Sinnbild radikaler Abweisung am Beginn der Personale, und dennoch sollte man verweilen, um drei Videoessays der Künstlerin mit Streifzügen durch Städte in Südkorea, Brasilien und Europa nicht zu verpassen.
Ins Monumentale übersetzt, trifft man die weinroten Alu-Jalousien im 12-Meter hohen DC-Saal wieder. Hier schweben sie in einem geometrisch auf mehreren Ebenen und in Winkel arrangierten Konstrukt frei im Raum. Scheinwerfer durchwandern die Installation auf der Suche nach etwas oder jemandem, vielleicht dem Publikum? In direkter Nachbarschaft befindet sich eine zweite Jalousien-Installation, nun in Silbergrau und kopfüber zu Kuben arrangiert, an der Decke mit LED-Leuchten in Rautengitterform. Sie trägt den Titel „Sol Lewitt Upside Down – K123456, Expanded 1078 Times, Doubled and Mirrored“. Ein gewisser Dualismus wird durch die Positionierung der beiden Arbeiten in einem Raum evoziert. Das Chaos – die Ordnung, das Gefühl – das Kalkül, das Detail – der Überblick. Erstere Arbeit ist es nun, die im Rahmen des Wolfgang-Hahn-Preises von der Gesellschaft für Moderne Kunst Köln für das Museum Ludwig angekauft wurde und in Köln verweilen wird.
Vor dem Gesichtspunkt des interkulturellen Dialogs ist vor allem das Frühwerk der 1990er sowie frühen 2000er interessant, da es Haegue Yangs Auseinandersetzung mit der europäischen Avantgarde, mit Arte Povera, Fluxus und Konzeptkunst erkennen lässt. Die Übersetzung dieser Einflüsse in Yangs Formensprache ist voll humoristischer Pointen. Zwei Fotografien mit dem Titel „Beruf ausüben, minus 2002“ dokumentieren eine Performance der Künstlerin in Paris, zentrale Requisite: ein Anzug, den sie täglich während der gesamten Ausstellungdauer im Palais de Tokyo trug und der jegliche Tätigkeit als eine Form der Kunstproduktion deklariert. Eine Persiflage auf den westlichen Anzug-tragenden Businessman? Die Fotos dokumentieren die Künstlerin einmal mit Krücken vor dem Palais de Toyko, ein anderes Mal auf einem Fahrrad. In „Size Maker“ von 2004 wickelt sie das Gesicht von Menschen in überlange, aus unterschiedlich gefärbter Wolle gestrickte Riesenschals ein.
Zwei besonders schöne Werkreihen befinden sich räumlich gegenüber positioniert: „Quasi MB – In the Middle of its Story“ (2006–2007) referiert auf die legendäre Videoarbeit von Marcel Broodthaers „La Pluie“ (1969), in der der belgische Künstler, im starken Regen sitzend, versucht einen Text zu schreiben. Yang präsentiert die konzeptuell angelegte Arbeit, die sich aus gerahmten Fotos und Textpassagen zusammenfügt, als Dokumentation eines ungewollten Reenactements - der Unterton der Homage bleibt allerdings gewahrt. Darauf Bezug nehmend, sind auf der gegenüberliegenden Seite Lackbilder ausgestellt. Es handelt sich dabei um mit einer übermäßigen Menge Holzlack versehene Holzplatten, die Yang den Naturgewalten aussetzt: Wind, Regen, Samen, Blätter, Erde, aber auch Gummibänder und Schmutzpartikel sowie Erde „gestalten“ schließlich den finalen Gestus. Beide Arbeiten versinnbildlichen das Ausgesetzt-Sein des Künstlers gegenüber dem Wetter und auf eine Metaebene übersetzt: gegenüber allen möglichen physikalischen und psychologischen Faktoren. Warum also nicht gleich der Natur den Pinsel überlassen?
Auch die Populärkultur kommt in der Ausstellung nicht zu kurz: In der Werkreihe „VIP Union“ (seit 2001) werden in der Ausstellungsstadt bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Sport, usw. gebeten, ihre Lieblingsstühle für die Ausstelldauer zur Verfügung zu stellen. Die Sitzgelegenheiten werden schließlich den Besuchern angeboten, um einmal im Leben so zu sitzen wie der/die persönliche/r Held/in. In Köln konnten dafür gewonnen werden: Oberbürgermeisterin Henriette Reker, ebenso wie Christian DuMont Schütte, Verleger des Kölner Stadt-Anzeigers und EXPRESS, dessen Frau auch in der Jury des Wolfgang-Hahn-Preises sitzt. Außerdem: Fernsehikone Hella von Sinnen und der Held aller Kölner: Lukas Podolski, aka „unser Poldi“. Für den filigranen weißen Alu-Barhocker sind Fußballerbeine sicherlich hilfreich, ansonsten lässt der Sitzkomfort zu wünschen übrig.
Ein weiteres Highlight sind die „Series of Vulnerable Arrangements – Seven Basel Lights“ (2007) und die „Medicine Men“. Dabei handelt es sich um Infusions- und Kleiderständer, die unter anderem mit Lampen, Glitzer, Lametta, Perücken, Netzen und bunten Strick- und Häckelelementen behangen sind und als Sinnbilder des schlechten Geschmacks fungieren. Im Rheinland, wo der Karneval als fünfte Jahreszeit gefeiert wird und das Verkleiden zur Kultur gehört wie der Dom zu Köln, wird das allerdings wenig Irritation verursachen. Die „Verfremdung und Exotisierung“ von der zumindest im Ausstellungsbegleiter die Rede ist, wird hier nur bedingt als solche empfunden werden. Viel eher kann es passieren, dass der eine oder andere Jeck sich für ein künftiges Kostüm inspirieren lässt. Denn eines ist gewiss: Der nächste Karneval kommt bestimmt, alaaf!
Kuratiert von Yilmaz Dziewior.
Zur Ausstellung erscheint ein Werkverzeichnis in Katalogform.
Hrsg. von Yilmaz Dziewior
Museum Ludwig Köln, 2018
26 x 31 cm, 416 S., mit farb. Abb.
Verlag der Buchhandlung Walther König
1971 Haegue Yang wurde in Seoul als Tochter einer Schriftstellerin und eines Journalisten geboren.
1994 Studium an der Städelschule in Frankfurt am Main bei Georg Herold. Gleichzeitig begann Haegue Yang
2009 Zweifache Beteiligung an der Venedig-Biennale: in der programmatischen Ausstellung „fare mondi“ und durch die Einzelpräsentation im koreanischen Pavillon; Walker Art Center, Minneapolis
2010 New Museum, New York
2011 Kunsthaus Bregenz
2012 Teilnahme an der dOCUMENTA (13); Haus der Kunst, München
2013 Aubette 1928 und Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst, Straßburg
2014 Bonner Kunstverein
2015 Ullens Center for Contemporary Art, Peking; Leeum, Samsung Museum of Art, Seoul
2016 Ausstellungen im Centre Pompidou, Paris, Museu de Arte Contemporânea de Serralves, Porto und in der Hamburger Kunsthalle
2017 Berufung an die Städelschule in Frankfurt am Main; Ausstellung im KINDL – Zentrum für Zeitgenössische Kunst, Berlin
2017/2018 Einzelausstellung im Kunsthaus Graz
2018 Beteiligung an der 21. Biennale in Sydney und der 10. Liverpool Biennale.
2019 Haegue Yangs erste Werkschau in Nordamerika im Museum of Contemporary Art in Los Angeles (Mai).
Haegue Yang lebt und arbeitet in Berlin und Seoul.