Die Ausstellung „Otto Mueller“ in Münster schaut mit kritischem Blick auf das Schaffen des expressionistischen Künstlers Otto Mueller (1874–1930). Obwohl seine Arbeiten heute in vielen internationalen Kunstsammlungen vertreten sind, fehlt bisher eine Analytise seines Werks – allen voran seiner Mädchen- und Frauenakte in der Natur und seiner bekannten „Zigeuner-Mappe“ (1927), einer romantisierenden, aber dennoch antiziganistischen Darstellung von Rom:nja. Die von einem Kuratorinnen-Team verantwortete Schau – beteiligt waren die Mueller-Expertin Tanja Pirsig-Marshall, Flora Tesch, Ann-Catherine Weise und Anna Luisa Walter – wird dem Kunstwollen des Expressionisten gerecht und stellt sein Werk gleichzeitig in den zeitgenössisch-kritischen Diskurs.
Deutschland | Münster
LWL-Museum für Kunst und Kultur
20.9.2024 – 2.2.2025
Wie andere Künstler:innen des 20. Jahrhunderts war Mueller auf der Suche nach dem vermeintlich „Ursprünglichen“, welches er im Einklang von Mensch und Natur, aber auch in für ihn unbürgerlichen Lebensweisen suchte - und in der Freikörperkultur sowie in vermeintlich nicht-bürgerlichen Gesellschaften wie den Rom:nji fand. Damit folgte er dem Vorbild von Paul Gauguin, dessen Werk er im Herbst 1910 in Dresden sehen konnte. Gleichzeitig stellte Mueller mit den Künstlern der "Brücke" aus, die er kurz zuvor im Umfeld der "Berliner Secession" kennengelernt hatte. Mit ihnen teilte Mueller die Sehnsucht nach einem irdischen Paradies.
Das LWL-Museum besitzt vier Gemälde Otto Muellers sowie eine Reihe von Grafiken, darunter eine handkolorierte Lithografie.1 Diese Werke sind Ausgangspunkt der Ausstellung. Die ältesten Dokumente in der Ausstellung sind Fotografien von nicht erhaltenen Figurenfriesen, die Mueller in seinen Berliner Atelierwohnungen ausgeführt hat: Um 1910 nutzte er ein Atelier in der Mommsenstraße 60 und um 1912 führte er einen Wand-Figurenfries mit Akten in der Hewaldstraße 10 aus. Die nur in Schwarz-Weiß-Fotografien dokumentierten Akte weisen stilistische und formale Nähe zu fauvistischen Werken von Henri Matisse bzw. den Badenden von Paul Cézanne auf. Neben den berühmten Aktdarstellungen der Alten Meister in den Sammlungen von Dresden und München lehrten die modernen Franzosen Mueller, den nackten Frauen- aber auch Männerkörper auf neue Art zu sehen. Gleichberechtigt stehen Männer und Frauen nebeneinander, flächig in der Darstellung, starke Konturierung, wenig erkennbare Modellierung. In den folgenden zwei Jahrzehnten wird Otto Mueller auf dieser Basis ein sehr homogenes Werk entwickeln, wobei er sein Interesse dem weiblichen Akt in der Natur zuwandte. Dabei stellt sich das LWL der drängenden Frage nach dem männlich sexualisierenden Blick Muellers.
Bereits zu seinen Lebzeiten wurde Otto Mueller für seine Darstellungen von ruhenden, nackten Körpern inmitten von grünen Pflanzen, Bäumen und Gewässern berühmt. Auch die Mueller-Ausstellung in Münster macht deutlich, wie gering die Motivauswahl des Malers ist:
„Hauptziel meines Strebens ist, mit größtmöglicher Einfachheit Empfindungen von Landschaft und Mensch auszudrücken.“2 (Otto Mueller)
Immer wieder kreist sein Werk um die Sehnsucht nach einer friedlichen Verbindung von Mensch und Natur. Stilistisch orientierte sich der Künstler aus Schlesien nicht nur an der französischen Avantgarde, sondern auch an der ägyptischen Antike, die Anfang der 1910er Jahre mit großer Furore in Berlin ausgestellt wurde (u.a. die Büste der Nofretete). War die Hauptstadt Berlin für Ausstellungen und Kunststudium von größter Bedeutung, so fand Mueller hingegen an Ostseeküste - Sierksdorf (1907) und Fehmarn (1908 und 1913) - jene Orte, die ihn zu seinen ruhigen Kompositionen anregten. Er bereiste darüber hinaus aus Böhmen (1911) und später die schlesischen Berge, Föhr und Osterholz sowie Ungarn und den Balkan.
Wie viele seiner Zeitgenossen sehnte sich Mueller in ein vorindustrielles Zeitalter zurück. Schon sein Cousin, der bedeutende Schriftsteller Gerhart Hauptmann, habe behauptet, dass „der Leitsatz, der uns immer begleitete, hieß: Rückkehr zur Natur“. Da die beiden viel Zeit miteinander verbrachten, darf davon ausgegangen werden, dass dieses Motto dem jüngeren Maler gleichsam in die Wiege gelegt wurde. So bemühte sich letzterer auch um ein möglichst anti-bürgerliches, ungepflegtes Erscheinungsbild und friedvolle Kompositionen, in denen er das irdische Paradies vorführte und gleichzeitig eine unproduktive Haltung propagierte.
Es sind gertenschlanke Wesen mit dunkler Kurzhaarfrisuren, die Mueller splitterfasernackt auf die rohe Leinwand bannte. Seine Modelle stehen lässig in der Wiese, lehnen an ebenso schlanken Baumstämmen oder hocken im hohen Gras. Selten widmete sich der Maler und Druckgrafiker einander umarmenden Liebespaaren oder Mutter-Kind- bzw. Tanz-Darstellungen. Neben dem Motiv der Badenden finden sich in Muellers Werk Selbstbildnisse und Darstellungen seiner Partnerinnen.
Meist dienten Mueller die Frauen aus seiner Umgebung als Aktmodelle, allen voran seine drei Ehefrauen. Auch wenn die Köpfe seiner Frauen - wie die Werke in Münster schnell verdeutlichen - einander frappierend ähneln, so handelt es sich doch nicht um gänzlich Unbekannte. Den Anfang machten seine Schwestern Emmy (1876–1962), Martha Johanna, genannt Mara (1878–1942), Helene (1880–1968), Elise (1882–?) und Elfriede (1884–?). Sie sind die zentralen Personen seiner ersten Darstellungen von Badenden, die 1908 auf Fehmarn entstanden.
In der Folge übernahmen die Gefährtinnen Muellers diese Aufgabe, die wichtigste unter ihnen war seine erste Ehefrau Maria Mayerhofer (1880–1952), genannt Maschka. Mueller lernte sie 1899 kennen, das Paar heiratete 1905 und trennte sich, als der Künstler 1919 an die Kunstakademie in Breslau berufen wurde. Dennoch: Maschka blieb bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1930 seine engste Bezugsperson, mit der er korrespondierte und sich regelmäßig austauschte. Ihre Darstellungen fallen auf, da Mueller sie als selbstbewusste Person ins Bild setzte, die auch den Blickkontakt mit dem Publikum nicht scheut. Eine Porträtlithografie von Otto Dix aus dem Jahr 1923 belegt, dass Maschka in der Dresdner Kunstszene keine Unbekannte war.
Auf Maschka folgten Irene Altmann (1902–1956) in den Jahren von 1919 bis 1921, Elisabeth Lübke (1902–1977), genannt Elsbeth, von 1922 bis 1927 und Elfriede Timm (1904–1979), genannt Fibs. Alle Frauen in Muellers Leben waren Künstlerinnen und Kunstgewerblerinnen, deren Werken allerdings kaum erhalten sind. Zumindest Maschka hat ihren Mann auch als Händlerin zur Seite gestanden.
Den Abschluss bildet eine Reihe von Badenden verschiedener Künstler:innen rund um Otto Mueller. Erich Heckel, Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner verweisen auf Muellers Freundschaften innerhalb der "Brücke". Er gehört der Gruppierung von 1910 bis 1913 an und strebte wie sie den unmittelbaren Ausdruck in der Reduktion auf Form, Fläche und Farbe an. Kichners "Auf Fehmarn" (1913, LWL-Museum für Kunst und Kultur) sowie "Badende am Strand (Fehmarn)" (1913, Neue Nationalgalerie, Berlin) entstanden auf der gleichen Insel, die bereits Otto Mueller ab etwa 1908 zu seinen ersten Badenden inspiriert hatte. Allerdings unterscheiden sich die Gemälde seiner Kollegen in ihrem kräftigen Kolorit deutlich von Muellers zartfarbigen Kompositionen. Seine Maltechnik, für die Mueller in dünn aufgetragener Mischtechnik auf groben Rupfen malte, soll Unmittelbarkeit vermitteln. Ähnliches findet sich - wenn auch in einem anderen Medium - in Kirchners Holzplastiken "Adam. Männliche Aktfigur" und "Eva. Weibliche Aktfigur" (1920/21, Staatsgalerie Stuttgart). Direktes Bearbeiten des Materials ohne Vorarbeiten, die Sichtbarkeit der Ausführung - all das sind Anzeichen modernen, expressiven Gestaltens.
Die Hamburger Malerin Dorothea Maetzel-Johannsen (1886–1930) ist - überraschenderweise - mit "Zwei Akte mit Mondsichel" (1919, Hamburger Kunsthalle) in der Schau vertreten. Wenn sich auch die Biografien von Mueller und Maetzel-Johannsen bestenfalls in den 1910er Jahren in Berlin gekreuzt haben, so sind beide doch intensiv vom Werk Paul Cézannes beeinflusst. Die geometrisierende Zerspiltterung der Figuren und Formen findet sich auch in den Bildern der Hamburgerin.
Hg. von LWL-Museum für Kunst und Kultur, Tanja Pirsig-Marshall und Flora Tesch
24 x 30 cm, 272 Seiten, Flexibler Einband (Klappenbroschur)
146 Abbildungen, farbig
ISBN 978-3-86502-530-2
E.A. Seemann Verlag