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Rachel Whiteread im Belvedere 21 Erinnerungsräume als Skulpturen

Rachel Whiteread, Torso, Installationsansicht Belvedere 21, Foto: Alexandra Matzner, ARTinWORDS

Rachel Whiteread, Torso, Installationsansicht Belvedere 21, Foto: Alexandra Matzner, ARTinWORDS

Die Londoner Objektkünstlerin Rachel Whiteread (* 1963) zählt zu den bedeutendsten Bildhauerinnen ihrer Generation. Das Belvedere 21 zeigt eine eindrucksvolle Werkschau der Britin, die den Diskurs in der Plastik seit den frühen 1990ern entscheidend mitgeprägt hat.

Die Retrospektive beinhaltet Arbeiten aus allen Schaffensphasen der britischen Künstlerin, von „Closet“ (1988) aus ihrer ersten Einzelausstellung bis zu aktuellen Arbeiten aus dem Jahr 2017, welche die Künstlerin eigens für die erste Station der Schau in der Tate Britain geschaffen hat. Nicht verpassen: „Chicken Shed“ ist im Pfirsichgarten des Oberen Belvedere aufgestellt und hat die Form einer „Beton-Hütte“. Diese „scheue“, so Whiteread, Skulptur geht zurück auf einen Abguss eines kleinen Hühnerstalls aus der englischen Grafschaft Norfolk – und wirkt neben dem prunkvollen Oberen Belvedere noch ländlicher.

Volumen, Material, Farbe

Bereits am Eingang der wird deutlich, wie wichtig Materialwahl und Farbigkeit in den Objekten Whitereads sind: Drei Reliefs aus einer neuen Serie sind aus Papiermaché gegossen. Die davor aufgestellten „Unitled (Twenty-five Spaces)“ (1994) aus Kunstharz. Opake Haptik und Transparenz, bunte Papierschnipsel im Graubraun und geschichtete, partiell aufleuchtende, gummiartige Quadern treffen eindrucksvoll aufeinander. Symmetrie und Raster sind der Künstlerin, die gemeinsam mit Kurator Harald Krejci die Schau selbst entwickelt hat, offensichtlich wichtig.

Rechts in den zentralen Ausstellungsraum des Belvedere 21 hineingegangen, überrascht die Geschlossenheit des Baukörpers. Hinter dem Schließen der Fenster steckt nicht nur eine Allusion an Whitereads Werk, sondern (und vorerst) eine Schutzmaßnahme für die Objekte. Die Färbung der Harzobjekte würde im Sonnenlicht verblassen, wie Krejci erklärt. Damit ist das Belvedere 21, der sonst so lichtdurchflutete Raum (siehe die Ausstellung: Ai Weiwei im 21er Haus), zu schließen gewesen.

Leere füllen

Die Aufstellung der Objekte im Raum erfolgt nach Themen, die sich wiederum als Chronologie darstellen. Vom deutlich autobiografisch geprägten Frühwerk („Closet“, 1988; „Torso“, 1988, „Mantle“, 1988), in denen sie begann Hohlräume auszugießen und der Negativraum zum Positiv zu verkehren, die Leere zu füllen, das „Nichts“ zu materialisieren. Das Innere eines Wandschranks, einer Wasserflasche, einer Kommode werden zu Körpern – und verdeckten dann doch wieder, was das Leben ausmachen würde, nämlich die kleinen Dinge des Alltags, welche die Objekte bergen. Wie wichtig Whiteread Oberfläche und Farbigkeit ihrer Objekte sind, zeigt „Closet“, das sie mit schwarzem Filz überzog, um die Dunkelheit in ihrem Wandschrank „einzufangen“.

Alltag abdrucken

1990 entwickelte Rachel Whiteread deutlich massivere Objekte, in denen Abdrücke von Alltagsgegenständen die Strukturen der Quader verändern. Man kann sich an Verpackungsmaterial erinnert fühlen, wenn man auf diese eigentümlichen Hohlräume trifft. Mit Titeln wie „Flappe [Flap]“ (1898), „Zelle [Cell]“ (1990) oder „Äther [Ether]“ (1990) gibt die Künstlerin auch kaum Anhaltspunkte, was in den Dingen „dargestellt“ sein soll. Dass in Rachel Whitereads Arbeiten eine Menge englischer Traditionen verhandelt werden, mag angesichts der anbrechenden Globalisierung der 90er Jahre eine gewisse Nostalgie heraufbeschwören. So reflektiert sie in „Cell“ den Kamin ihres Elternhauses, der nach dem Zweiten Weltkrieg eingebaut worden war.

Tür an Tür, Stiege an Stiege

Zwölf „Türen“ oder besser türartige Objekte lehnen und hängen in einer Reihe aneinander. Aus Gießharz oder Gips oder Fiberglas gegossen, in verschiedenen Farben gehalten. Die strenge Reihung wird durch unterschiedliche Materialien und Farben aufgelockert. Interessant, wie die Künstlerin die verschlossene Fensterachse des Gebäudes metaphorisch mit Türen „öffnet“. Die Tür – eigentlich das Türblatt ohne Rahmen und Scharniere oder auch die Türklinke – wird von Whiteread eingesetzt wie eine altägyptische Mastaba, eine Scheintür im Grab, die verschlossen ist, aber einen ideellen Raum dahinter andeutet. Whitereads Türen und Fenster öffnen sich nicht – nicht im Wiener „Holocaust-Mahnmal“ (2000), nicht in „Untitled (Room 101)“ (2003). Dafür bleibt umso mehr Raum für die eigene Fantasie, die Interpretation der Gebrauchsspuren, der Historizität der so fixierten bzw. konstruierten Räume und Objekte.

Whitereads berühmtestes Werk „House“ existierte nur für wenige Monate im Jahr 1993. Es ist in der Wiener Ausstellung in Form einer Fotogeschichte präsent. John Davies dokumentierte den Fortschritt der Arbeit und damit die Verwandlung des Einfamilienhauses in eine Beton-Skulptur und deren plötzliches Verschwinden als Endpunkt. Erinnerung, Transformation, Leerstelle – all das ist dem Projekt wie allen Werken Whitereads eingeschrieben. Darin erwies sich das Werk sowohl für die Geschichte der Skulptur wie auch für Whitereads lebenslange Auseinandersetzung mit menschlichen Artefakten als wegweisend. Alltagsarchitektur und häusliche Formen verbinden sich mit persönlichen und globalen menschlichen Erfahrungen und Erinnerungen. So wie sie die Räume unter den Treppen in ihrem Atelier zu einem Piranesi’schen verbindet. Gemeinsam mit „Untitled (Room 101)“ schaffte es einen irrealen Raum im Belvedere 21. Eine Spielweise für Geister? Ein steingewordenes Mausoleum für Erinnerungen? Genauso undurchdringlich wie monumental wie fähig, mit allem aufgeladen zu werden?

Der unerwartete Tod von Whitereads Mutter 2003 und die Geburt ihres ersten Sohnes führte zu einem Bruch in ihrem Werk. Der Zug zu immer größeren Formaten scheint seither eingedämmt. In „shy objects“ – wie dem „Chicken Shed“ – nimmt sie sich übersehenen Gebäuden an, oder arrangiert auf regalartigen Podesten buntfarbige Abgüsse von Müll wie Klopapierrollen. Für die 14-teilige Installation „Contents“ (2005) goss Whiteread Umzugskartons aus und stapelt sie wie Holzklötze am Boden oder auf Paletten. Conclusio der Schau: Das einzig Statische im Leben ist die Veränderung. Erinnerung braucht Objekte, an die sie festgemacht werden können. Und die nimmt der Mensch sein ganzes Leben lang mit.

Kuratiert von Harald Krejci gemeinsam mit Rachel Whiteread für Wien. Die Ausstellung in der Tate London wurde kuratiert von Ann Gallagher, Director of Collection, British Art und Linsey Young, Curator of Contemporary British Art, mit Helen Delaney, Assistant Curator und Hattie Spires, Assistant Curator of Modern British Art

Biografie von Rachel Whiteread (* 1963)

1963 Am 20. April 1963 wurde Rachel Whiteread in Ilford, Essex, geboren. Ihre Mutter, Patricia Whiteread (1931–2003), war eine Künstlerin und co-kuratierte die bedeutenden feministischen Ausstellungen „Women’s Images of Men“ und „About Time“ (1980) im ICA, London. Ihr Vater, Thomas (1928–1988), war ein Geografielehrer, der die Karriere seiner Frau unterstützte und die Familie auf Ausflügen Fossilien sammeln und Felsformationen studieren ließ.
1970 Umzug nach London
1982–1985 Rachel Whiteread studierte Malerei am Brighton Polytechnic; während Rachel Whiteread in Brighton studierte, wandte sie sich langsam der Skulptur zu. Richard Wilson führte sie in die Technik des Gießens ein.
1985–1987 Studium Skulptur an der Slade School of Art, am University College London. Zu den wichtigen Lehrerinnen und Lehrern an der Slade zählten Edward Allington, Phyllida Barlow und Alison Wilding.
1988 Rachel Whiteread begann Alltagsgegenstände in ihre Werke einzubeziehen. „Closet“
1990 „Ether“
1993 Rachel Whiteread gewann den Turner Prize mit „House“: Erster Auftrag im öffentlichen Raum im London’s East End. Whiteread schuf einen Betonguss vom Inneren eines ganzen Hauses. Das Werk existierte nur für wenige Monate, bevor es zerstört wurde.
1995 „Untitled (One Hundred Spaces)”: 100 Räume unter Stühlen.
1997 Vertrat Großbritannien auf der 47. Biennale von Venedig.
1997/98 „Untitled (Book Corridors)“
1998 „Water Tower“ in New York, die erste Skulptur im öffentlichen Raum.
2000 Holocaust Memorial in Wien.
2001 „Monument” für die vierte Säule am Trafalgar Square in London
2003 Tod der Mutter nach einem Routineeingriff. Geburt ihres ersten Sohnes Connor. Rachel Whiteread war mit „Untitled (Room 101)“, in dem sie den Raum 101 der BBC Broadcasting House, der wiederum für die Folterkammer in George Orwells Roman „1984“ Pate stand, abgoss.
2005 „Embankment“ für die Turbinenhalle der Tate Modern: Rachel Whiteread türmte 14.000 Abgüsse von zehn Pappkartons übereinander auf und verglich die Installation mit einem Lagerhaus. Seither arbeitet Rachel Whiteread an kleinformatigen Werken.
2008 „Scatter“ aus Müll
2016 „Cabin” auf Governor’s Island.
2017 Whiteread gewann die International Medal of Arts, U.S. Department of State, und den Ada Louise Huxtable Prize. „Flat Pack House“ ist eine Auftragsarbeit für die neu erbaute US-Botschaft in London. „Chicken Shed“ ist ein Abguss eines Hühnerstalls aus der englischen Grafschaft Norfolk.

Ausstellungsbeteiligungen und Solo-Präsentationen

Rachel Whiteread wurde mit einer Vielzahl von Aufträgen bedacht und organisierte weltweit Einzelausstellungen. Die wichtigsten Ausstellungen hatte sie in: MADRE in Neapel, im Kunsthaus Bregenz, im Museum of Modern Art in Rio de Janeiro und Sao Paolo, The Solomon R Guggenheim Museum in New York, im Museum of Contemporary Art in Chicago und in der Serpentine Gallery in London.

Rachel Whiteread lebt und arbeitet in London.

Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.