Das malerisch gelegene Schloss Lichtenstein ob Honau in Baden-Württemberg ist der Namensspender für jenen anonymen Maler des Spätmittelalters, der als Meister von Schloss Lichtenstein bereits seit Jahrzehnten zu Spekulationen Anlass bot. Zwei Tafeln mit den Darstellungen von „Marientod“ und „Marienkrönung“ befinden sind in Privatbesitz des Herzogs von Urach (eine Nebenlinie des Hauses Württemberg) und werden seit dem 19. Jahrhundert in dem romantischen Schloss Lichtenstein südlich von Stuttgart verwahrt. Weitere 14 Tafeln eines Marienzyklus und sieben eines Passionszyklus können nun erstmals wissenschaftlich fundiert zu einem einzigen, riesigen Flügelaltar zusammengefügt werden. Die Bedeutung des Meisters, seine Bindung an die Tradition der Wiener Malerei der 1420er Jahre und seine Innovationskraft werden anhand von Werken der Wiener Malerei aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts, von Zeichnungen, Buchmalereien und Skulpturen verdeutlicht.
Österreich / Wien: Belvedere, Orangerie
8.11.2013 - 23.2.2014
Dem Meister von Schloss Lichtenstein kann die beträchtliche Anzahl von 23 Tafelgemälden zugeschrieben werden, die heute international verstreut sind. Das Belvedere besitzt mit sechs Tafeln den größten geschlossenen Bestand. Im Rahmen des vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderten Forschungsprojekts „Die Wiener Tafelmalerei der Spätgotik und der Frühen Neuzeit 1430–1530“ wurden sie nach neuesten wissenschaftlichen Methoden untersucht und restauriert. Darüber hinaus widmete sich Kuratorin Veronika Pirker-Aurenhammer, zuständig für die Mittelaltersammlung des Belvedere und Leiterin des Forschungsprojekts, gemeinsam mit Antje-Fee Köllermann der kunsthistorischen Verortung des Meisters von Schloss Lichtenstein. Erschwert wurde dieses Unterfangen bislang durch die Zerstreuung der Tafeln auf Schloss Lichtenstein sowie in Museen in Augsburg, Basel, Esztergom, Moskau, München, Philadelphia, Stuttgart, Tallinn, Warschau und Wien.
Ergebnis der Untersuchungen ist, dass alle Tafeln ursprünglich ein doppelt wandelbares Retabel von knapp sechs Metern Spannweite gebildet haben, das zwischen 1445 und 1450 in Wien gemalt worden sein dürfte und wohl für den Export in den süddeutschen Raum bestimmt war. Erstmals können mit einer Ausnahme die kostbaren Tafelgemälde für die Ausstellung „Wien 1450. Der Meister von Schloss Lichtenstein und seine Zeit“ zusammengeführt und mit einer Dokumentation des rekonstruierten Altarwerks vorgestellt werden. Dessen Aufbau als Doppelwandelaltar und die genaue Anordnung der Szenen, die das Leben Mariens, die Kindheit Jesu und die Passion schildern, konnten nun nachvollzogen werden. Damit ist zusätzlich zum Albrechtsaltar im Stift Klosterneuburg ein bedeutendes Werk der spätgotischen Wiener Malerei für die Dauer der Ausstellung erstmals wieder zugänglich. Die Innovationskraft des Meisters von Schloss Lichtenstein, seine Auseinandersetzung mit niederländischen Vorbildern, erste Versuche von realistischer Wirklichkeitsschilderung und Raumwiedergabe, lassen seine Malerei als Meilenstein der heimischen Kunst erscheinen. Sowohl die Tafeln als auch ihr unbekannter Schöpfer samt Werkstatt können in Ausstellung und Katalog einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Der zwischen 1440 und 1450 in Wien tätige Maler suchte mit Schrägeinblicken in Räumen bzw. in der deutlich raumgreifenden Darstellung des Thrones, auf dem der zwölfjährige Jesus im Tempel sitzt, an wichtige Errungenschaften auch der Frührenaissance anzuschließen. Die verblockten Figuren lassen die Kompositionen jedoch statisch wirken, wenn der Meister auch bereits mit Hilfe der Komposition, meist durch Einfügen von Bergen oder hohen Gebäuden im Hintergrund (z.B. in der „Flucht nach Ägypten“) Bewegung verdeutlichen wollte.
Die von der Belvedere-Mitarbeiterin Stephanie Jahn durchgeführten kunsttechnologischen Untersuchungen konnten aufgrund der Fugenverläufe der Holzbildträger zweifelsfrei belegen, dass die weltweit verstreuten Tafeln des Meisters von Schloss Lichtenstein ursprünglich einen einzigen Doppelwandelaltar gebildet haben. Die Untersuchungen der Jahresringe des Holzes (Dendrochronologie) haben zudem ergeben, dass das Retabel nicht vor 1442 entstanden sein kann. Während in der älteren Literatur (Baldass 1935, Benesch 1930, Karling 1938/1940 – Benesch und Karling plädierten bereits für einen Retabel mit Skulpturenschrein) eine heftige Kontroverse darüber geführt worden war, wie viele Retabel sich aus den erhaltenen Tafeln rekonstruieren lassen bzw. ob sie überhaupt zur gleichen Zeit entstanden sein könnten, hat die jüngere Forschung aufgrund der weiten Zerstreuung der Tafeln auf verschiedene Institutionen und auch der fehlenden Informationsgrundlage auf eine Klärung der Frage bislang verzichtet.1 Die technologische Untersuchung brachte nun Licht in die Entstehungsgeschichte der Gemälde: Wenn auch die Schreinskulpturen und das Rahmenwerk verloren und die Tafeln schon zu einem unbekannten Zeitpunkt vor 1825 auseinandergeschnitten sowie in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden sind, so lassen sie sich trotz stilistischer Unterschiede zu einem monumentalen Werk zusammenführen.
Die zweite wichtige Frage, die zu klären anstand, war den Meister von Schloss Lichtenstein geografisch und zeitlich zu verorten. Den Rahmen dafür bildet die Hinwendung v.a. der altniederländischen Künstler (insbesondere Robert Campin (Meister von Flémalle), Hubert und Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, u.a.) zu höchstem Detailrealismus, ein neues Verständnis von Raum und Volumen, das sich auch in blockhaft aufgefassten Figuren, Lichtführung und Schattenwurf sowie der hohen Bedeutung der Landschaftshintergründe ausdrückte. Diese niederländischen Anregungen finden sich v.a. in den qualitätsvolleren Marien-Tafeln in der atmosphärischen Qualität der Landschaft, in den plastischen Schilderungen von Objekten und Figuren, dem Realismus der Wiedergabe von Dingen und einem höheren Bewusstsein für Räumlichkeit im Vergleich zu älteren Wiener Gemälden. Vergleichbar ist dieser Wandel mit Künstlern aus Kunstzentren des Deutschen Reiches in der zweiten Hälfte der 1430er Jahre, wo die Errungenschaften der altniederländischen Künstler für Furore sorgten: Konrad Witz in Basel, Hans Multscher in seinem Wurzacher Retabel, der Meister des Tucher-Altars in Nürnberg, die Madonna des Abtes Wolfhart Strauss in Regensburg zeigen alle diese Tendenz zur Monumentalisierung der Figuren und eine blockhafte Modellierung.
Dass der Meister von Schloss Lichtenstein als „Wiener“ um 1440 bis 1450 diesen Modernisierungsschub zu verantworten hatte, zeigen nun erstmals die Infrarotreflektografien (IRR). Hierbei werden die Gemälde mit Infrarot-Strahlen mit verschiedenen Wellenlängen bestrahlt, diese werden von IR-Strahlen absorbierenden Materialien wie Kohle nicht reflektiert, weshalb die Unterzeichnungen auf den Fotografien als schwarze Linien erscheinen. Der Vergleich zwischen den vorbereitenden Zeichnungen und der ausgeführten Malerei muss erstaunen, da der Ausführende der Vorzeichnung noch deutlich dem älteren Stil verhaftet war und die gemalte Endversion die Modernisierung deutlich aufweist. Die Faltenwürfe waren viel gebrochener und auch deutlich mehr, während die gemalten Figuren kompaktere Formen und ihre Gewänder weniger aufgewühlt erscheinen. Mit dieser Stiländerung innerhalb der Ausführung muss eine Änderung des Verantwortlichen verbunden gewesen sein. Der Meister von Schloss Lichtenstein übernahm die ältere Ikonografie, die deutlich mit der Wiener Tradition verbunden ist, machte in der Ausführung jedoch markante Änderungen, die ihn mit der alt-niederländischen Malerei ab 1430 in Verbindung bringt. Belegt wird das durch den Vergleich mit Tafeln und Zeichnungen vom Meister des Andreasaltars, vom Meister der St. Lambrechter Votivtafel sowie vom Meister der Darbringung. Vor allem der Vergleich mit dem „Marientod“ (Klosterneuburg, Stiftsgalerie) des Meisters der Darbringung, der ebenfalls als das letzte Gebet der Muttergottes formuliert ist, ließ den Meister von Schloss Lichtenstein als in der böhmischen und österreichischen Tradition stehend erscheinen.2 Mit dem Fund der Vorzeichnungen verkompliziert sich diese Situation, da sich inzwischen zweifelsfrei gezeigt hat, dass die vorzeichnende Hand älter Vorlagen übernahm, die vom Maler stilistisch überarbeitet aber nicht mehr kompositorisch und ikonografisch verändert wurden. Aus diesen Fakten lassen sich sowohl Entstehungsort und –zeit ungefähr eingrenzen.
Ob der Meister von Schloss Lichtenstein ein Mitarbeiter der berühmten Werkstatt von Jakob Kaschauer war, wie die Kunsthistorikerin Antje-Fee Köllermann im Katalog emphatisch ausführt, muss aufgrund der geringen Informationslage jedoch als Spekulation deutlich gemacht werden. Jakob Kaschauer und seine Werkstatt sind die prominentesten Produzenten von großformatigen Wandelaltären mit skulpturaler Ausstattung im Zentrum im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts, wobei der Meister selbst nur als Maler bezeichnet wird und sich daher die Frage stellt, ob die erhaltenen Skulpturen von Mitarbeitern oder ihm selbst ausgeführt wurden. Für ihn und seine Werkstatt nur die vier Skulpturen des Freisinger Altars (am 28. Juni 1443 wurde dieser in Thalhausen bei Freising in der Kirche St. Anna aufgerichtet) dokumentarisch gesichert sind und keine Tafelbilder, steht die Zuschreibung der Tafeln des Meisters von Schloss Lichtenstein auf höchst tönernen Füßen! Ob die Forschung3 hier der Expertin folgen wird, wird sich erst in den folgenden Jahren zeigen. In der Ausstellung sind eine Kopie der „Madonna des Freisinger Hochaltars“ (Wien, 1443) sowie die Werkstatt-Arbeit eines „Thronenden hl. Papst (hl. Petrus?)“ (Wien, um 1440/50) zu sehen.