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Wien | Kunstforum: Helmut Newton Legacy Retrospektive zum 100. Geburtstag | 2022

Helmut Newton, Fashion, Melbourne, 1955 © Helmut Newton Foundation

Helmut Newton, Fashion, Melbourne, 1955 © Helmut Newton Foundation

Monumental, sexy, selbstbewusst – so zeigt sich die typische Newton-Frau. Mit der Retrospektive „Helmut Newton Legacy“ feiert das Kunstforum im Herbst 2022 den 100. Geburtstag des Berliner Fotografen (1920–2004) – coronabedingt verzögert, aber umso umfassender mit ca. 300 Arbeiten, die Newtons gesamtes Schaffen dokumentieren.

Wer war Helmut Newton?

Das Werk von Helmut Newton fasziniert und provoziert bis heute. Der 1920 in Berlin in eine jüdische Familie geborene Helmut Neustädter erhielt eine zweijährige Ausbildung bei der renommierten Fotografin Yva (Else Neuländer-Simon). Im Alter von 18 Jahren gelang ihm die Flucht vor den Nationalsozialisten in Richtung Asien – mit dem Zug nach Triest und per Schiff in Richtung Singapur. Ein erstes Engagement als Fotoreporter bei „The Straits Times“ dauerte nur zwei Wochen, bevor er wegen „Unfähigkeit“ entlassen wurde. Erst 1946 sollte der Emigrant, der sich nun Newton nannte, ein Fotostudio in Melbourne, wo er seit 1940 lebte, eröffnen. Es sollte zehn Jahre dauern, bis ihn die australische „Vogue“, gefolgt von der britischen, engagierte. Es folgten vierzig Jahre intensiver Arbeit zwischen Europa und den USA. Helmut Newton prägte spätestens ab den 1970er Jahren das Frauenbild, indem er die sexuelle Revolution als Ausgangspunkt nahm, und Frauen in dominanter Position inszenierte. Dies gefiel nicht jeder, darunter „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer, die Newtons Bilder 1993 als sexistisch, rassistisch und faschistisch brandmarkte. Wie sich das heutige Publikum den Mode- und vor allem Aktfotografien gegenüber verhält, wird die öffentliche Debatte zu dieser Ausstellung zeigen. Nur eines soviel: Erstaunlich selten haben Newtons Modelle einen Namen, was den Eindruck verstärkt, dass die entindividualisierten Frauen als „Material“ des Fotokünstlers betrachtet werden.

Newton in Wien

Zeitlebens dachte der Fotograf an das gedruckte Bild, als Anlass für seine Aufnahmen – doch zugegeben funktionieren sie auch im Ausstellungsraum. Ein erster Blick in die Ausstellung zeigt schnell, wie ikonisch seine Modefotos geworden sind, wie sehr sie für einen Zeitgeist stehen, und wie er Frauen als selbstbestimmte, starke, sich ihrer Sexualität bewusste Menschen inszenierte. Männer scheinen so gut wie keine Rolle in seinem Werk gespielt zu haben – mit wenigen Ausnahmen in seiner Porträtfotografie.

Die Ausstellung in Wien eröffnet mit zwei Aufnahmen aus dem Shooting „Rue Aubriot, Yves Saint Laurent, Paris 1975“ für die September-Ausgabe der französischen „Vogue“. Der schmal geschnittene Hosenanzug aus der Haute Couture-Linie 1975/76 von Yves Saint Laurent war durchaus revolutionär. Newton inszenierte ihn in einem ikonischen Bild: Schwarze, zurückgegelte Haare, eine Zigarette lässig in der rechten Hand, die andere im Hosensack und damit das Jackett leicht öffnend, den Blick nachdenklich gesenkt. So steht das Model in einer nächtlich beleuchteten Straße im Pariser Stadtteil Marais.1 Newtons Eleganz der 1970er Jahre trifft auf die „Neue Frau“ der 1920er, mag man assoziieren. Das Berlin der Goldenen Zwanziger – oder auch das Paris der Année Follers und Brassaï – prägten den Fotografen nachhaltig.
Die berühmte Fassung des Bildes zeigt das Fotomodell einsamen, eine zweite Aufnahme aus der gleichen Serie mit einem weiblichen Akt an seiner Seite, womit Newton die traditionelle Vorstellung einer Inspiration gebenden Muse und eines melancholischen Künstlers für seine Bildidee fruchtbar machte. Diese Aufnahme entstand nach dem offiziellen Shooting, quasi eine private Arbeit des Modefotografen. Sie war auch nicht für die Veröffentlichung in der „Vogue“ bestimmt, sondern wurde erst ein Jahr später in seine erste eigene Publikation mit dem Titel „White Women“ aufgenommen. Der Beginn der Ausstellung fasst die Essenz des reifen Newton in einem Bildpaar zusammen: Die Aufnahmen entstanden an der schmalen Linie zwischen Kommerz und Kunst. Mit seinen Bildern überschritt Newton früh die Grenze des ehemals Sittlichen und erweiterte sie durch eigene Publikationsprojekte - heute zensurierte Google die Bilder Ausstellung. Gleichzeitig öffneten sich Museen und Galerien in den 1970er Jahren der Fotografie als Kunstforum, weshalb Newtons Bilder zunehmend in Ausstellungen gewürdigt wurden. Bestimmten in den Modemagazinen Art Direktoren Bildausschnitt und Reihenfolge, konnte Helmut Newton im muesalen Raum frei über das Material verfügen und seine eigenen Geschichten an den Wänden erzählen.

Im linken Ausstellungsraum macht die Erzählung eine Rückblende: Als Helmuit Newton 1957 mit einem Jahresvertrag für die britische Ausgabe der Vogue nach Europa zurückkehrte, war er fest entschlossen, Modefotograf zu werden. Doch die Rückkehr des 1938 Geflohenen stellte sich noch als einfach dar. Nach ihrem Europa-Trip und einem vorzeitig abgebrochenen Jahr in London ließen sich Helmut und seine Frau June eine Zeitlang in Paris nieder, kehrten kurz nach Australien zurück, um 1961 schließlich endgültig nach Paris zu ziehen. Waren seine Aufnahmen in den 1950ern noch von einer weichen Linienführung geprägt, wandte sich Newton in den 1960ern dem erzählerischen Bild zu. Detektivgeschichten und der Film noir prägten seine Ästhetik, die vom Geheimnis des fruchtbaren Moments lebt. Seien es glamouröse Inszenierungen von Pelzmänteln oder die durch Gänge springende Twiggy, immer stellt sich das Gefühl ein, einen kurzen Moment einer unerzählten Geschichte zu erhaschen.

 „Als ich bei der französischen Vogue anfing, das war ’61, zeigte ich innerhalb kurzer Zeit, sagen wir inner-halb von sechs Jahren, oder versuchte zumindest zu zeigen, wie meine Heldin – die Frau aus dem XVI. Arrondissement – lebte. Ich meine, so lebte sie in meinen wildesten Träumen. Weißt du, vielleicht lebte sie in Wirklichkeit gar nicht so, aber in meinen wildesten Träumen wollte ich, dass sie genau so lebt.“ (Helmut Newton)

Im begleitenden Katalog betont Matthias Harder, dass Newton nicht nur in den 1960ern seinen Stil fand, sondern dass er dafür auch einen adäquaten Sparringspartner, anfangs André Courrèges (1964 für die britische Zeitschrift Queen), gefolgt von Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld oder Thierry Mugler, benötigte.2 oder genauer: „Die teilweise strikten Rahmenbedingungen und hohen Erwartungen seiner Auftraggeber waren für ihn gleichzeitig ein Anreiz, gegen traditionelle Darstellungsmodi zu opponieren.“3 So ließ er seine Modelle auf Straßen posieren, was in den 1960ern als subtiler Hinweis auf die Student:innenbewegung gelesen werden konnte. Newtons Inszenierungen schwanken zwischen Realem, dem Möglichen und der Fiktion, was sie zu außergewöhnlichen Bildern in den Modemagazinen machte. Das Ergebnis überzeugte offenbar die Art-Direktoren der Blätter, könnte der Fotograf doch für seine Shootings seine eigenen Ideen umsetzen und beispielsweise für eine Bademodenstrecke in der amerikanischen Vogue 1971 auf Hawaii einen Hubschrauber bestellen.

Ende der 1960er Jahre nahm sich der Fotograf selbst mit ins Bild, wenn der vor einem Spiegelkabinett fotografierte und so gleichsam zum Pas-de-deux mit dem Modell antrat. Hier wird eine weitere Eigenheit Newtons deutlich sichtbar: seine Vorliebe für außergewöhnlich niedrige Kameraführung, die zu ungewöhnlichen Perspektiven und Verzerrungen führt. Dadurch erhalten seine Modelle jedoch eine dominante Position innerhalb des Bildraums.
1981 führte der Fotograf dieses Konzept zu einem Höhepunkt, indem er in „Self-Portrait with Wife and Models“ nicht nur ein stehendes Aktmodell, von einem zweiten sind nur die Beine in hochhackigen Schuhen zu erkennen, sich selbst im Trenchcoat sowie seine Ehefrau auf einem Regiestuhl ablichtete. Der Fotograf enthüllte, wie die Illusion Modefotografie gemacht wird. Wie er als Mann hinter der Kamera jedoch von Frauen abhängig war, und dass die hocherotischen Aufnahmen unter dem wachsamen Blick von June Newton entstanden, die selbst als Alice Springs eine Karriere als Fotografin hatte. Dass mit diesem Bild eigentlich der Regenmantel beworben werden soll, geht nur aus dem Kontext hervor. Helmut Newton hatte kurzfristig den Auftrag erhalten, für die italienische L’Uomo Vogue zu shooten und posiert deshalb selbst als Modell. June wollte ihren Mann zum Mittagessen abholen und wusste nicht, dass sie in die Komposition integriert wurde. Spontaneität und die Verführungskraft des nackten, weiblichen Körpers ergänzen einander zu einem Spiel mit verschiedenen Interpretationsebenen.

In den 70ern präsentiert Helmut Newton Mode und Modelle im städtischen Umraum, Eleganz und Luxus dominieren seine Bilder. Nachdem er 1971 während eines Shootings in New York einen Herzinfarkt erlitten hatte, wurde der Fotograf in seiner Arbeit wählerischer. Zum einen konnte sich der gut gebuchte Newton jene Aufträge, die er interessant und herausfordernd empfand, aussuchen. Zum anderen fotografierte er nach getaner Arbeit in dem zur Verfügung gestellten Setting samt Models und Stylisten privat weiter. So entstanden über Jahre jene etwas offeneren und freizügigeren Aufnahmen, die er ab 1976 in eigenen Bildbänden veröffentlichte. Diese Shootings bereiteten die Aktfotografie Newtons vor, die ab dem 1980er Jahren zum „signature work“ des Kreativen zählen.

Im Hauptraum des Kunstforum Wien stehen sie überlebensgroß Seite an Seite: Newtons „Big Nude“, die er in Paris 1980 fotografierte, sowie „Naked and Dressed“ für die französische „Vogue“, in Paris 1981 geshootet. Der deutsch-australische Fotograf bat die Fotomodelle nach der Inszenierung in der gleichen Pose nochmals nackt zu modeln, und die „Vogue“ druckte es. Nicht die Kleider machen die Leute, wenn man dieses Sprichwort bemühen darf, sondern das Selbst- und Körperbewusstsein der Frauen macht sie zu starken, ihr Leben bestimmende Menschen. Dass diese Selbstermächtigung vor der Kamera stattfindet und mit einem gehörigen Schuss Erotik sowie Fetischismus gewürzt ist, wird nicht nur durch die überlebensgroße Aufnahme eines hochhackigen, jedoch in den Knöchel stechenden Schuhs deutlich. Geschlecht – und das mag Newtons Kunst dann doch wieder sehr zeitgebunden erscheinen lassen – ist das, was Modewelt und Konsumkultur konstruieren. Diesbezüglich wagte sich Newton nicht auf neues Terrain, provozierten doch bereits seine starken, erotischen Frauen.

Die Schau präsentiert Helmut Newton mit ikonischen Fotos aber auch mit bisher nicht gezeigten Arbeiten. Das Ziel, auch unbekanntere Aspekte zu beleuchten und den Blick auf ein Gesamtwerk im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz zu lenken, ist gelungen. Bilder hängen teils in „Wolken“, die ohne Beschriftung auskommen, und teils in Reih und Glied. Modejournale in Vitrinen vermitteln die kommerzielle Nutzung der Bilder. Die Kurator:innen verwenden Fotografien in unterschiedlichen Größen, was die Schau nicht nur auflockert, sondern auch gekonnt die Kurvatur der Räume ausnutzt.

Kuratiert von Matthias Harder, Helmut Newton Stiftung Berlin, und Evelyn Benesch, Kunstforum.
Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit der Helmut Newton Stiftung Berlin.

Helmut Newton in Wien: Bilder

  • Helmut Newton, Fashion, Melbourne, 1955 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Mansfield, British Vogue, London, 1967 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Crocodile, Pina Bausch Ballett, Wuppertal, 1983 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Chicken and Bulgari Jewels, French Vogue, Paris, 1994 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Rue Aubriot, Yves Saint Laurent, French Vogue, Paris, 1975 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Elle, Paris, 1969 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Woman examining man, Calvin Klein, American Vogue, Saint-Tropez, 1975 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, John Bates, British Vogue, London, 1966 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Prada, Monte Carlo, 1984 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Romy Schneider, Paris, 1974 © Helmut Newton Foundation
  • Helmut Newton, Tied-up Torso, Ramatuelle, 1980 © Helmut Newton Foundation
  1. Helmut Newton hatte seine Pariser Atelierwohnung in 4, Rue Aubriot, Marais.
  2. Matthias Harder, Elegante Dekadenz und subtile Provokation, in: Newton, 2021, S. 13.
  3. Ebenda, S. 13.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.