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Fashion Drive. Extreme Mode in der Kunst Diskussion zum vestimentären Ausdruck im Kunsthaus Zürich

Fashion drive, Kunsthaus Zürich 2018

Fashion drive, Kunsthaus Zürich 2018

Von der Schlitzmode über die Schamkapsel zu Haute Couture und Streetwear: 200 Werke zeugen davon, wie Kunstschaffende die Modewelt über Jahrhunderte wahrgenommen, kommentiert und beeinflusst haben. Die Ausstellung reicht von malerischen und plastischen Erscheinungen der Renaissance bis in die Gegenwart. Sie umfasst Gemälde, Skulpturen, Installationen, Grafiken und Aquarelle, Fotografien, Filme, Kostüme und Rüstungen von rund 60 Künstlerinnen und Künstlern. Mode ist mehr als Körperverhüllung, ist Selbstausdruck, Machtdemonstration, markiert Zugehärigkeiten und hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts gravierend verändert (→ Cathérine Hug: „Es ist keine Sünde, wenn man sich mit Mode befasst.“).

Renaissance und Barock

Den Auftakt der Schau machen Gemälde aus dem 16. Jahrhundert: Schlitzmode und Schamkapsel galten in der Renaissance als der letzte Schrei – dabei finden wir die Anziehungskraft zerrissener Kleider, die auf jene Zeit zurück geht, bis heute wieder. Im darauffolgenden Barock stritten die Halskrause und das Dekolleté miteinander. Als Zeichen der Aufklärung und der Loslösung von religiösen und standesbedingten Zwängen sind sie in Porträts von intro- und extrovertierten Persönlichkeiten dieser Zeit präsent. Monarchen wie Elizabeth I. und Louis XIV. gehörten dabei zu den frühsten Herrschern mit Weltruhm, die ihre Macht auch systematisch über ihre Garderobe inszenierten und festigten. In ganz Europa fanden sie Nachahmerinnen und Nachahmer.

Rokoko und Französische Revolution

Dass Mode und Design zu einem hedonistischen Lebensstil verschmelzen, der andere ausschließt, erfährt der Betrachter im Kapitel vom Rokoko zur Französischen Revolution. Damals bereits ist nachweisbar, dass Künstler die Mode inspirieren: die eigenwillige Falte an der hinteren Schulterpartie ist nach dem Maler Antoine Watteau benannt. Augenfällig illustriert werden diese Neuerungen und Extreme anhand der Gemälde von Marie-Antoinette, der „Merveilleuses [die  Wunderbaren]“ und ihren männlichen Pendants, der „Incroyables [die Unglaublichen]“.

Premier Empire und Wiener Kongress

Das Erste Kaiserreich und der Wiener Kongress bringen eine Rückbesinnung auf antike Werte hervor. In den Darstellungen dieser Zeit erkennt man neben den Militär - nun auch Dienstuniformen. Einflussreiche Salondamen wie Juliette Récamier lassen sich porträtieren und inspirierten ihre Umgebung nicht nur zu neuen Möbeln, sondern auch zu neo-klassizistischen Auftritten. Trotz Napoleons Fall: Noch bestimmen die Pariser, was Mode ist. Diese Ausstellung wirft jedoch ein neues Licht auf die Bedeutung des Wiener Kongresses (1814–1815) zur Neuordnung Europas. Erstmals reisten einflussreiche Herrscher gemeinsam mit ihren Gattinnen an. Es wurde verhandelt, aber noch mehr gefeiert, was eine entsprechende Garderobe verlangte und eine emsige lokale Produktion hervorrief. Formen und Techniken dieser Schneiderkunst sind in Märtyrer-Darstellungen ebenso auffindbar wie in Siegerposen.

Fort- und Rückschritt in der Gründerzeit

Der Besucher kann sich auf ein nuancenreiches Spiel einlassen. Findet er die Details, die in der akademischen Malerei Einen Gentleman vom Dandy unterscheiden? Galten diese männlichen Typen als modern, erstaunt es umso mehr, dass die Damen zur selben Zeit wieder den Reifrock angelegt bekamen. Künstler reagierten darauf fassungslos bis amüsiert, wie man an Werken von Edouard Manet, Félix Vallotton, Contessa di Castiglione und heute John Baldessari unschwer erkennen kann. Ihre Darstellungen kippen ins Genre der Karikatur.

Mode Macht Masse

Konsequenterweise kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zur Befreiung des Körpers. Mode erhielt eine breitere Öffentlichkeit, wurde erschwinglich und über Kaufhäuser verbreitet. Progressive Künstlerinnen und Künstler wie Gustav Klimt – Emilie Flöge, Henry van de Velde, und die Futuristen Giacomo Balla und Filippo Marinetti entwerfen Kleider. Dadaisten definierten, wie sie es bereits mit der Sprache versuchten, den Zweck der Bekleidung neu. Kunst- und Modefotografie nähern sich an (Man Ray) und russische wie französische Avantgardistinnen (Natalja Gontscharowa, Sonia Delaunay → Sonia Delaunay. Malerei, Design und Mode) reagieren mit eigenen Entwürfen. Das Ornament ist in Mode und wird eingewebt oder gedruckt – in Bildfindungen des Jugendstils ebenso wie in die Kleidung.

Seither ist die anfangs idealistisch gemeinte Verbindung von Kunst und Mode auch kommerziell noch gewachsen. Der Personenkult verbindet Modemacher mit den Künstlern der Pop Art. Beide setzen auf Ikonen, nutzen laute, plakative Symbole und Slogans, wie die Werke von James RosenquistAndy Warhol und Franz Gertsch bezeugen. Die Jugend- und Subkulturen werden für Künstler wie Modemacher gleichermaßen inspirierend. Mode wird ganz handfest künstlerisches Material.

Beyond Fashion. Die neue Nachdenklichkeit

Von der Haute Couture über das Prêt-à-porter zu Fast Fashion: In ihrem letzten Kapitel spannt die Ausstellung einen Bogen bis zur Nachhaltigkeit und zu posthumanen Visionen. Künstlichkeit, die (De)konstruktion des Körpers und eine Kritik am Markenkult markieren die künstlerische Produktion im 21. Jahrhundert. Seit Michelangelo Pistoletto leistet eine junge Generation mit Installationen, Performances und Videos Widerstand für ein ethisch, ökologisch und politisch korrektes Verhalten.

Fashion Drive. Extreme Mode in der Kunst im Kunsthaus Zürich

Ein Catwalk mit Schlaglöchern! Mehrere Jahrhunderte Kunst-, Mode- und Sozialgeschichte werden in der Schau vernetzt reflektierbar und sinnlich erlebbar gemacht. Der auf 1000 m2 und im Rahmen der Festspiele Zürich angelegte Parcours wird von einer Publikation und Veranstaltungen gesäumt.

Zu den besonders sehenswerten Objekten gehört ein Faltenrockharnisch (um 1526, KHM), Gemälde der English School wie Robert Peakes Porträt der „Gentlewoman of the Privy Chamber to Queen Elizabeth I“ (um 1600, Privatsammlung) in einem kostbar bestickten Seidenkleid. Die Ausstellung berücksichtigt die Darstellung von Herren- und Damenmoden gleichermaßen. Und sie ist durchaus kritisch.

Karikaturen aus der Lipperheideschen Kostümbibliothek in Berlin nehmen die Fashionistas und Designer des 19. Jahrhunderts aufs Korn. Und wenn Jakob Lena Knebl (* 1970) Skulpturen von Maillol und Rodin einkleidet, die sonst souverän ihre Nacktheit zur Schau tragen, geht es der „hohen Kunst“ an den Kragen (→ Jakob Lena Knebl: „Ich gönn‘ mir jetzt diesen Hedonismus!“). Die Künstler und das Publikum sind sich der zwei Seiten der Mode – besser, des Modetriebs – bewusst. Inspiration, Innovation und Selbstermächtigung des Individuums einerseits stehen Ausgrenzungstendenzen und Ressourcenverschleiß gegenüber.

Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler

Hans Asper, Charles Atlas und Leigh Bowery (→ EXTRAVAGANZA - Staging Leigh Bowery), Hugo Ball, Giacomo Balla, John Baldessari, Joseph Beuys, Erwin Blumenfeld, Giovanni Boldini, Pierre Bonnard, Elisabeth Louise Vigée Lebrun, Daniele Buetti, Paul Camenisch, Contessa di Castiglione und Pierre-Louis Pierson, Joos van Cleve, Isaac George Cruikshank, Salvador Dalí, Honoré Daumier, Albrecht Dürer, Nik Emch, Esther Eppstein, Max Ernst, Hans-Peter Feldmann, Sylvie Fleury, Emilie Flöge - Gustav Klimt, Heinrich Füssli (→ Johann Heinrich Füssli. Drama und Theater), Franz Gertsch, James Gillray, Natalia Gontscharowa (→ Chagall bis Malewitsch. Russische Avantgarden), Jacques Grasset de Saint-Sauveur, George Grosz, Richard Hamilton, Hannah Höch, Johann Nepomuk Höchle, Beat Huber, Jean Baptiste Isabey, Tobias Kaspar, Franz Krüger, William Larkin, Tamara de Lempicka, Les Frères Lumière, K8 Hardy, Jakob Lena Knebl, Herlinde Koelbl, Jirí Kovanda und Eva Kotátková, Inez van Lamsweerde & Vinoodh Matadin, Peter Lindbergh, Nicolaes Maes, Édouard Manet, Manon, Malcom McLaren & Vivienne Westwood, Anna Muthesius, Meret Oppenheim, Robert Peake, Mai-Thu Perret, Suzanne Perrottet, Michelangelo Pistoletto, Charles Ray, Man Ray, Hyacinthe Rigaud, James Rosenquist, Tula Roy und Christoph Wirsing, Ashley Hans Scheirl, Michael E. Smith, Karl Stauffer-Bern, Elsa Schiaparelli, Wolfgang Tillmans (→ Wolfgang Tillmans. Neue Welt), James Tissot, Félix Vallotton, Carle Vernet, Madeleine Vionnet, Édouard Vuillard, Andy Warhol, Jan Weenix, Mary Wigman, Charles Frederick Worth, Erwin Wurm, Andreas Züst.

Kuratiert von Cathérine Hug und Christoph Becker.

(Quelle: Pressetext)

Fashion Drive. Extreme Mode in der Kunst: Bilder

  • Joos van Cleve, Der Selbstmord der Lucretia, 1515–1518, Öl auf Eichenholz, 47,7 x 35,3 cm (Kunsthaus Zürich, Ruzicka-Stiftung 1949)
  • Faltenrockharnisch, um 1526, Wohl im Besitz von Albrecht, Markgraf von Brandenburg, Herzog von Preußen, Blankes Eisen, teilweise geätzt: mit schwarzen Farbfüllungen, Leder (Kunsthistorisches Museum Wien, Hofjagd- und Rüstkammer)
  • Hans Asper, Herrenporträt Wilhelm Frölich. Ganzfiguriges Bildnis mit Wappen und Oberwappen der Familie Frölich, 1549, Öl und Tempera auf Holz, 213 x 111 cm (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich)
  • Robert Peake, Catherine Carey, Countess of Nottingham, um 1597, Öl/Lw, 198,1 x 137,2 cm (Privatsammlung, Courtesy of The Weiss Gallery, London)
  • William Larkin, Portrait of Diana Cecil, later Countess of Oxford, circa 1614−1618, Öl/Lw, 206 x 120 cm (Iveagh Bequest (Kenwood, London)
  • Elisabeth Louise Vigée-Lebrun, Marie-Antoinette en Chemise, 1783, Öl/Ln, 89,8 × 72 cm (Hessische Hausstiftung, Kronberg)
  • Unbekannter Künstler, Départ des Amateurs de L'île St. Ouen, um 1805, Radierung, mit Wasserfarbe handkoloriert, 21,2 x 26,2 cm (Platte); 24,3 x 30,5 cm (Blatt) (Staatliche Museen zu Berlin – Kunstbibliothek)
  • Honoré Daumier, De l'utilité de la crinoline pour frauder l'octroi [Vom Nutzen des Reifrocks, um den Zoll zu betrügen], In: Le Charivari, 19.06.1857, Lithographie, 20,8 x 26,7 cm (Kunsthaus Zürich)
  • Édouard Manet, Jeanne Duval, la Maîtresse de Baudelaire (La Dame à l’éventail), 1862, Öl/Ln, 89,5 x 113 cm (Museum of Fine Arts, Budapest)
  • Giovanni Boldini, Le Comte Robert de Montesquiou (1855–1921), 1897, Öl/Lw, 116 x 82,5 cm (Musée d’Orsay, Paris, Foto © RMN-Grand Palais (Musée d’Orsay)/Hervé Lewandowski)
  • Giacomo Balla, Bozzetto per vestito da uomo [Entwurf für ein Männergewand], 1914, Aquarell auf Papier, 29 x 21 cm (Fondazione Biagiotti Cigna, © 2018 ProLitteris, Zürich)
  • Max Ernst, Au dessus des nuages marche la minuit. Au dessus de la minuit plane l’oiseau invisible du jour. Un peu plus haut que l’oiseau l’éther pousse et les murs et les toits flottent, 1920, Fotografische Vergrößerung nach der gleichnamigen Fotomontage, 53 x 55 cm (Kunsthaus Zürich, © 2018 ProLitteris, Zürich)
  • Tamara de Lempicka , Kizette en rose, 1927, Öl/Lw, 116 x 73 cm (Musée d’Art de Nantes, Foto © RMN-Grand Palais / Gérard Blot © Tamara Art Heritage / 2018 ProLitteris, Zürich)
  • Steve Schapiro, Porträt von James Rosenquist, gekleidet in einem Papieranzug, New York, 1966, Schwarzweissfotografie (Courtesy James Rosenquist Studio / Steve Schapiro, © Steve Schapiro)
  • Michelangelo Pistoletto, Metamorfosi, 1976–2017, Spiegel, Lumpen, Installationsansicht Abu Dhabi Art Fair, 2013 (Courtesy Galleria Continua, Foto: Lorenzo Fiaschi, © Michelangelo Pistoletto)
  • Peter Lindbergh, Linda Evangelista, Christy Turlington & Naomi Campbell, Brooklyn, 1990, Ausstellungsabzug, Hahnemuhle Photo Rag® Baryta 315 gr, 60 x 50 cm (Courtesy Peter Lindbergh, Paris, © Peter Lindbergh)
  • Wolfgang Tillmans, Christos, 1992, Farbfotografie, 60,8 x 50,7 cm (Kunsthaus Zürich © Wolfgang Tillmans)
  • John Baldessari, Double Bill: …And Manet, 2012, Lackierter Inkjet-Druck auf Leinwand mit Acryl- und Ölfarbe, 152,4 x 152,4 cm (Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York © John Baldessari)
  • Mai-Thu Perret, Flow My Tears I, 2011, Mannequin mit Glaskopf, Kopie von Elsa Schiaparellis Skelett-Kleid nach einem Entwurf von Salvador Dalí, 1938, hergestellt von Naoyuki Yoneto, 175 x 70 x 70 cm (Courtesy the artist and Galerie Francesca Pia, Zürich © Mai-Thu Perret)
  • Jakob Lena Knebl, Chesterfield, 2014, Digitaldruck, Format variabel (Courtesy of Jakob Lena Knebl, Foto: Georg Petermichl)
  • Sylvie Fleury, Mondrian Dress Rack, 1993/2016 (Detail), 3 Mondrian-Kleider, 1 Kleiderständer, 3 Kleiderbügel, Masse variabel (Courtesy the artist and Karma International, Zurich und Los Angeles © Sylvie Fleury)
  • Sylvie Fleury, Untitled, 2016, Acryl auf Leinwand, 125 x 125 x 10 cm (Courtesy the artist and Karma International Zurich, Los Angeles and Mehdi Chouakri Berlin © Sylvie Fleury)
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.