Gleißendes Licht von Bruce Naumans „Lighted Center Piece“ (1967/68) empfängt die Besucherinnen und Besucher in der Schau „Giacometti–Nauman“ in Frankfurt. Das Licht und seine Reflexion sind so hell, dass die Augen schmerzen. Gegenüber, wenn auch in sicherer Entfernung, steht Alberto Giacomettis „L’objet invisible (Mains tenant le vide)“ (1934/35). Das titelgebende Objekt, das die Figur Giacomettis hält, ist unsichtbar und wird nur durch die Handhaltung erahnbar. Dieses genaue Betrachten möchte Kuratorin Esther Schlicht herausfordern – sogar wenn es weh tut, sogar wenn es unmöglich scheint. Genau hinzustehen, befähigt, die beiden so bekannten Künstler in neuem Licht zu sehen. Dabei geht es in der Schirn weniger um das Wie ihrer Arbeitsweisen, sondern das Was! Ein überraschender Vergleich, ausgehend von Leitbegriffen, der rundum gelungen ist!
Deutschland | Frankfurt: Schirn
28.10.2016 – 22.1.2017
Sie sind einander nie begegnet, es gibt weder eine Aussage des Jüngeren über den Älteren noch eine Arbeit, aus der sich die Bedeutung des einen für den anderen ableiten ließe. Auch ist Bruce Naumans Werk wohl nur im weitesten Sinne als skulptural zu beschreiben. Weder biografische Verknüpfungen und noch stilistische Parallelschwünge lassen die Werke von Bruce Nauman und Alberto Giacometti einfach korrelieren – einzig vielleicht der Umstand, dass beide als Maler begannen, um sich rasch für die Bildhauerei bzw. Objekt- und Medienkunst zu entscheiden. Zentrale Leitbegriffe und Fragestellungen sind es, die Esther Schlicht interessiert, und die sie miteinander konfrontiert: der menschliche Körper, die conditio humana, die Hand des Künstlers, das Atelier, die mit hohem Arbeitsethos kompromisslos gestellten Fragen– auch wenn dadurch Werke prinzipiell nicht abzuschließen waren bzw. noch immer nicht sind.
Als Bruce Nauman 1941 geboren wurde, befand sich Alberto Giacometti (1901–1966) in einer existentiellen Krise. Der Bildhauer aus der Schweiz musste wegen drohender Kriegsgefahr Paris den Rücken kehren und in die Eidgenossenschaft zurückkehren. Der wegen eines verkrüppelten Fußes als untauglich eingestufte Künstler verbrachte die Jahre des Ersten Weltkriegs in einem Genfer Hotelzimmer, in das er säckeweise Gips hineinschleppte aber nur streichholzschachtelgroße Skulpturen heraustrug. Giacometti hatte sich nach einer surrealistischen Phase erneut der menschlichen Figur zugewandt, deren Fernbild er verzweifelt festzuhalten, oder besser aus seinem Gedächtnis zu destillieren suchte. Mit den nach 1946 geschaffenen Plastiken seines reifen und späten Werks revolutionierte er aus vielerlei Hinsicht die Darstellung des Menschen in der Skulptur (→ Alberto Giacometti Material und Vision). Seine Zeitgenossen – allen voran Jean-Paul Sartre selbst – stilisierten diese überschlanken, steil aufragenden, frontalen Figuren der 1950er und 1960er Jahre zu existentialistischen Wesen, die die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, Angst und Entfremdung in sich tragen würden. Die Ausstellung ist ein Zeichen, dass jüngst verstärkt die phänomenologischen Aspekte des Werks hervorgestrichen wurden, so Esther Schlicht im Gespräch.
Als sich Bruce Nauman 1962 entschied, sein Mathematik-Studium mit einer künstlerischen Tätigkeit zu ergänzen, sollte der inzwischen weltberühmte Giacometti gerade noch vier Jahre leben. Ursprünglich hatte sich Nauman wie sein 40 Jahr älterer Kollege mit Malerei beschäftigt, doch ab 1965/66 arbeitete er mit Performance, Objekten, Installationen, Film, Fotografie und Körperabgüssen. Nauman gehörte zu jener Generation an Bildhauern und Objektkünstlern, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Skulpturenbegriff radikal erweiterte (→ Skulptur seit 1946). In den folgenden Jahrzehnten erschloss sich Bruce Nauman auch die Medien Raumkonstruktion und Licht - vor allem über seine bekannten Korridore und Neonarbeiten. Keine Berührungspunkte zwischen Nauman und Giacometti, könnte man oberflächlich und schnell betrachtet, meinen.
Hochaufgerichtet und frontal steht Alberto Giacomettis „Femme debout IV [Stehende Frau IV]“ (1960, Bronze) mit ihren 2 Meter 70 in der Schirn. Wenn man sich ihr nähert, wird sie von einer unbehandelten Pressspanplatte von Bruce Naumans „Corridor with Mirror and White Lights“ (1971) und einer Ausstellungswand gerahmt.1 Bereits am Eingang der Ausstellung überrascht die „Gegenüberstellung“ von Naumans „Lighted Center Piece“ (1967/68) und Giacomettis „L’objet invisible (Mains tenant le vide)“ (1934/35). Hier wird bereits die technikbasierte Arbeitsweise des amerikanischen Künstlers im Kontrast zur traditionellen Plastik des Schweizers wie mit einem Paukenschlag deutlich – bei aller Begeisterung für das Immaterielle. Und Ähnliches lässt sich auch über das folgende Kapitel „Figur und Raum“ postulieren: Während Giacometti zeitlebens sich an der menschlichen Figur abarbeitete, um auch das Problem Raum zu behandeln (→ Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes), so erlaubte sich Bruce Nauman anfangs eine zweigeteilte Beschäftigung damit: Einerseits nutzte er ab 1965 seinen eigenen Körper in Performances und Videoarbeiten, um Bewegungsfähigkeit, Vermessungsmöglichkeit und auch die Grenzen des eigenen Körpers auszuloten, und andererseits schuf er Objekte, die vertikal und horizontal montiert, an Regale erinnern können, ebenso (Zwischen-)Räume vermessen (verdinglichen) und entfernt an die schlanken Formen von Giacomettis stehenden Frauen-Skulpturen gemahnen.
Dennoch war es Giacomettis unermüdliche Arbeit an den Serien von stehenden Frauen und schreitenden Männern, die es dem jüngeren Künstler u. a. ermöglicht hat, seine Reduktion der Plastiken noch weiter zu treiben. Die Zusammenführung von Alberto Giacomettis „Grande figurine (Femme Léonie) [Große Figurine (Frau Léonie)]“ (1947), „Femme debout [Stehende Frau]“ (1948/49) und „Femme debout IV [Stehende Frau IV]“ (1960) zeigt, wie sich der Schweizer Plastiker von porträthaften Gestalten (mit Haaren) zu immer überindividuelleren und idolhaft vergrößerten Figuren steigerte. Gemeinsam mit „Homme qui marche [Gehender Mann]“ (1960) sollte „Femme debout IV [Stehende Frau IV]“ (1960) auf der Chase Manhattan Bank Plaza stehen. Mehrere weitere Werke der Ausstellung – wie „La place, trois figures et une tête [Der Platz, drei Figuren und ein Kopf]“ (1950) – sind in diesem Kontext entstanden.
„Es weckte in mir den Wunsch, größere Figuren zu schaffen, diese wurden aber zu meiner Überraschung nur dann wirklichkeitsähnlich, wenn sie lang und dünn waren.“2 (Alberto Giacometti in einem Brief an Pierre Matisse, 1948)
Von Objekten aus Fiberglas oder Gummi wandte sich Bruce Nauman Mitte der 1960er Jahre der Arbeit mit dem eigenen Körper als „Material“ und der Frage nach der künstlerischen Tätigkeit im Atelier zu. Videos wie „Bouncing in the Corner“ (1968), bei dem er sich immer wieder in die Atelierecke warf, wären, so hielt der Künstler immer wieder in Interviews fest, aus ökonomischen Gründen entstanden. Er hätte kaum Geld gehabt, das Atelier wäre leer gewesen, und daher wäre er gezwungen gewesen, sich selbst zu erforschen und zu fragen, was einen Künstler als solchen definierte. Ergänzen ließe sich hier, dass auch seine Raumrecherche eine Art von Vermessungsarbeit darstellte: „Shelf Sinking into the Wall with Copper-Painted Plaster Casts of the Spaces Underneath“ (1966) führt das Regalbrett und die beiden darunterliegenden Abgüsse der Negativformen (des Raumes unter dem Regal) erklärend im Titel an. Wenn er sich in „Bouncing in the Corner“ zig Mal in die Ecke wirft, wird sein eigener Körper einmal mehr zum „Material“. Während Bruce Nauman meist sich selbst als „Objekt“ und „Material“ verwendete, um überpersönliche Aussagen treffen zu können, arbeitete Alberto Giacometti mit Modellen aus seinem direkten Umfeld, aus denen er jedoch im Lauf der Jahre immer mehr überindividuelle Strukturen ableitete, bis er zu den ikonischen Frauen- und Männerbildern gelangte. 40 Jahre vor Nauman hat Giacometti Bewegung, Balance, Schwerkraft, Körper und ihre plastische Voraussetzung mit plastischen Mitteln erforscht. In der Schirn steht „Femme debout IV [Stehende Frau IV]“ (1960) dem „Corridor with Mirror and White Lights“ (1971) gegenüber. Der schmale Korridor ist nicht begehbar – außer man hat die Körpermaße einer der späten Giacometti-Figuren – und ist dem weiten Raum rund um Giacomettis Stehender diametral entgegengesetzt.
Die direkteste Verbindung zwischen Alberto Giacometti und Bruce Nauman lässt sich über Person und Werk des irischen Dramatikers Samuel Beckett (1906–1989) konstruieren. Beckett nimmt eine Scharnierfunktion zwischen beiden Künstlern und ihren Werken ein. Mit Giacometti war Beckett seit 1937 eng befreundet, 1961 realisierte Giacometti das Bühnenbild für eine Wiederaufführung von „Warten auf Godot“ am Pariser Théâtre de l’Odéon, eine Fotografie und eine Farbstiftzeichnung (!) für „Homme et arbre [Mann und Baum]“ (1952) verweisen auf diese Zusammenarbeit, die in einem kargen Bühnenbild mit gipsweißem Baum kulminierte. Auch für Bruce Nauman stellte das Werk Samuel Becketts eine wichtige Inspirationsquelle dar, nachdem er sich in den späten 1960er Jahren mit Avantgarde-Tanz und minimalistischer Musik auseinandergesetzt hatte. Immer wieder bezog sich der Amerikaner auch in den Titeln seiner Werke auf den Literaten. Sowohl Giacometti wie Nauman bewunderten Becketts radikale Reduktion und Sparsamkeit der künstlerischen Mittel, sein Prinzip der Wiederholung (typisch für das Absurde Theater) sowie seine obsessive Fokussierung auf den urmenschlichen Akt des Gehens.
Die Schirn zeigt „Quadrat I“ und „Quadrat II“, die Samuel Beckett 1981 für das deutsche Fernsehen konzipierte. In ihnen vereinte er all diese Elemente – die Reduktion und Ökonomie der Mittel, Wiederholung, Fokussierung auf das Gehen (als Ritual) – zu einem sinnlosen Zusammenströmen und Auseinandertriften anonymer, maskierter Figuren. Bruce Naumans frühe Videos, in denen er selbst alltägliche Handlungen, Gesten, Erkundungen des leeren Ateliers mit dem eigenen Körper durchführte, wirken wie Vorwegnahmen des Vier-Personen-Stücks. In „Slow Angle Walk (Beckett Walk)“ bezog er sich direkt auf den verehrten Schriftsteller und auch die Entwicklung des Körperfragments führte er auf Samuel Becketts „Molloy“ (1948) zurück. Die wichtigste Differenz scheint dabei zu sein, dass Nauman seine physischen Grenzen bis zur Erschöpfung hin auslotet. Das Scheitern zum künstlerischen Prinzip zu erheben und, wie Laurence Sillars über Bruce Naumans Videoarbeiten schrieb, „Metaphern für die Rituale und Mühen des täglichen menschlichen Lebens“3 zu finden, sind sowohl Giacometti wie auch Nauman eigen.
Zu den wichtigsten surrealistischen Konzepten zählen Alberto Giacomettis „Objekte der Begierde“, von denen einige wenige in der Schirn zu sehen sind. Anfang der 1930er Jahre hatte Giacometti mit seinen Werken die Aufmerksamkeit der Surrealisten errungen. Er nannte die Holzobjekte „Objets déagréables [Unangenehme Objekte]“ und forderte sogar die Besucherinnen und Besucher im Titel auf, sie „wegzuwerfen“. Dadurch sollte der bislang passive Betrachter aktiviert werden. Teil dieses Konzepts war es, Skulpturen ohne Sockel zu schaffen, die sich nicht von der Alltagswelt abheben sollten. Die stachelige „Figure boiteuse en marche [Figur, die beim Gehen hinkt]“ (1930) und das phallische „Objet désagréable“ (1931) vereinen sowohl Erotik und Gefahr, was sich im Werk Bruce Naumans als Verbindung von Sexualität und Gewalt wiederfinden lässt: „Device for a Left Armpit“ (1967) und „Bouncing Balls“ (1969) lassen sich als „Objektstudien“ lesen, in diesem Zusammenhang bietet sich aber dann doch mehr die erotische Selbsterforschung an. Gleich daneben hängt die Buntstiftzeichnung „Marching Figure“ (1985), die als Studie für eine Neonarbeit fungiert und Gewalt, Militarismus und käufliche Sexualität miteinander verbindet. Gewalt, Verstörung und Angst waren schon in früheren Neon-Arbeiten, in der Schirn ist „Raw War“ (1970) zu sehen, wichtige Themen in Naumans Werk.
Den Körper als Leinwand mit politischer Bedeutung zu verstehen, so wie es Bruce Nauman seit den frühen 1970er Jahren mit den Korridoren und später mit Installationen tat, lag Alberto Giacometti fern. Beiden gemein ist jedoch die Bedeutung des Prozesshaften - sowohl in ihrem Denken wie Arbeiten. Beispielhaft dafür präsentiert Esther Schlicht in der Schirn Alberto Giacometti als Maler. Er betrieb die Malerei mit großer Intensität und vielen Wechselwirkungen mit seinem plastischen Werk, wobei die Malerei ebenfalls durch Offenheit und Unabgeschlossenheit gekennzeichnet ist. Deutlicher als an den Bronzegüssen wird an den Gemälden der Entstehungsprozess deutlich. Viele der Bildnisse und Ateliereinblicke wirken unabgeschlossen, denn das Gesehene veränderte sich während der Arbeit an den Bildnissen permanent und forderte vom Porträtisten eine ständige Anpassung auf der Leinwand. Wenn sich Bruce Nauman im Video „Flesh to White to Black to Flesh“ immer wieder maskiert, dann geht er den umgekehrten Weg Giacomettis: Er verschleiert sein Selbst, macht seinen eigenen Körper zur Leinwand und transportiert damit auch eine deutliche politische Botschaft. Das Scheitern, Abwegige, Unfertige, Unheroische ziehen sich wie Leitbegriffe durch die Werke beider Künstler.
„Es ist gar nicht daran zu denken, dass ich ein Gemälde je vollenden werde.“4 (Alberto Giacometti)
„Die Plastik ruht im Leeren. Man höhlt den Raum aus, um das Objekt zu konstruieren, und das Objekt schafft seinerseits den Raum.“5 (Alberto Giacometti 1964)
Die Schirn bringt Bruce Naumans „Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care“ als Modell mit Giacomettis „Projet pour un passage“ und der ersten Fassung von „La Cage“ zusammen. Warum die käfigartige Skulptur direkt an die Wand gestellt wurde, erschließt sich mir nicht, ist der Typus der Cages doch als raumschaffende Plastik gemeint. Umso beeindruckender ist Naumans „seelenloser Raum“, der fragil und irgendwie bedrückend als dreidimensionale Kreuzform an der Wand montiert ist. Die raumgreifende Installation, die 1984 in der Leo Castello Gallery in New York auch in Groß ausgeführt wurde, stellt einen weiteren Erfahrungsraum Naumans vor: drei Gänge treffen einander in einem Zentrum, in dem eine Drahtfigur als Stellvertreter für den Menschen zu sehen ist. Für Nauman sind, wie Eugen Blume ausführte, „diese klaustrophobischen Tunnelerfahrungen als Schutz- und Angstraum gleichermaßen interessant“6. Hierin zeigt sich eine konzeptionelle Nähe zu Giacomettis „Projet pour un passage“, das gleichzeitig an ein Tunnelsystem wie ein Möbelstück erinnert. Bühnen bzw. architektonische Systeme, in denen Menschen verortet werden, sind für beide Künstler im Sinne der Theorien des französischen Phänomenologen und Zeitgenossen Giacomettis Maurice Merleau-Ponty auf die subjektive Erfahrung des Raumes zurückgeführt. Das Raummodell, so zeigt sich im Vergleich, ist für beide nicht nur ein Entwurfsstadium ihm Rahmen eines Nachdenkprozesses, sondern eine eigenständige Umsetzung einer Idee. Ob das Projekt schlussendlich architektonisch umgesetzt wird oder nicht, ist für diese Werke prima vista nicht von Belang.
„Körper als Figur im Raum, als Erscheinung auf der Bühne eines absurden Theaters, als Objekt der Begierde, als Leerstelle, Projektionsfläche oder Maßstab der Dinge“ sind für Esther Schlicht die grundlegenden Auffassungen von Alberto Giacometti und Bruce Nauman. Einige miniaturhaften Skulpturen von Giacometti und seit 1947 entstandene Körperfragmente wie – „La jambe [Das Bein]“ (1958), „Le nez [Die Nase]“ (1947) und „Le main [Die Hand]“ (1947) – verbinden seine Recherche zur Erscheinung des Menschen aus der Ferne mit dem Körperfragment als Modell des Körpers in seiner Gesamtheit. Die allererste Neonarbeit von Bruce Nauman, „Neon Templates of the Left Half of My Body Taken at Ten-Inch Intervals“ (1966), vermisst dessen eigenen Körper vermessen und stellt die Größenverhältnisse seiner linken Seite als eine „abstrakte“ Gitterform, man könnte sich durchaus auch an ein Zaumzeug erinnert fühlen, dar.
Während sich Alberto Giacometti mit der leiblichen Qualität des Körpers beschäftigte, in denen sein eigenes Handicap mit seinem Fuß wie auch Kriegserlebnisse verarbeitet werden, fand der Schweizer zu einer drastischen und ausdrucksvollen Darstellung des Körpers. Bruce Nauman beschäftigte sich in den 1960er Jahren mit Körperabgüssen und Körperabdrücken, womit er sich ironisch auf andere Künstler bezog (Dada und Surrealismus) und erarbeitete sich darüber hinaus noch anspielungsreiche oft mehrdeutige, mit Worten spielende Titel. In den 1960er Jahren entstand eine Reihe von Arbeiten – Abgüsse und Abdrücke von Körperteilen (im Video „Thighing (Blue)“) –, die aus den damaligen Selbstanalysen des Künstlers hervorgingen. „Poke in the Eye / Nose / Ear 3/8/94 Edit“ Neonarbeit „Raw War“ von 1970 Strategien der Deformation und Verrätselung anspielungsreichen Titeln (Wortspiele) in den späten 1980er Jahren kehrte Nauman unter neuen Vorzeichen zur Skulptur zurück und setzte verschiedene Verfahren des Körperabgusses nun meist im Zusammenhang von mehrteiligen, größer angelegten Installationen rotierenden Karussells farbigem, oft grellbuntem Wachsabgüsse menschlicher Köpfe vom Lebendmodell zu fertigen „Ten Heads Circle / In and Out“ Typisch ist für diese Arbeiten Naumans, dass die Gussformen spürbar bleiben (Gussnähte nicht überarbeitet), das Rohe und das Unfertige durch die Hängung betont wird.
Bruce Nauman nutzt die Strategie der Verrätselung, so wie Alberto Giacometti in den frühen 1930er Jahren seine surrealistischen Objekte mit bildlichen Titeln versah. Sprache, Worte (Bedeutung und Abbildungsfähigkeit), Schrift gehören zu den Hauptthemen von Naumans Werk. Nauman fand in den 1980er Jahren wieder zur Skulptur zurück, als er Wachsabgüsse von Tierkörpern und Lebendmodellen für Installationen abnahm. Die schmerzerfüllte und der Gewalt ausgelieferte Kreatürlichkeit des Menschen wird in „Ten Head Circle“ mit zehn hängenden Köpfen schlagartig deutlich. Daneben präsentiert die Schirn späte Büsten von Alberto Giacometti – unabschließbar, vergeistigt, eine neue Form des Porträts. Damit öffnete Alberto Giacometti Türen für die Entwicklung von Kunst seit den 1960er Jahren, für Performance und Installationskunst.
Zweifellos eine überraschende Zusammenführung, die in der großen Ausstellungshalle der Schirn als direkter Dialog zwischen 70 Werken beider Künstler darstellt. Was „zwischen“ den beiden außerordentlich bedeutenden Künstlern steht, lässt sich eigentlich schneller feststellen, als das, was sie verbindet. Naumans Werk steht stellvertretend für die rasanten Veränderungen und Horizonterweiterungen, die die Bildhauerei seit den 1960er Jahren ausmachen. In seinen Videos und Korridoren machte er sich selbst als Künstler sowie die Besucherinnen und Besucher seiner Ausstellungen zum Material und Thema, während man sich in Giacometti-Ausstellungen mit hochaufragenden, statuarischen Männer- und Frauenfiguren konfrontiert sieht.
Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft, Material- und Medienverwendung, widmeten sich beide Einzelgänger vergleichbaren Themen: dem Bild des Menschen und der existenziellen Not (conditio humana), Körperfragmenten, dem unabschließbaren Prozess des Gestaltens, dem Raum als gebautes und verdinglichtes Umfeld (auch sozial und politisch im Werk Naumans zu lesen), ihren Ateliers als Arbeitsräumen, in denen sie mit sich selbst und ihrem Material „kämpften“ (Bruce Nauman). Ihr Leiden an den Menschen band und bindet sie an die Arbeit mit der Figur. Das daraus resultierende Unbehagen beider Künstler angesichts der Abstraktion ist die letzte Konsequenz aus dieser Haltung. Die eingangs erwähnte Krise Giacomettis führte ihn zu miniaturhaft kleinen Figuren, was seinen Hang zur Reduktion zum Ausdruck bringt. Bis an die Grenze des Verschwindens trieb er seine Recherche zur Darstellbarkeit einer Person aus der Entfernung, die ihm gleichzeitig die Gesamtheit der Figur versprach. Der plastische Werk des Wahl-Parisers Giacometti wird häufig als eine Reihe von Dichotomien beschrieben7: Nähe und Ferne, Erscheinen und Entschwinden, Alltägliches und Absolutes, Abgrund zwischen Leben und Tod. Die Stabilität des Wissens in Zweifel zu ziehen, ist nach Bruce Naumans Ansinnen, „die politische Situation des Künstlers“. Diese ständige und kompromisslose Annäherung an die Leere und das Nichts, die Absurdität des Lebens verbindet Giacometti und Naumann vielleicht am überzeugendsten.
„Es ist ziemlich schwer, mit einer Idee oder einer Abstraktion wirklich in Berührung zu kommen.“8
„Durch die eigene Arbeit in Erscheinung zu treten, ist zweifellos Teil des Künstler-Seins. […] Die Arbeit setzt sich zusammen aus dem, was gegeben und dem, was vorenthalten wird.“9