Chaim Soutine, Selbstbildnis, Detail, um 1918, Öl auf Leinwand, 54,6 × 45,7 cm (Princeton University Art Museum, Princeton, The Henry and Rose Pearlman Foundation, on loan since 1976 to the Princeton University Art Museum)
Chaim Soutine – l’artiste maudit par excellence! Der Untertitel „Gegen den Strom“ deutet bereits, wie sehr sich Soutines expressive Ausdrucksweise von der Erzählung des „zurück zur Ordnung“ in den 1920er Jahren unterscheidet. Der aus dem heutigen Belarus stammende, jüdische Maler kam Anfang der 1910er nach Paris, um sich weiterzubilden (→ Chaim Soutine: Biografie). Er gehörte zu den unzähligen Avantgarde-Künstlern in La Ruche (ab 1913) und der Cité Falguière (ab 1914), die kaum von der Hand im Mund lebten. Zu seinen Entdeckern zählte niemand geringerer als Amedeo Modigliani, der Soutine mit seinem Kunsthändler Léopold Zborowski (1889–1932) in Kontakt brachte. Deren Zusammenarbeit garantierte das Überleben des Malers, doch erst der amerikanische Sammler Albert Coombs Barnes (1872–1951) machte aus dem Unbekannten einen gefragten und wohlhabenden Künstler.
Dänemark | Humlebæk:
Louisiana Museum of Modern Art
9.2. – 14.7.2024
Dem Louisiana Museum of Modern Art gelingt eine veritable Überblicksausstellung zu Chaim Soutine, die mit einer selten ausgestellten Zimelie einsetzt: Chaim Soutines „Selbstbildnis“, entstanden um 1918, aus dem Princeton University Art Museum. Es ist eines von nur drei Selbstbildnissen des Malers, die alle zwischen 1918 und 1923 entstanden sind. In diesem frühesten Selbstporträt stellte sich Soutine vor der Staffelei dar, den Blick auf sein Motiv gerichtet und bereit, den Pinsel auf die Leinwand zu setzen. Es ist eines von vier Gemälden der Henry and Rose Pearlman Foundation, das sich seit 1976 als Langzeitleihgabe im Princeton University Art Museum befindet. Die dänische Ausstellung kann sogar noch mit einer zweiten Leihgabe aus dem amerikanischen Museum prunken: „L’Enfant de choeur [Chorknabe]“ von 1925.
Wie eingangs bereits erwähnt, waren es die amerikanischen Sammler, die Chaim Soutine aus der bittersten Armut rissen. Erst zehn Jahre nach seiner Ankunft in Paris gelang ihm der internationale und damit auch der nationale Durchbruch. Seine expressive Malweise, die durchaus auf den Errungenschaften des Impressionismus aufbaut, war von seinen Zeitgenoss:innen vermutlich als zu „wild“ empfunden worden, prägten doch postkubistische Tendenzen die französische Kunst der 20er Jahre. Seit seiner frühesten Jugend schwamm Soutine „gegen den Strom“. Aus dem russischen Kaiserreich stammend, genauer aus dem 4.000 Seelen Dorf Smilovitchi, hegte er schon früh den Wunsch, Künstler zu werden. Seine Familie unterstützte ihn dabei nur bedingt. Zum einen wurde er fürs Zeichnen gezüchtigt (offenbar legte man das Bilderverbot streng aus), zum anderen wurde er in die Lehre bei einem Fotografen geschickt, wo Soutine Retuschieren und Kopieren lernte. Eine Prügelattacke auf ihn brachte das nötige Kleingeld, um an die Kunstakademie in Vilnius (Litauen) zu gehen. 1913 folgte der Umzug nach Paris.
Das Frühwerk von Soutine ist so gut wie nicht existent. Der Maler zerstörte immer wieder seine Werke, bereits Verkauftes suchte er zu tauschen, um es auslöschen zu können. Die Ausstellung beginnt daher mit Arbeiten aus den Jahren 1916/17, ersten Landschaften und Stillleben. Diese lassen sich problemlos mit dem Stilbegriff Expressionismus in Verbindung bringen. Doch während des Ersten Weltkriegs galt das expressive Malen den Franzosen und Französinnen als „deutsch“ und deshalb abzulehnen.1 Dass Soutine dennoch Karriere machte, hatte er Dr. Barnes aus Philadelphia zu verdanken. Die amerikanischen Sammler:innen können nicht irren, dürften sich die französischen Kunstinteressierten gedacht haben. Als jedoch der amerikanische Markt in der Wirtschaftskrise von 1929 zusammenbrach, konnte Soutine das Ehepaar Castaing helfend einspringen. Im Gegenzug für die Exklusivrechte an seinen Werken unterstützten sie ihn finanziell, moralisch und in Alltagsangelegenheiten.
Das Rendezvous der Köche, Zuckerbäcker, Chorknaben, Hotelangestellten mit überzeichneten Bildnissen der Bekannten des Künstlers findet ein Echo in vielen Essensstillleben. Soutine, der seit seiner Jugend an Magenproblemen litt, beschäftigte sich offenbar zuvorderst mit geschlachteten Ochsen, Kaninchen, Rochen, Fasanen und Truthähnen.
Anstelle einer linear konstruierten Malerei bediente sich der Künstler eines eruptiven, ekstatischen Malstils, bei dem die dargestellten Motive in Schwingung versetzt und in ihren Proportionen verzogen werden. Anstelle moderner Themensetzungen beschäftigte sich Soutine mit Essensstillleben, tiefrot blutenden, geschlachteten Ochsen, Porträts von Hausangestellten und schiefen Landschaften aus Südfrankreich. Als Referenzen führte er die großen Maler der Kunstgeschichte an, Rembrandt van Rijn, Chardin, Velázquez, um nur einige zu nennen. Sie inspirierten Soutine zu einer farbintensiven Malerei, zu pastosem Farbauftrag, zu in Bewegung geratenen Formen. Dem Verrücken der Proportionen folgt der Regelverstoß bei Fuß, ob der Künstler hierhin seine eigene Position in der Gesellschaft – als Ausgestoßener, sich nie heimisch Fühlender – wiedergefunden hat, ist aufgrund fehlender Aussagen nur anzunehmen. Soutine malte die arbeitende Schicht und erhob sie zu Königinnen und Königen seiner Bildwelt. Dieser wertschätzende Umgang mit den Diener:innen hat bereits Zborowskis Chauffeur André Daneyrolles zu Protokoll gegeben:
„Stellen Sie sich vor, Soutine regte mich zum Lesen an! […] Er ließ mich Rimbaud lesen und die Briefe an Lucilius von Seneca. Bei ihm, verstehen Sie, galt ich nicht als bloßer Zuträger. Wir unterhielten uns. Wir sprachen über die Entwicklung der Menschheit, die Zukunft der Welt. Soutine hatte so gelitten!“2
Die Ausstellung wurde organisiert von den Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen (→ Düsseldorf | K20: Chaïm Soutine), dem Kunstmuseum Bern und dem Louisiana Museum of Modern Art.