Marie Bashkirtseff
Wer war Marie Bashkirtseff?
Marie Bashkirtseff (russisch Мария Константиновна Башкирцева Maria Konstantinowna Baschkirzewa; 23.11.1858–12.11.1884) war eine russische Malerin und Bildhauerin des Naturalismus (→ Naturalismus 1875-1918), die hauptsächlich in Frankreich arbeitete. Die postume Edition ihres Tagebuchs 1887 avancierte zu einem Kultbuch ihrer Frauengeneration. Bashkirtseff ist auf dem Pariser Friedhof von Passy bestattet. Ihr Leben wurde mehrmals verfilmt, unter anderem in Italien mit der Schauspielerin Isa Miranda.
„Im Atelier verschwindet alles; man hat weder Namen noch Familie; man ist nicht mehr Tochter seiner Mutter, man ist man selbst; man ist ein Individuum und hat vor sich die Kunst und sonst nichts.“1 (Marie Bashkirtseff, Tagebuch, 6. Oktober 1877)
Kindheit
Marie Bashkirtseff wurde als Maria Konstantinowna Baschkirzewa am 24. November 1858 in Gawronzy bei Dykana, Gouvernement Poltawa Russisches Kaiserreich (heute: Oblast Poltawa, Ukraine) geboren.2 Bashkirtseff entstammte zwei südrussischen Landadelsfamilien, den Babanins und den Baschkirzews. Kurz nach der Geburt von zwei Kindern trennten sich die Eltern, und Marie wuchs bei ihrer Mutter auf dem Gut der Großeltern auf. In den Jahren zwischen 1870 und 1872 hielten sich Maria Bashkirtseff, ihre Mutter, Großeltern und Tante in Wien, Baden-Baden, Genf, Spa, Oostende und Paris auf. Danach übersiedelte die Familie nach Nizza, wo die etwa 13-jährige Marie begann, ein Tagebuch zu führen.
Ausbildung zur Malerin in Paris
Ein Kehlkopfleiden vereitelte den Plan der jungen Frau, Sängerin und Schauspielerin zu werden. Heiratspläne mit einem römischen Adligen scheiterten am Widerstand von dessen Familie. Marie Bashkirtseff bewog ihre Familie zum Umzug nach Paris, wo sie Malerei studieren wollte.
Maria Bashkirtseff besuchte von 1877 bis 1884 die Académie Julian und nahm Unterricht bei Tony Robert-Fleury.3 Die Frauenateliers befanden sich über jenen der Männer, und ab und zu wurden dort Zeichnungen „von oben“ gezeigt, wie Bashkirtseff in ihrem Tagebuch vermerkte.4 1881 stellte sie in „L’Atlier Julian“, das sie am Salon präsentierte, ihre Ausbildungsstätte dar. Das für eine Malerin ungewöhnliche Sujet dürfte von Rodolphe Julian von Anfang an unterstützt worden sein, da er sich durch dessen öffentlichkeitswirksame Präsentation zusätzliche Werbung für seine Ausbildungsstätte erhoffen durfte.5 Zwei Jahre nach seiner Entstehung wurde Bashkirtseffs Bild in der Kunstzeitschrift L’art francais ausgewählt, um einen Artikel zu „Les ateliers e femmes“ einzuleiten.6
Zu ihren Studienkolleginnen an der Académie zählten Anna Bilińska-Bohdanowiczowa und vor allem Louise-Cathérine Breslau, die Bashkirtseff als ihre einzige Rivalin identifizierte. Bashkirtseffs Werk „Im Atelier“ (The Metropolitan Museum, New York) zeigt sie und ihre Studienkolleginnen bei der Arbeit vor einem jugendlichen Modell, das den hl. Johannes den Täufer mimt. Der Beiname „Rebellin“ geht auf Bashkirtseffs offene Kritik an den Schwierigkeiten, die ihr als Künstlerin bei der Berufswahl in den Weg gelegt wurden, zurück.
Freundschaft mit Jules Bastien-Lepage
Nach zwei Jahren Ausbildung schloss Bashkirtseff mit dem Maler Jules Bastien-Lepage (1848–1884) Freundschaft. Sie wurde auch dessen Schülerin. Bastien-Lepages Hauptwerk „Johanna von Orleans“ (1879, The Metropolitan Museum, New York) kommentierte Bashkirtseff in ihrem Tagebuch, nachdem sie es am 30. April 1880 im Salon gesehen hatte, wobei sie vor allem die Figur der Johanna von Orléans würdigte.
Gemeinsam mit dessen Mutter pflegte sie Bastien-Lepage, der an Magenkrebs litt, noch kurz vor seinem Tod.
Werke
Die Gemälde von Marie Bashkirtseff wurden ab 1880 im Pariser Salon ausgestellt. Bis zu ihrem frühen Tod 1884 stellte sie jedes Jahr – außer 1883 – am Salon aus. Die Malerin arbeitete in der Nachfolge von Jules Bastien-Lepages Naturalismus, wandte sich jedoch dem urbanen Leben zu. Hatte sich Bastien-Lepage vor allem mit der Landbevölkerung und den Härten des Landlebens auseinandergesetzt, suchte Maria Bashkirtseff in den Straßen von Paris ihre Modelle. Häufig wählte sie sozial benachteiligte Kinder und ihre Welt als Themen ihrer Werke.
Zu ihren bekanntesten Werken zählt „Das Treffen“ (1884, Musée d’Orsay, Paris), das sich gemeinsam mit einem Pastellporträt ihres Cousins 1884 am Salon präsentierte. Das Bild brachte ihr eine ehrenvolle Erwähnung ein und es wurde von der französischen Regierung angekauft. Dennoch ärgerte sich die Künstlerin, dass sie für das Werk keine Medaille erhallten hatte. Bashkirtseff stellte ein Treffen von sechs Schülern in einem Pariser Armenviertel vor einem Palisadenzaun dar. Körper und Mimik sind mit stuppend realistischer Malerei ausgeführt, so dass alle Details (offene Schuhe, Graffitti und Reste von Plakaten am Zaun) präzise wiedergegeben sind. Wenn auch nicht erkennbar ist, weshalb sich die Schuljungen treffen, so wird doch deutlich, dass sie gemeinsam etwas aushecken. Das sich entfernende Mädchen im Hintergrund könnte als feministischer Kommentar der Künstlerin auf die von ihr angeprangerte „Welt der Männer“ gedeutet werden.
Obschon eine große Anzahl von Bashkirtseffs Werken von den Nazis während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden, können etwa 60 Gemälde und Skulpturen noch identifiziert werden. Als sie starb hingen Bashkirtseffs Gemälde im Musée du Luxembourg in Paris. Heute befinden sich die meisten noch erhaltenen Werke Bashkirtseffs in Nizza, weitere werden im Musée d’Orsay in Paris sowie im Dnipropetrovsk State Art Museum in der ukrainischen Stadt Dnipro verwahrt.
Tod
Marie Bashkirtseff starb im Alter von 25 Jahren am 31. Oktober 1884 in Paris – wenige Wochen vor Bastien-Lepage (10.12.1884) – an Tuberkulose. Sie wurde in Paris auf dem Friedhof Passy in einem großen Mausoleum beigesetzt. Das Grabmonument ist das höchste und auffälligste Bauwerk des Friedhofs.
„Sofern ich nicht jung sterbe, hoffe ich, als grosse Künstlerin zu bestehen; aber falls ich jung sterbe, will ich mein Tagebuch veröffentlichen lassen, das auf jeden Fall interessant ist." (Marie Bashkirtseff, Préface, 1. Mai 1884, in: Journal de Marie Bashkirtseff, 2 Bde., Paris 1890, Bd. 1, S. 5.)
Posthumer Ruhm
Bashkirtseffs Bild „Zwei Pariser Gassenbuben, Jean und Jacques“ wurde 1891 auf der Internationalen Kunstausstellung in Berlin ausgestellt.
Zuletzt wurde ihr 1995 eine umfangreiche Ausstellung im Musée des Beaux-Arts in Nizza gewidmet.
Bashkirtseffs Tagebuch
Im Alte von etwa 13 Jahren begann Maria Bashkirtseff Tagebuch zu schreiben. Darin äußerte sich die leidenschaftliche junge Frau über die Fesseln, die den Frauen ihrer Zeit aufgezwungen wurden. Sie protestierte dagegen, dass ihr als Frau einzig die Heirat als Ausweg blieb.
Ihr Tagebuch, das sie bis wenige Tage vor ihrem Tod geführt hatte, wurde in einer von der Mutter gekürzten und zensierten Fassung 1887 auf Französisch publiziert und bald in viele Sprachen übersetzt (1889 Englisch, 1897 Deutsch). Damit war es das zweite Tagebuch einer Frau, das in Paris der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. André Theuriet gab das „Journal de Marie Bashkirtseff“ in zwei Bänden heraus. Die deutsche Übersetzung besorgte Lothar Schmidt, der 1897im Verlag von L. Frankenstein (Breslau/Leipzig/Wien) das Tagebuch herausgab. 1901 folgte eine Neuauflage, der Briefe von Guy de Maupassant und ein Vorwort von Renée d’Ulmès beigefügt wurde.7
Viele Frauen fanden sich in den Erlebnissen und Beschreibungen Marie Bashkirtseffs wieder: Laura Marholm bezeichnete das Tagebuch in ihrem „Buch der Frauen“ (1894) als „Geheimbibel“ der jungen Frauen ihrer Zeit. Fanny Reventlos schrieb 1901 in ihr Tagebuch:
„Ich lese wieder Marie Baschkirtseff – das möchte die einzige Frau gewesen sein, mit der ich mich ganz verstanden hätte, vor allem auch in der Angst etwas vom Leben zu verlieren, und in dem unerhörten Prügelbekommen vom Schicksal.“
Auch für Paula Modersohn-Becker boten Bashkirtseffs Gedanken einen Leitfaden und eine Projektionsfläche für ihre eigenen Ambitionen:
„Ich lese jetzt das Tagebuch der Marie Bashkirtseff. Es interessiert mich sehr. Ich werde ganz aufgeregt beim Lesen. Die hat ihr Leben so riesig wahrgenommen. Ich habe meine ersten zwanzig Jahre verbummelt. Oder wuchs ganz in der Stille das Fundament, auf dem die nächsten zwanzig Jahre aufbauen sollen?“8 (Paula Modersohn-Becker, 11.11.1898)
Literatur über Marie Bashkirtseff
- Marlene Bürgi, Prolog: Marie Bashkirtseff, in: CLOSE-UP. Berthe Morisot, Mary Cassatt, Paula Modersohn-Becker, Lotte Laserstein, Frida Kahlo, Alice Neel, Marlene Dumas, Cindy Sherman, Elizabeth Peyton, hg. v. Theodora Vischer für die Fondation Beyeler (Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen / Basel, 19.9.2021–2.1.2022), Berlin 2021: Riehen b. Basel | Beyeler: Close Up. Berthe Morisot bis Elizabeth Peyton
- Annika Nickenig, Marie Bashkirtseff, in: Susanne Goumegou, Marie Guthmüller, Annika Nickenig, Schwindend schreiben. Briefe und Tagebücher schwindsüchtiger Frauen im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Köln 2011.
- Anja Herrmann, Notre-Dame der Schlafwagen oder die Maskeraden der Marie Bashkirtseff (1858–1884), in: Renate Berger, Anja Herrmann (Hg.), Paris, Paris!, Stuttgart 2009, S. 39–58.
- Colette Cosnier: Marie Bashkirtseff. Ich will alles sein. Ein Leben zwischen Aristokratie und Atelier, Volk und Welt, Berlin 1994.
- Margot Brink, „Ich schreibe, also werde ich“. Nichtigkeitserfahrungen und Selbstschöpfung in den Tagebüchern von Marie Bashkirtseff, Marie Leneru und Catherine Pozzi, Königstein 1998.
- Sabine Voigt, Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff von 1877–1884, Dortmund 1997 (zugl. Diss. Marburg 1996).
- Heidi Wiese, Die Träume der reichen russischen Aristokraten: Marie Bashkirtseff in Rendezvous mit den Toten – Spaziergänge über Pariser Friedhöfe, Bielefeld 1993.
- Colette Cosnier, Bashkirtseff. Un portrait sans retouches, Paris 1985.
- Doris Langley Moore, Marie & the Duke of H. The Daydream Love Affair of Marie Bashkirtseff, J.B. Lippincott Company, Philadelphia/New York 1966; 2. Auflage London 1966.
- Vincent Cronin, Four Women in Pursuit of an Ideal, Collins, London 1965; wiederveröffentlicht als: The Romantic Way, Boston 1966.
- Editha Klipstein, Über Marie Baschkirzeff, Berlin 1964.
- Hilde Spiel, Drei Frühvollendete (Marie Bashkirtseff, Henri Alain-Fournier, Loris), in: dies.: Welt im Widerschein. Essays, München 1960.
- Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, Gallimard, Paris 1949; dt. ersch. als Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1951.
- Dormer Creston, The Life Of Marie Bashkirtseff, London 1943.
- Émile Henriot, D'Héloise à Marie Bashkirtseff. Portraits de Femmes, Paris 1935.
- Alberic Cahuet, Moussia ou la vie et la mort de Marie Bashkirtseff, Paris 1926; dt. Übersetzung von Ferdinand Bruckner [d. i. Theodor Tagger], Mussia. Erzählung eines frühen Lebens, Amsterdam 1935.
- Charlotte Lady Blennerhassett, Marie Bashkirtseff, in: dies.: Streiflichter, Berlin 1911.
- Anton Hirsch, Die Bildenden Künstlerinnen der Neuzeit, Stuttgart 1905.
- Laura Marholm, Die Tragödie des jungen Mädchens, in: dies.: Buch der Frauen, Paris/Leipzig 1894.
- Augustine Birrell, Essays about Men, Women, and Books, New York 1894.
- Zit. n. Tagebuch der Maria Bashkirtseff, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gottfried M. Daiber, Frankfurt am Main u. a. 1983, S. 205.
- Ältere Biografie stützen sich auf die Angaben von Bashkirtseffs Mutter, die in der ersten Ausgabe des Tagebuchs ihre Tochter fälschlich jünger gemacht hatte.
- Frauen wurden an der Pariser École des Beaux-Arts erst 1897 zugelassen.
- Colette Cosnier, Marie Bashkirtseff, ich will alles sein. Ein Leben zwischen Aristokratie und Atelier, Berlin 1994, S. 145.
- Rachel Mader, Beruf Künstlerin. Strategien, Konstruktionen und Kategorien am Beispiel Paris 1870–1900, Berin 2009, S. 56
- Ebenda, Fußnote 137.
- Nouveau journal inédit de Marie Bashkirtseff (1876–1884). Suivi des lettres de Guy de Maupassant, mit einem Vorwort von Renée d‘Ulmès, Editions de la Revue (Ancienne Revue des Revues), Paris 1901. Deutsch: Tagebuchblätter und Briefwechsel mit Guy de Maupassant, aus dem Frz. übertr. und eingel. Von Julia Virginia, Seemann, Berlin und Leipzig 1906.
- Paula Modersohn-Becker, Tagebuch, 11. November 1898, in: Paula Modersohn-Becker, Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern, hrsg. von Günter Busch und Liselotte von Reinken, bearb. von Wolfgang Werner, Frankfurt am Main 2007, S. 166.