Paula Modersohn-Becker (1876-1907) und ihr Werk gelten sowohl aus sozialer wie formaler Sicht als wegbereitend für die Moderne in Deutschland, denn stets war die Künstlerin auf der Suche nach der „großen Einfachheit der Form“ und dem lebendigen Ausdruck der Farbe. In den ägyptischen Mumienporträts aus dem Louvre (1.-4. Jahrhundert) fand sie diesen genauso wie in den Gesichtern alter Bäuerinnen und junger Kinder im niedersächsischen Worpswede. Darüberhinaus hielt sich die Malerin in einem revolutionären Selbstbildnis als Schwangere und nackt fest.
Am 25. Februar 1903 schrieb Modersohn-Becker während ihres zweiten Paris Aufenthalts in ihr Tagebuch:
Deutschland | Hamburg: Bucerius Kunstforum
4.2. - 1.5.2017
Österreich / Krems: Kunsthalle Krems
14.3. - 4.7.2010
„In den letzten Tagen habe ich viel Form gefunden und gedacht. Ich stand bis jetzt der Antike sehr fremd gegenüber. Ich konnte sie wohl schön finden an und für sich; aber ich konnte kein Band finden von ihr zur modernen Kunst. (…) Ich fühle eine innere Verwandtschaft von der Antike zur Gotik, hauptsächlich der frühen Antike, und von der Gotik zu meinem Formempfinden. Die große Einfachheit der Form, das ist etwas Wunderbares. Von jeher habe ich mich bemüht, den Köpfen, die ich malte oder zeichnete, die Einfachheit der Natur zu verleihen.“
Das Einfangen der Natürlichkeit des Menschen, die Reduktion auf einfache Formen sowie der Einsatz von leuchtenden Farben bedeuteten um 1900 einen vehementen Bruch mit der traditionellen Salonmalerei wie auch mit dem Impressionismus. Meist widmete sich Modersohn-Becker in ihren Bildern den Kindern, der einfachen Landbevölkerung, Stillleben aber auch in Form von etwa 50 gemalten Selbstporträts. Sind die frühen, lebensgroßen Figurenstudien wie „Sitzender weiblicher Akt mit angezogenen Füßen“ (1899) noch dem Realismus verschrieben und belegen die Ausbildung der Künstlerin innerhalb der akademischen Tradition, so entwickelte sich Modersohn-Beckers Stil in den folgenden Jahren hin zu einer „einfacheren“ Gestaltungsweise mit zunehmend leuchtenden Farbwerten. Beide Gestaltungsmittel wurden von der Künstlerin zwischen 1901 und 1907 immer selbständiger eingesetzt.
Sogar ihr Ehemann, der Worpsweder Maler Otto Modersohn, mit dem Paula seit Mai 1901 verheiratet war, versuchte ihre Kunst zu stehen, was ihm durchaus Mühe bereitete. 1903 schrieb er in sein Tagebuch:
„Sie haßt das conventionelle u. fällt nun in d. Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins. Sie ladet sich zuviel auf. 2 Köpfe 4 Hände auf kleinster Fläche, unter dem thut sies nicht u. dazu Kinder! Rath kann man ihr schwer ertheilen, wie meistens.“
Anregung fand Paula Modersohn-Becker daher nicht in Deutschland – auch nicht unter ihren Kollegen der Künstlerkolonie Worpswede – sondern in Frankreich. Während vier Paris-Aufenthalten studierte die Künstlerin die antiken Werke des Louvre, die zeitgenössische Malerei u.a. von Paul Cézanne, Paul Gauguin, Maurice Denis und Aristide Maillol, sie besuchte auch die Impressionisten-Galerien Paul Durand-Ruel und Vollard.
In Paris entstand auch eines ihrer bekanntesten Bilder: Paula, dreißigjährig, mit nacktem Oberkörper und ihre Hände an den Bauch gelegt, am 6. Hochzeitstag 1906 datiert. Ist diese Haltung vielleicht als Symbol künstlerischer Potenz zu lesen? Oder als ihre Zerrissenheit zwischen Künstlertum und Mutterschaft? Gerade von ihrem Mann getrennt, wollte Modersohn-Becker in Paris ein neues, eigenständiges Leben beginnen und gestaltete den ersten Selbstakt einer Frau in der europäischen Kunstgeschichte. Einige Monate später sollte sie erkennen, dass ihr Pariser Leben auch Einsamkeit bedeuten konnte und sie sich nicht dafür geschaffen fühlte.
„Ich werde in mein früheres Leben zurückkehren mit einigen Änderungen. Auch ich selbst bin anders geworden etwas selbstständiger und nicht mehr voll zu viel Illusionen. Ich habe diesen Sommer gemerkt, dass ich nicht die Frau bin alleine zu stehen. Außer den ewigen Geldsorgen würde mich gerade meine Freiheit verlocken von mir abzukommen." (Paula Modersohn-Becker an Clara Rilke-Westhoff, 17.11.1906)
Paula und Otto Modersohn fanden in der Stadt der Liebe erneut zueinander, die Künstlerin kehrte zu Ostern 1907 nach Worpswede zurück. Nachdem Paula Modersohn-Becker am 2. November 1907 der lang ersehnten Tochter Mathilde das Leben schenkte, verstarb sie am 20. November an einer Embolie. Erst nach ihrem verfrühten Ableben wurde ihr Œuvre von knapp 750 Gemälden und 1000 Zeichnungen in der Öffentlichkeit bekannt.
Die Kunsthalle Krems zeigt das Werk der Künstlerin in all seinen Facetten – von Kohlestudien über Skizzen und Landschaften, von Porträts und Selbstbildnissen bis hin zu Stillleben und Mutter-Kind-Darstellungen. Auffallend ist die unterschiedliche Qualität vieler Bilder. Manche bestechen durch einen fein modellierenden Farbauftrag in vielen Schichten und einer Körperlichkeit der dargestellten Objekte/Subjekte, andere hingegen wirken wie einfach gehaltene Studien, ohne dass die Objektbeschriftung über diesen Unterschied genauer Aufschluss geben würde. Gelungen ist jedoch die Präsentation der Künstlerin als eine Malerin des Intimen. Vielleicht wäre der Titel „Pionierin der Moderne“ besser fassbar, wenn Gemälde u.a. von Maurice Denis, den Nabis und Otto Modersohn die von Modersohn-Becker angestrebte „Einfachheit“ konkretisierten.
Am 8. Februar 1876 wurde Hermine Paula Becker als drittes von sieben Kindern des Bau- und Betriebsinspektors der Berlin-Dresdner Bahn Carl Woldemar Becker (1841-1901) und dessen Ehefrau Mathilde Becker (1852-1926) in Dresden geboren.
1888 Übersiedlung der Familie nach Bremen, wo die Familie sich am literarischen und künstlerischen Leben der Stadt beteiligte.
1892 Paula Becker hielt sich sieben Monate in England bei ihrer Tante väterlicherseits auf. Erster Zeichenunterricht nach Gipsmodellen in der St. John's Wood Art School bei dem Lehrer Ward.
1893-1895 Besuch des Lehrerinnenseminars in Bremen auf Wunsch des Vaters, das sie am 18. September 1895 abschloss. Bei dem Bremer Maler Bernhard Wiegand nahm sie Mal- und Zeichenunterricht.
1895 Besuch der ersten Ausstellung der Worpsweder Maler in der Bremer Kunsthalle. In einem Brief erwähnte Paula Becker die Künstler Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Heinrich Vogeler.
1896 Umzug nach Berlin, wo sie im April/Mai an einem Kurs der Zeichen- und Malschule des "Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin" teilnahm. Im Oktober Begann sie eine eineinhalbjährige Ausbildung (Porträt, Akt, Landschaft). Im Sommer Reise nach Hindelang mit Aufenthalt in München, wo Paula Becker die Pinakothek und die Schack-Galerie besuchte.
1897 Malte überwiegend Porträts. Häufige Besuche von Kunstausstellungen bei Schulte, Gurlitt und Keller & Reiner sowie im Kupferstichkabinett, wo sie u. a. Edvard Munch (→ Edvard Munchs Druckgrafik), Zeichnungen von Michelangelo (→ Michelangelo Zeichnungen im Metropolitan Museum), Sandro Botticellis Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie sah. Entwarf Titelblätter für die Zeitschrift "Jugend"; die jedoch nicht gedruckt wurden. Ende Juli bis Ende August Aufenthalt in Worpswede (gemeinsam mit der Malfreundin Paula Ritter). Anfang Oktober reiste Paula Becker nach Dresden, um die "Internationale Kunst-Ausstellung" mit Werken von Monet, Pissarro, Simon, Alfred Sisley, Böcklin, Hodler, Kalckreuth, Leibl, Liebermann, Meunier und den Worpsweder Malern zu sehen. Ende Oktober erste Beteiligung an der Ausstellung der Malschule. Anfang Dezember reiste sie für eine Hochzeit nach Wien, wo sie die kaiserliche Sammlung (heute: Kunsthistorisches Museum) und die Liechtenstein-Galerie besuchte: Moretto, Tizian, Peter Paul Rubens, Albrecht Dürer, Cranach, Holbein, Leonardo da Vinci und Anthonis van Dyck beeindruckten sie besonders.
1898 Fortsetzung ihres Studiums in Berlin. Ausstellungsbesuch im Lichthof des Kunstgewerbemuseums mit Künstlerlithografien. Besuchte Max Klinger in dessen Leipziger Atelier (April). Ende Mai Abschluss des Studiums. Übersiedelung nach Worpswede im September, Unterricht bei Fritz Mackensen, lebensgroße Kohle- und Rötelzeichnungen.
1899 Lebensgroße Zeichnungen und Skizzenbücher mit Landschaften, Figurenstudien und Kompositionsentwürfe. Las viel, v. a Jacobsen und Ibsen. Reise in die Schweiz (August). Stellte gemeinsam mit Marie Bock und Clara Westhoff in der Bremer Kunsthalle aus (Dezember).
1900 Erste Reise nach Paris, wo sie mit Clara Westhoff zusammentraf, die an der von Auguste Rodin eingerichteten Bildhauerschule arbeitete. Paula Becker studierte an der privaten Académie Colarossi bei Gustave Courtois, Raphael Collin und Louis-Auguste Giradot, besuchte auch die kostenlosen Anatomiestunden an der École des Beaux-Arts. Paula Becker gewann den concours (Wettbewerb) des Semesters. Sie entdeckte die Gemälde von Paul Cézanne, besuchte häufig den Louvre. Lernte Emil Nolde und die Dachauer Malerin Emmi Walther kennen. Besuch der Weltausstellung und des Skulpturenpavillons von Rodin am Pont de l'Alma. Besuch von Otto Modersohn, Fritz und Hermine Overbeck und Marie Bock im Juni. Während dieses Peris-Besuchs verstab Hermine Modersohn in Worpswede. Ende Juni Rückkehr nach Worpswede. Am 12. September verlobte sich Paula Becker mit Otto Modersohn. Malte in diesem Jahr hauptsächlich Landschaften.
1901 Jänner und Fabruar in Berlin, um, dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend, kochen zu lernen. Kurzer Besuch in Dresden und Rückkehr nach Worpswede am 9. März. Hochzeit mit Otto Modersohn (25.5.), der eine dreijährige Tochter namens Elsabeth in die Ehe mitbrachte. Tod des Vaters (30.11.).
1902 In ihren Gemälden beschäftigte sie sich hauptsächlich mit Figurengruppen vor einer Landschaft. Malte neben Otto Modersohn vor dem selben Motiv.
1903 Zweite Paris-Reise (8./9.2.-18.3.): Aktzeichnen an der Académie Colarossi, gemeinsame Ausstellungsbesuche mit dem Ehepaar Rilke, tägliches Zeichnen im Louvre. Hier wandte sie sich neben Rembrandt und Veronese vor allem der Antike zu. Erwähnte die Tanagra-Figuren, Fayum-Porträts. Nach einem Besuch des Musée du Luxembourg erwähnte sie Manets "Olympia" und "Der Balkon" sowie Renoir, Zuloaga, Cottet und Degas. Besuchte Rodins Atelier und seinen Pavillon in Meudon. Zurück in Worpswede entstanden Bildnisse und Mutter-und-Kind-Darstellungen. Sommer auf Amrum (9.7.-5.8.). Im Winter malte sie nur wenige BIlder, sondern las viel französische Literatur.
1904 Weitgehender Rückzug von den Worpsweder Malerkollegen. Sommerreise mit Otto Modersohn über Berlin nach Dresden, Kassel und Braunschweig (Rembrandt) (7.-18.7.).
1905 Dritte Paris-Reise (14.2.-7.4.) Malte ein Monat lang Akt in der Académie Julian. Atelierbesuche bei den "Nabis" Vuillard und Denis. Sah Skulpturen von Aristide Maillol. Nahm an der Eröffnung des Salons des Indépendants teil, wo Paula Modersohn-Becker Werke von Matisse, den Künstlern des Fauvismus sowie Retroepktiven mit Gemälden von Seuart und Vincent van Goghs. Otto Modersohn, Milly Becker sowie Martha und Heinrich Vogeler kamen von 29. März bis 7. April nach Paris. Gemeinsam sahen sie die Gauguin-Sammlung von Gustave Fayet und den Pavillon Rodins in Meudon. Gemeinsame Rückreise nach Worpswede. Im November Reise nach Soest, Münster und Hagen, wo sie das Ehepaar Osthaus und das Museum Folkwang besuchten. Paula Modersohn-Becker widmete sich verstärkt dem Stillleben. Rilke kaufte das Bild "Säugling mit der Hand der Mutter". Traf auf Einladung von Carl Hauptmann des Soziologen Werner Sombart und Otto Mueller.
1906 Besuchte in Berlin das Kaiser-Friedrich-Museum und die Jahrhundertausstellung deutscher Kunst (1775-1875). Vierte Paris-Reise (23.2.-), wollte sich von Otto Modersohn trennen. Besuch von Ausstellungen (Courbet, Manet, Redon, Denis, Bonnard, Vallotton, Vuillard) und Anatomie- bzw. Aktkursen an der Ècole des Beaux-Arts. Besuchte die Enthüllung von Rodins "Denker" vor dem Panthéon. Ostern in Saint-Malo in der Bretagne. Lernte das Ehepaar Bernhard Hoetger und Lee Hoetger kennen. Porträtierte Rainer Maria Rilke (13.5.-2.6.). Besuch von Otto Modersohn (2.8.1906). Atelierbesuch bei Henri Rousseau. Paula Modersohn-Becker malte eine Reihe von Selbstporträts. Im September änderte sie ihre Ansicht über die mögliche Trennung von Otto Modersohn. Ihr Mann kam Ende Oktober zurück nach Paris, um hier über den Winter zu bleiben. Teilnahme an der Gruppenausstellung der Worpsweder Künstler in der Bremer Kunsthalle, die anschließend bei Gurlitt in Berlin zu sehen war. Weihnachten in Bremen.
1907 Rückkehr nach Worpswede (31.3.). Anfang Juli besuchte sie das Ehepaar Hoetger im westfälischen Holthausen. Geburt ihrer Tochter Mathilde (2.11.).
Am 20. November starb Paula Modersohn-Becker an einer Embolie.