Die Ausstellung der Internationalen Tage widmet sich 2022 dem norwegischen Künstler Edvard Munch. Der 1863 geborene Munch entwickelt sich schnell zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Maler und Grafiker der frühen Moderne in Europa. Ingelheim zeigt den experimentierfreudigen Druckgrafiker Munch anhand von ca. 90 Meisterblättern – Radierungen, Lithografien, Holzschnitte und Hektografien –, die in fünf Räumen thematisch vorgestellt werden.
Deutschland | Ingelheim: Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus
1.5. – 10.7.2022
Nach einem kurzen Kunststudium in Christiania (heute Oslo) zog es Munch 1889 erstmals nach Paris, wo er sich mit dem Symbolismus auseinandersetzte. Persönliche Schicksalsschläge wie der frühe Tod der Mutter und einer Schwester aber auch unglückliche Beziehungen zu Frauen, Depressionen und Alkoholmissbrauch prägten schon früh Munchs künstlerisches Werk. So ist die Beziehung der Geschlechter mit den Facetten von Glück und Angst, Erwartung und Sehnsucht Grundthema seiner Kunst, die sich nach der Wende zum 20. Jahrhundert mehr und mehr vom Symbolismus löst.
Munch entwickelte in den 1890er Jahren eine höchst persönliche Bildsprache zwischen tief empfundener Melancholie, Einsamkeit und Todesangst. Als diese Werke erstmals 1892 im „Verein Berliner Künstler“ in Berlin ausgestellt wurden, lösten sie einen Skandal aus, der zur Schließung dieser Ausstellung führte. Anton von Werner, der traditionsbewusste Historienmaler und Vorsitzende des Vereins ließ sich zu einem Rundumschlag hinreißen, empfand er doch die Werke als „Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit“1. Gefeiert von der jungen Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen gründete Munchs großer Einfluss auf die bildende Kunst in Deutschland und Norwegen unter anderem auf der entsetzten Reaktion des Publikums und der Kunstpresse. Letztere verglich die protoexpressiven Gemälde mit „rohen Anstreicherarbeiten“ und diagnostizierte „Formlosigkeit, Brutalität der Malerei, Rohheit und Gemeinheit der Empfindung“.2 Die öffentliche Beschimpfung ließ der norwegische Künstler gerne über sich ergehen, wurde er doch mit diesem Kunstskandal über Nacht zum berühmtesten zeitgenössischen Maler in Deutschland und schloss einen Vertrag mit der Kunsthandlung Ed. Schulte für Einzelausstellungen in Düsseldorf, Köln und erneut Berlin.
Bis 1908, als er in seine Heimat zurückkehrte, wurde Deutschland für Munch zum Lebensmittelpunkt – und die Kneipe beim Brandenburger Tor, genannt „Zum schwarzen Ferkel“ – sein zweites Wohnzimmer. Hier wurde die moderne Kunst aus der Taufe gehoben und das bürgerliche Milieu zum Teufel gejagt. Munch sekundierten die Philosophen August Strindberg und über seine Texte auch Friedrich Nietzsche bei seiner Suche nach der Seele, die er so zu sezieren dachte, wie Leonardo da Vinci Körper analysiert hatte.
Zehn Jahre nach Munchs Skandalerfolg war er arrivierter Gast in der Berliner Secession, und weitere zehn Jahre später zählte Munch bereits zu den „Vätern der Moderne“, wie sie auf der Sonderbund-Ausstellung in Köln 1912 als Kanon definiert wurden.
Der Druckgrafik bediente sich Edvard Munch aus zweierlei Gründen: Zum einen wollte er so seine Werke einem breiten Publikum zuführen und zum anderen musste der rund 30-jährige Geld verdienen. Sein unkonventioneller Zugang revolutionierte die Druckgrafik und brachte das verwendete Material zur Geltung (→ Edvard Munchs Druckgrafik). Bis heute ist es nicht möglich, auch nur eine abschließende Schätzung der Anzahl von Edvard Munchs druckgrafischen Blättern zu geben, hat der Künstler doch seine Platten individuell gedruckt, mit Farbkombinationen, der Verbindung unterschiedlicher druckgrafischer Techniken (u.a. Holzschnitt und Zinkografie in „Mädchen auf der Brücke“) sowie Strukturen des Papiers experimentiert. Die (kostengünstigere) Reproduktionsgrafik verwandelte Munch in eine Originalgrafik. Thematisch hatte sich der Künstler auf die existentiellen Fragen des Lebens konzentriert: Liebe, Lebensangst und Tod. Er selbst nannte sie „Motive aus dem modernen Seelenleben“.3
Anhand von ca. 90 oftmals farbigen Werken – Radierungen, Lithografien, Holzschnitte und Hektografien – zeigt die Ausstellung einen Überblick über das außergewöhnliche druckgrafische Werk von Edvard Munch. Fünf motivisch bzw. thematisch ausgerichtete Räume in den Räumlichkeiten im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus führen die Analyse des Seelenlebens vor Augen.
Beginnend mit dem Geschlechterverhältnis von Mann und Frau, von Männerfantasien über die Annäherung und die innige Liebe bis hin zu Trennung und gemeinsamen Tod, visualisierte Munch einen Bogen des Lebens. Zusammen mit den Selbstporträts zeugen die Bildnisse der Literaten wie Henrik Ibsen und August Strindberg oder des Komponisten Delius Munchs enge Verbindungen in andere künstlerische Bereiche. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Melancholie und Einsamkeit von Menschen, sowohl in Innenräumen wie vor der offenen Meereslandschaft, wobei diese zum tiefgründigen Ausdruck der menschlichen Seele werden. So schrieb der poesiebegabte Künstler über seinen Druck „Loslösung“:
„Ich saß unter einem Baum, dessen Blätter anfingen, gelb zu werden und zu welken – Sie hatte neben mir gesessen – sie hatte ihren Kopf auf meinen gelegt – das blutrote Haar hatte mich umschlungen. Es hatte sich wir blutrote Schlangen um mich gewickelt – seine feinsten Fäden hatten sich in meinem Herzen verfangen – dann hatte sie sich erhoben – Ich weiß nicht warum langsam bewegte sie sich zu See – weiter und weiter weg – dann geschah etwas Merkwürdiges – Ich fühlte unsichtbare Fasern zwischen uns – Ich fühlte, dass unsichtbare Fasern ihres Haars mich umschlangen – und so, als sie ganz verschwand über das Meer – fühlte ich, wie es schmerzte, mein Herz blutete – weil die Fasern nicht zerschnitten werden könnten.“4 (Edvard Munch T 2782)
Das Seelenleben ist auch zentrales Thema in den Werken, die sich mit Angst, Krankheit und Tod auseinandersetzen, wobei das Motiv des kranken Kindes im Mittelpunkt steht. Am Ende stehen die Überhöhungen in den Darstellungen von Frauen, die Munch zu den von Männern begehrten Madonnen stilisiert oder als „Vampyr“ oder „Harpye“ für diese auch eine Todesgefahr darstellen
Ulrich Luckhardt (Hg.)
mit einem Text von Uwe M. Schneede
21 x 27 cm, 149 Seiten
HIRMER Verlag